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Die Zeitung geht in den Trieb |
Montag, 13. September 2010 | |
Kopfzeile von Martin Novak
Einen Hund soll man nicht in den Trieb gehen lassen, empfiehlt ein Hundetrainer salopp. Kein schlechter Rat, nur ein schlecht zu befolgender. Wenn ein Hund ein Reh sieht, den Duft einer läufigen Hündin in die Nase bekommt oder den Rest einer Wurstsemmel entdeckt, dann geht er halt „in den Trieb“, und das meistens schneller als der Begleitmensch denken, schreien oder gar handeln kann. Zeitungen (aber natürlich auch andere Medien) gehen ebenfalls in den Trieb – zum Beispiel, wenn sie das Buch eines Bundesbankvorstandes über die durch Immigrationen bedingte Senkung des durchschnittlichen Intelligenzquotienten (oder so ähnlich) in die Hand bekommen. Das Problem mit dem Trieb ist, dass man ihn auch dann nicht in den Griff bekommen muss, wenn man erkannt hat, dass er einen treibt. Man kann – weil man ja Chefredakteur ist und ergo kopfgesteuert – sich aber ex post eine rationale Erklärung zurechtlegen, die dann zum Beispiel in der Zeit bei Giovanni di Lorenzo so klingt: „Ja, wir tun Thilo Sarrazin und seinem Buch damit einen Gefallen. Und doch ist es notwendig, sich mit seinem Pamphlet auseinanderzusetzen.“ Ist es tatsächlich notwendig? Der Autor des für ein Pamphlet ziemlich umfangreichen Werks ist zwar immerhin Volkswirt, aber als ehemaliger Finanzbeamter und Berliner Finanzpolitiker, der von seinem Ministerpräsidenten in den Vorstand der deutschen Bundesbank entsorgt wurde, auf den Fachgebieten Genetik, Psychologie und Soziologie zumindest von Berufs wegen kein Experte. Und seine Thesen von Überfremdung, seine Ängste vor bildungsfernen islamischen MigrantInnen, die das Sozialsystem belasten und die Wirtschaft in den Abgrund reißen, sind nicht so sensationell neu, dass man sie gerade jetzt und gerade anhand dieses Buches diskutieren muss. Sarrazin, schreibt die Süddeutsche Zeitung, beherrsche die hohe Kunst der Provokation wie kein zweiter im Land. Die Frankfurter Allgemeine bescheinigt ihm eine gewaltige „Erregungsenergie“. Eine solche erfasst nicht nur die Medien, sondern auch die Politik, die kommunikationsgenetisch sehr ähnlich strukturiert ist. Die SPD tut sich mit ihrer Triebabfuhr am leichtesten, sie muss ihr Mitglied nur aus der Partei ausschließen. CDU-Bundeskanzlerin Angelika Merkel hatte es schon schwerer. Sie war dazu genötigt, die Mitvorstände Herrn Sarrazins dazu zu bewegen, ein Abberufungsverfahren in die Wege zu leiten und braucht den Bundespräsidenten, der das Werk zu vollenden hat. Den Betroffenen kann das eher kalt lassen: Er scheint ja von Sendungsbewusstsein oder Geltungsbedürfnis getrieben, wahrscheinlich sogar von beidem, und ist überdies mit 65 Jahren bereits im pensionsfähigen Alter. Der Rente kann er jetzt als Autor eines Bestsellers, der am zweiten Tag nach der Erstpräsentation bereits mit einer Auflage von 150.000 gedruckten Exemplaren aufwartet, einigermaßen unaufgeregt entgegensehen. Wenn es ihm wirklich fad wird, murmelt er einfach „Kopftuchmädchen“ oder fabuliert über ein jüdisches Gen. Schon wird die Meute wieder in den Trieb gehen.
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