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Durchwurschteln?
Sonntag, 14. November 2010
Wirtschaftspolitik von Kurt W. Rothschild Er ist der Doyen der österreichischen Volkswirtschaftslehre und hat eben seinen 96. Geburtstag gefeiert: Prof. em. Kurt Rothschild. Vor genau einem Jahr brachte KORSO ein ausführliches Interview mit dem Ökonomen, in dem er die aktuelle Krise analysierte und unter anderem einen zentralen, demokratiegefährdenden Widerspruch der Europäischen Union kritisierte: Sozial- und Beschäftigungspolitik bleiben Aufgabe der einzelnen Länder, Geld- und Fiskalpolitik finden aber in Brüssel statt.
In einem exklusiv für KORSO verfassten aktuellen Kommentar hält Rothschild ein Plädoyer für Flexibilität in der Wirtschaftspolitik  – die aber, wie er betont, keinesfalls mit (derzeit ja auch nicht gerade seltenem) wankelmütigem Opportunismus verwechselt werden darf.

Wirtschaftspolitik ist zweifellos eine wichtige Aufgabe, generell und ganz besonders in Krisenzeiten. Aber sie ist auch im Vergleich zu anderen politischen Bereichen und Aufgaben ein besonders schwieriges Kapitel. Mehr als in den meisten anderen Bereichen hat man es bei der Wirtschaft mit sehr komplexen und dynamischen Zusammenhängen zu tun, die nicht leicht zu durchschauen sind. Nicht zufällig wird daher zwischen „Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ unterschieden, obwohl ja die Wirtschaftswissenschaft auch eine Sozialwissenschaft ist. Sie nimmt aber eben wegen ihrer Bedeutung, ihrer Komplexität und ihrer langen Geschichte einen besonderen Platz ein.
Für die Politik, beziehungsweise für den Wirtschaftspolitiker, der nicht selbst Fachökonom ist, ergibt sich daher auf diesem Gebiet ein besonderer Bedarf an fachmännischer Beratung. Idealerweise könnte sich eine wirtschaftspolitische Strategie folgendermaßen darstellen. Der Politiker wählt ein bestimmtes Ziel (bzw. eine Zielkombination), das er anbieten und durchsetzen will und lässt sich von einem Experten informieren (a) ob dieses Ziel realisierbar ist, (b) wenn ja, auf welchen Wegen bzw. mit welchen Methoden, und (c) welche positiven und negativen Nebenwirkungen mit den einzelnen Alternativen verbunden sind. Basierend auf dieser Information setzt der Politiker seine Expertise ein, seine Kenntnis und sein Gespür über die Durchsetzungsmöglichkeiten seiner Zielvorstellungen im politischen Prozess (Parlament, Wahlen, Koalitionen etc.). Als Resultat erhält man ein Konzept, das den Weg und das Ziel der gewählten Strategie festlegt und begleitet und auf Grund dessen sein Erfolg beurteilt wird.
Die Realität sieht aber etwas anders aus. Und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Der erste ergibt sich aus der Tatsache, dass Politiker  nicht immer Ziele stipulieren, die sie wirklich und unbedingt realisieren wollen, wofür sie eine gute Beratung benötigen, sondern Ziele werden unter dem Druck einflussreicher Lobbies oder wegen ihrer propagandistischen Anziehungskraft gewählt. Realisierungsmöglichkeiten, Nebeneffekte etc. sind weniger relevant; das Ziel an sich ist im Mittelpunkt. Dafür ist keine Beratung nötig, ob, wie und was man tun kann, wohl aber wünscht man sich Expertenurteile, die das gegebene Ziel legitimieren und als optimal ausweisen. Gesucht sind Berater, die diese Funktion erfüllen können. Der spektakuläre Wechsel von keynesianischer zu neoliberaler Beratung weist deutliche Merkmale des Lobbyismus im Gefolge der strukturellen Machtverschiebungen zugunsten des gewachsenen Finanzsektors und der transnationalen Konzerne auf.
Lobbyismus und Populismus sind Probleme, aber sie könnten im Prinzip bekämpft werden. Fundamentaler ist eine andere Schwierigkeit. Wie schon betont wurde, ist das Wirtschaftsgeschehen ein extrem komplexer Prozess, der schwer zu durchschauen ist und überdies – aus technisch-wissenschaftlichen  sowie gesellschaftlichen Gründen – einem ständigen Wandel unterworfen ist. Die Vergangenheit ist daher nur ein teilweiser Schlüssel für die Gegenwart und die Zukunft ist ungewiss. Unter diesen Umständen ist es unvermeidlich und auch nicht weiter verwunderlich, dass es mehrere und zum Teil sich überschneidende, zum Teil miteinander konkurrierende wirtschaftstheoretische Standpunkte gibt, die dann auch in den verschiedenen Expertisen  ihren Niederschlag finden. Insbesondere in krisenhaften Zeiten, wie wir sie jetzt aus ökonomischer und ökologischer Sicht haben, werden solche Unterschiede relevant und der ernstlich rat- und konzeptsuchende Politiker sieht sich mit einem multiplen Angebot von wirtschaftspolitischen Szenarien konfrontiert. Das ist kein neues Problem. Schon Churchill klagte, dass wenn er sechs Ökonomen um Rat frage, er sieben Antworten bekäme, zwei davon von Keynes.
Unter diesen Umständen erscheint die häufig verpönte Strategie eines Durchwurschtelns (an  Stelle eines möglichst unverändert durchzuhaltenden „richtigen“ Konzepts) in etwas freundlicherem Licht. Große Unsicherheit und ständige Veränderungen sowohl in der kritischen Materie wie in den politischen Durchsetzungsmöglichkeiten erfordern die Fähigkeit, flexibel auf neue Situationen oder später erkannter Fehlentscheidungen zu reagieren. Ein möglichst langes Festhalten an einem detaillierten Konzept, und sei es auch noch so schön, kann den Blick auf geänderte Verhältnisse behindern und versperren. Das bedeutet nicht, dass man auf richtungsweisende Konzepte verzichten soll. Konzepte sind notwendige Konstrukte, um die komplexen Zusammenhänge wirtschaftspolitischer Mittel und Ziele berücksichtigen zu können. Das Problem ist nur die Existenz mehrerer Konzepte, die angesichts von Komplexität, Dynamik und ungewisser Zukunft unvermeidlich ist. Das legt es nahe, in vielen Fällen neben einer ziel- und problemgelenkten Wahl eines orientierenden Konzepts eine Durchwurschtelstrategie im Kopf zu haben, die es einem erleichtert, Fehler zu korrigieren und rasch – ohne Festhalten an dogmatischen Konzepten – auf neue Situationen und Möglichkeiten („windows of opportunity“) zu reagieren1. Wenn eine solche kombinierte Strategie angewandt wird, erhält „Durchwurschteln“ eine gewisse Berechtigung und sollte von einer auch existierenden und mit Recht kritisierten „Heute so, morgen so“-Strategie gedankenarmer opportunistischer Wirtschaftspolitiker unterschieden werden.



1 Als Keynes sein im Treatise of Money entworfenes Wirtschaftsmodell in seinem späteren magnum opus The General Theory of Employment, Interest and Money modifizierte, warf ihm jemand vor, dass er seine Meinung geändert hätte, worauf er antwortete: „Und was würden Sie tun, wenn Sie zu neuen Erkenntnissen kommen?“
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