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Kultur des Nägelkauens
Sonntag, 14. November 2010
Kopfzeile von Martin Novak Angela Merkel kaut Fingernägel. Fingernägel kauen ist nicht schlimm. Das wissen Leserinnen und Leser des Stern schon seit zwei Jahren, da hat die Zeitschrift der Onychophagie einen beruhigenden Text gewidmet. "Das Kauen an den Fingernägeln ist so weit verbreitet und so nah am normalen Verhalten, dass es gesellschaftlich fast schon akzeptiert wird", darf ein Verhaltenstherapeut erläutern, der aber dennoch zum Habit Reversal Training riet. Vermutlich hat die deutsche Bundeskanzlerin den Artikel nicht gelesen oder bisher keine Zeit gehabt, sich in verhaltenstherapeutische Behandlung zu begeben. Denn erst kürzlich wieder nägelkauend abgebildet: auf einem ziemlich großen und auch ziemlich gut platzierten Foto auf Seite 2 und 3 der Kleinen Zeitung. So ein Foto muss auch groß sein, sonst sieht man die Kleinigkeiten nicht – und auf die kommt es ja beim Nägelbeißen an.

Homosexuell zu sein, ist heute auch kein Drama mehr. Man kann schwul, Vorsitzender der FDP und deutscher Vizekanzler sein. „Schwulenfeindliche Ressentiments“ (Der Tagesspiegel) muss er aushalten. Ein schwuler 18-jähriger muss das nicht. Im September hat der Student einer US-Universität Selbstmord begangen, nachdem sein Zimmerkollege zwar so freundlich war, ihm den gemeinsam genutzten Raum für ein Date zur Verfügung zu stellen, aber eine Webcam angelassen hat und (an sich harmlose) Bilder des privaten Rendez-vous über das Internet verbreitete. Der Zimmerkollege hatte gar nichts gegen Schwule, berichten US-Medien, es sei eigentlich nur als harmloser Scherz gedacht gewesen. Vermutlich dachten er und eine ebenfalls beteiligte Freundin tatsächlich nichts Böses: „Ich ging in Mollys Zimmer und schaltete meine Webcam ein. Ich sah ihn mit einem Kerl herumfummeln. Juhu!“, postete er ganz unbefangen auf Twitter.

Nun ist ein Student im Gegensatz zu einer Kanzlerin und deren Vize keine „Person des öffentlichen Lebens“, wie es so schön heißt, wenn die öffentliche Darstellung des privaten Lebens gerechtfertigt werden soll. Doch die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privaten sind in Bewegung: „Das Problem ist eine Kultur der Enthüllung, die weit fortgeschrittener ist als alle Bemühungen, Online-Grausamkeiten zu bekämpfen“, schreibt Margaret Talbot im New Yorker. Wie soll ein Student, für den das Leben seines Kollegen vermutlich nicht weniger öffentlich ist als für einen Agentur-Fotografen die deutsche Kanzlerin, wenn sie gerade an ihren Nägeln knabbert, begreifen, wenn er die Privatheit verletzt? Zumal auch Medienprofis beginnen, traditionelle ethische Standards aufzugeben. Richard Gutjahr, studierte Journalist und Kommunikationswissenschaftler, ARD-Mitarbeiter und mittlerweile gefeierter Blogger, ist so einer: „Als Blogger erhebt man gar nicht den Anspruch, objektiv sein zu wollen. Dagegen hat man es sich angewöhnt, seine Quellen zu verlinken und schafft damit Transparenz. Das ist eine völlig andere Kultur und auch Ehrlichkeit gegenüber seinen Lesern“, sagt er in einem Interview mit dem Online-Standard.

Ähnlich mag ja auch der Moderator im Ö3-Wecker gedacht haben, der brav die Quelle (Sportwoche) angab, als er über eine angebliche Schwangerschaft von Mirna Jukic berichtete und überhaupt nicht verstehen konnte, dass diese („Blödsinn“) ebenso harsch reagierte wie der zum werdenden Vater erklärte Jürgen Melzer: „So ein Schas. Ich weiß nicht, wer so etwas schreibt“, schnaubte der ins Mikrophon. Sinngemäßer Kommentar des Ö3-Moderators: Wer an der Öffentlichkeit steht, kann es sich nicht aussuchen, wie und was über ihn berichtet wird.

Es wäre gut zu verstehen, wenn die zum Elternpaar Erklärten zwecks Stressabbaus mit dem Nägelkauen beginnen. Blöd nur, dass die Kamera im März, wenn Jukic (laut ORF) bei der nächsten „Dancing Stars“-Staffel mitwirkt, dann zwar nicht auf deren Babybauch, aber immerhin auf die angekauten Fingernägel zoomen könnte.
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