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Nach der Finanz- die Schuldenkrise: Europa dreht (sich) den Hahn ab |
Mittwoch, 8. Dezember 2010 | |
Nach zwei Jahren Finanzierung von Konjunkturprogrammen, Arbeitsmarkt-Stützung und massiven Geldspritzen an notleidende Banken schwenkt die Politik der EU-Staaten auf Sparen um: Vor allem die Kürzung von Sozialleistungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst stehen am Programm. Damit wird eine Rezession wahrscheinlich; manche Beobachter sehen auch eine politische Agenda dahinter.
Irland: Mehrwertsteuer wird erhöht, Unternehmenssteuern bleiben niedrig. Der Aufschrei in Irland war groß, als Premier Brian Cowen nach Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission am 24. November sein Sparpaket präsentierte – das dritte und grausamste seit 2006: Nach einer Rettungsaktion für die irischen Banken, die das Staatsdefizit auf 32% des BIP hinauftrieb – das höchste im EU-Raum – und nachdem die Zinsen für Staatsanleihen in die Höhe schnellten, sollen jetzt 15 Mrd gespart werden, um „die Finanzmärkte“ zu besänftigen. Sozialleistungen werden um 2,8 Mrd Euro gekürzt, die Gesundheitsausgaben um 1,4 Mrd, im öffentlichen Dienst sollen 25.000 Stellen gestrichen werden, die Löhne und Pensionen der Staatsbediensteten werden ebenso gekürzt wie der Mindestlohn. Die Inskriptionsgebühren werden um 25% auf 2000 Euro angehoben. Auf der Einnahmenseite wird die Mehrwertsteuer 2013 um einen Prozentpunkt angehoben und die CO2-Steuer verdoppelt, die Grenze, ab welcher Lohnsteuer entrichtet werden muss, wird gesenkt. Nicht erhöht werden die für europäische Verhältnisse niedrigen Körperschaftssteuern (12,5%), und auch die Vermögenden bleiben ungeschoren, der Einkommensteuersatz ab 34.000 Euro Jahreseinkommen liegt bei 41%. Im Durchschnitt wird jeder Haushalt jährlich mit 4600 Euro mehr belastet werden, um das Geld wieder hereinzubekommen, das in die Banken geflossen ist. Die Reaktionen der Bevölkerung ließen nicht auf sich warten: Bei der ersten großen Demo gegen das Sparpaket am 27. November gingen in Dublin über 100.000 Menschen auf die Straße, und bei Nachwahlen verlor die regierende Fianna Fail ihren Parlamentssitz in Donegal an den Kandidaten der linksnationalistischen Sinn Fein. „Club Med“: Gehalts- und Pensionskürzungen und Verkauf des Familiensilbers. Die Lage in den stark verschuldeten Mittelmeer-Anrainerstaaten unterscheidet sich nur graduell von jener der irischen Republik: In Portugal sollen 2011 ganze 5 Mrd eingespart werden, die Gehälter im öffentlichen Dienst werden um 3,5 bis 10% gekürzt, die Pensionsbeiträge steigen, die Pensionszahlungen selbst werden eingefroren, die Mehrwertsteuer wird von 21 auf 23% erhöht. Die beiden großen Gewerkschaftsverbände des Landes riefen für 24. November zu einem Generalstreik auf, an dem mehr als 3 Millionen der 4,7 Mio Beschäftigten des öffentlichen und privaten Sektors teilnahmen. Spanien will in den beiden Jahren 2010 und 2011 insgesamt 15 Mrd Euro einsparen, unter anderem durch eine durchschnittliche Senkung der Beamtengehälter um 5% und ein Einfrieren der Pensionen, die Abschaffung der Sonderbeihilfe für Familien mit Neugeborenen, die Kürzung der staatlichen Investitionen um 6 Mrd Euro und der Entwicklungshilfe um 600 Mio Euro und die Abschaffung der Sonderbeihilfe für Langzeitarbeitslose. Zusätzlich werfen die Iberer 49% der Anteile an den Flughäfen und 30% an der staatlichen Lotterie auf den Markt. Griechenland will bis 2012 insgesamt 30 Mrd Euro einsparen, im staatlichen Sektor werden die Gehälter um 8% gekürzt, nachdem sie bereits im März um sieben Prozent reduziert worden waren. Bei Gehältern über 3000 Euro und Pensionen über 2500 Euro fällt der 13. und 14. Bezug weg – darunter gibt es 1000 Euro jährlich pauschale Sonderzahlung, im staatlichen Sektor soll bis auf weiteres niemand eingestellt werden; die Mehrwertsteuer wurde von 21 auf 23% angehoben, nachdem sie bereits im März von 19 auf 21% erhöht worden war. Die staatlichen Investitionen werden um 5% gekürzt, staatliche Beteiligungen verkauft, Krankenhäuser geschlossen. Italien und Frankreich: Anhebung des Rentenalters. In Italien plant die Berlusconi-Regierung Einsparungen in der Höhe von 24 Mrd Euro in den beiden Jahren 2011 und 2012, die Gehälter im öffentlichen Dienst sollen für drei Jahre eingefroren werden, Gemeinden und Regionen auf rund 10 Mrd Euro aus zentralen Töpfen verzichten, das Rentenalter wird angehoben. Als Reaktion kam es bereits am 25. Juni zu einem Generalstreik, an dem etwa eine Million Beschäftigte teilnahm. In Frankreich konzentrieren sich die Sparpläne auf eine Rentenreform, das Pensionsalter soll von 60 auf 62 Jahre angehoben werden, dagegen fanden bereits mehrere landesweite Aktionstage mit Großdemonstrationen in mehreren Städten und sektorielle Streiks statt, an denen mehrere Millionen Menschen teilnahmen. Eine Anhebung des Pensionsalters ist gleichbedeutend mit einer generellen Pensionskürzung, weil nur eine Minderheit bis zum gesetzlichen Pensionsalter Beschäftigung finden wird. Deutschland, Österreich: Sozialleistungen im Visier. In Deutschland will Angela Merkel 80 Mrd Euro bis 2014 einsparen. Im Sozialbereich sollen Pflichtleistungen zu Ermessensleistungen umgewandelt werden. Am härtesten trifft es die Bezieher des Arbeitslosengeldes II („Hartz 4“): Früher für zwei Jahre gewährte Zuschläge fallen weg, die staatlichen Beiträge zur Rentenversicherung werden gestrichen, das Elterngeld von 300 Euro monatlich entfällt. Ebenfalls gestrichen wird der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger. Das Elterngeld für Beschäftigte wird ebenfalls gekürzt, die Zahl der Bundesbeschäftigten soll bis 2014 um 15.000 sinken, die Gehälter der Bundesbeamten sollen um 2,5% sinken. Dazu kommen einnahmenseitige Maßnahmen wie die Streichung eines Teils der Ausnahmeregelungen bei der Ökosteuer für besonders energieintensive Unternehmen, die Einführung einer Luftverkehrsabgabe und die Erhöhung der Tabaksteuer. Auch in Österreich wird der größte Teil der Einsparungen für die Jahre 2011 bis 2014 von den Bereichen Sozialversicherung (1,483 Mrd. Euro) und Familie und Jugend (1,33 Mrd Euro) getragen, gefolgt von den Ressorts Arbeit (811 Mio), Unterricht (735 Mio) und Soziales (644 Mio Euro). Die Maßnahmen reichen von der Kürzung der Familienbehilfe und des Pflegegelds über Einsparungen beim Zivildienst und der Entwicklungszusammenarbeit bis zu Einsparungen bei Infrastruktur-Investitionen. Dazu werden noch die Einsparungen der Länder kommen – in der Steiermark z.B. die Abschaffung des Gratiskindergartens oder die Wiedereinführung des Regresses beim Pflegegeld. Ziel: Die Zerstörung des Sozialstaates. Für den Wiener Ökonomen Univ.-Prof. Joachim Becker – er hatte schon im Frühjahr bei einem Vortrag in Graz auf die massiven Schuldenprobleme Irlands hingewiesen, als alle anderen noch gebannt auf die „PIGS“ (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) gestarrt hatten – verschärft diese Form der Wirtschaftspolitik die Schuldenproblematik noch weiter. „Diese Maßnahmen laufen auf eine Senkung der Einkommen und einen Nachfragerückgang hinaus. Sinken die Einkommen, so bedeutet das für die privat Verschuldeten, dass ihre Schuldenlast steigt, durch den Nachfragerückgang geht auch die Wirtschaftsleistung zurück, damit sinken auch die Staatseinnahmen.“ Beweist das die Irrationalität der Sparpolitik? „Nein“, sagt Becker, „meines Erachtens gibt es schon eine Rationalität hinter diesen Maßnahmen – eine Verschiebung der Verteilungsverhältnisse zu Ungunsten der Lohnabhängigen und eine Zerstörung des Sozialstaates. Das, was in besseren Zeiten nicht gelungen ist, soll nun unter dem Deckmantel der Krise durchgesetzt werden. Natürlich ist das eine andere Rationalität als jene, die öffentlich behauptet wird.“ Was wäre die Alternative? „Sich das Geld dort zu holen, wo es ist – durch eine verstärkte Progression bei der Einkommensteuer, Vermögenssteuern, oder – im Fall Irlands – höhere Körperschaftssteuern; der niedrige Körperschaftssteuersatz wird ja von der irischen Regierung nahezu wie ein Teil der nationalen Identität verteidigt, während es offensichtlich nicht gegen die nationale Ehre verstößt, die Sozialleistungen zu kürzen. Das zeigt sehr offen, welchen Charakter dieser Staat und diese Regierung haben.“ Exportüberschüsse reduzieren kommt nicht in Frage. Das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL schreibt triumphalistisch, dass mit den Fällen Irland, allenfalls Portugal, das Ende der europäischen Staatsschuldenkrise erreicht sei. Becker ist diesbezüglich sehr skeptisch: „Die Logik der Sparpakete führt zu einem weiteren Wettlauf nach unten. Verwundbar sind dabei vor allem jene Länder, die aufgrund ihrer hohen Leistungsbilanzdefizite permanenten Finanzierungsbedarf haben. Das sind primär die südeuropäischen Länder mit Ausnahme von Italien, Irland ist aufgrund des hohen Refinanzierungsbedarfs seines Bankensektors extrem gefährdet. Die südeuropäischen Länder und Irland sollten in dieser Logik mehr exportieren – in Länder, wo die Binnen-Nachfrage ebenfalls zumeist stagniert oder gar zurückgeht. Es ist allerdings absehbar, dass sich die aktuellen Ereignisse in den Peripherieländern in den Zentrumsländern der Union wiederholen werden, wenn die Ungleichgewichte nicht dauerhaft korrigiert werden.“ Das heißt, so Becker, die extrem exportorientierten Staaten wie Deutschland und Östererich müssten wieder eine expansivere Lohnpolitik betreiben und so ihre Exportüberschüsse reduzieren; die Peripherieländer müssten stärker gefördert werden als bisher. Das ist allerdings eine Strategie, die sowohl die deutsche wie auch die österreichische Regierung empört ablehnen. Damit ist der Weg, den Europa in den nächsten Jahren gehen wird, vorgezeichnet: Eine zunehmende Destabilisierung der Eurozone ist mehr als wahrscheinlich. Christian Stenner
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