Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
eva helene stern*** – Gebündeltes Leid, geteilte Freude
Montag, 13. September 2010
Während ich mich auf den Weg zum Treffen mit eva helene stern*** mache, gießt es in Strömen. Und während sich alle(s) so rasch als möglich verflüchtigt, tanzt unten in der braun aufgeschäumten Mur mit ausgebreiteten Flügeln munter eine weiße Damenbinde. Ein zufälliges Bild, das virtuos jene Eindrücke untermalen sollte, die ich vom kommenden Dialog wieder mitnehme.

Denn ihre Arbeit als Künstlerin bedeutet für eva helene stern*** bewusst persönliche Öffnung. Eine Ebene, die man nur allzu oft verklärt vorfindet oder im Lebenslauf tabellarisch verschlüsselt. Hier fließt alles zusammen. Die Geschichten und Stationen des bis dato gelebten Lebens, dessen Leid- und Glücksmomente jedes gegenwärtige Tun auspolstern. Das Frausein mit all seinen Bedingtheiten, Schicksalen und einem daraus erwachsenden Streben nach Selbstbestimmtheit. Stoffe aus der Kindheit, die bis heute ausstatten, was wir unser innerstes Bewusstsein nennen. In die Kunst übersetzt wird all das zu abstrakten Bündeln geschnürt, zu Wandbehängen komponiert oder als fließender Rock zum Utensil für bewegende Performances gewirkt – aus Elementen der Erinnerung und Erfahrung, die sich zwischen Nadel und Faden zu universellen
Lebensarbeiten verdichten.

Aufgetragene Bündel. Seit der Kindheit spielen Textilien für eva helene stern*** eine wichtige Rolle. Als tradierte Familienschätze, die persönliche Wärme in der Wohnung verströmen, als selbst gebastelte Puppen, gewebte Bilder, geschneiderte Röcke oder sichtbare Zeichen jugendlicher Auflehnung manifestiert sich in ihren Stoffarbeiten ein innerer
Gestaltungswille, der teils ganz
unbewusst seine Verknüpfungen findet. Kein Perfektionismus, sondern Mut, mit den Dingen gemeinsam zu arbeiten, so beschreibt sie ihre intuitive Herangehensweise, die „wie im Rausch“ auch das erste, das „Urbündel“ hervorbrachte. Aus geliebten, gesammelten und gefundenen Materialien, die sich im dreidimensionalen Prozess verselbstständigen, über mehrere Monate zusammenwachsen und kraftvolle Konzentrationen ausformen. Biografische Stoffe lassen dabei bestimmte Lebensphasen einfließen, grobe Heeresplane bringt das kriegerische Element menschlicher Unterdrückung und familiärer Verluste zum Ausdruck. Aber die scheinbare Inversion bleibt keine endgültige, ein Moment der Öffnung, ein Wechsel der Zustandsform ist immanent – ein Sammeln der persönlichen Kräfte, um möglicherweise in einer lebenswerteren Umgebung sich nach und nach neu zu entfalten.

Punkte der Verwundung.
Assoziative Wandbehänge entstehen als Reaktionen auf fotografische Eindrücke – aus dem persönlichen Archiv oder durch gefundene Bilder. Und das, was man für sich in den Bildern entdeckt, wie es
Roland Barthes eindrücklich beschreibt: „So ging ich die Photos meiner Mutter durch, einer Spur folgend, die in diesen Schrei mündete, mit dem jede Sprache endet: »Das ist es!« …“1, jenes Moment in der Fotografie, ja vielleicht im Künstlerischen überhaupt, das er als den Begriff des „Punctum“ prägen sollte.
Jenes Zufällige, das einen mit Barthes „trifft“ gleich einer Verwundung. Wo Worte versagen, formiert sie die Künstlerin zum Bündel, zum Wandbehang der zahlreichen, „getroffenen“ Bezüge, wird die Körperhaltung einer Frau zum Mittelpunkt für Themen wie unverkrampft gelebte Weiblichkeit, selbst bestimmte Sexualität, den Wert allen Lebens oder aber auch für negative Seiten der Gewalt und Ausbeutung. Anderswo zeigen zartrosa Korsagen das zornig-unverschämte Ausbrechen aus beengenden Schönheitsnormen oder werden zur Rettungskapsel zarter Porzellanpuppen gefaltet. Offen klaffen die Blessuren der Seele, künden „Heeresröcke“ mit tierischen Materialien versehen von männlich dominierten Systemen, Krieg und Methoden gewaltsamer Unterdrückung. Ein sogenannter Ochsenziemer, hergestellt aus der gedrehten Haut eines Bullenpenis, liefert konträr als Strafinstrument für Menschen und Tiere das konkrete Bild der Verwundung.

Schälungsprozesse hin zum Positiven.
Negativen Erfahrungen zum Trotz sieht sich eva helene stern*** als lebensfroher Mensch, wenn auch als stets unangepasster, zu dem man „auf der Suche nach Wahrheit, nach Ehrlichkeit“ letztlich wird. Performance dient als Medium, um alte Häute abstreifen zu können – in Form von Kostümen, die eigens dazu entwickelt werden. Mit „breathe – if you can“ stellt sie sich bloß ihrem Publikum. Halbnackt und verletzbar lässt minutenlanges, blankes Luftholen den Atem im Raum stocken. Auf menschliche Verwundung folgt Rückzug, Scham. Im Rock verdinglicht und verkrochen, als menschliches Bündel, das seine Verwandlung erst durchmachen muss, um mit der Haut auch das Trauma abstreifen zu können.

Kreative Wege weitergeben.
Beim Lendwirbel sauste ein überdimensionales grünes Bündel durch die Straßen, um – bezugnehmend auf die Problematik der Prostitution im Bezirk  Lend – die Frauen von der Straße zu stehlen und gemeinsam im intimen Stoffraum durch Tanz und
Bewegung die Weiblichkeit zu stärken. Kunst wird zum pulsierenden Kraftspender, wenn eva helene stern*** im Rahmen von Vermittlungsprojekten und Workshops auch Kindern, Lehrerinnen oder LSF-PatientInnen „Türen zu eigenen kreativen Potentialen“ aufhält. Ermunterung und nicht eine definierte Ästhetik. Kunst als Methode, sich selber zu begreifen – als tätige Erschaffer einer persönlichen Welt. So schenkte das von ihr initiierte Projekt „Verflechtungen – oder wie wir lernten den Babyloniern ein ETWAS besseres Leben zu weben“, Kindern der Volksschule Afritsch wertvolle Erfahrungen mit dem Reichtum der Mehrsprachigkeit, die zum gemeinsamen Band genäht und verwebt wurden.

Menschlichkeit statt Ausbeutung. In ihrer aktuellen Arbeit, die für die Ausstellung in der Galerie am Flughafen Graz zu großformatigen Detailfotos ausgearbeitet wird, umkreist eva helene stern*** in tänzerischer Bewegung einen von ihr gewirkten, weißen Rock, der die Erkenntnis der Untrennbarkeit des Individuums und seiner Umgebung ins Bewusstsein rufen  soll. Der Nichiren-Buddhismus kennt dafür das Prinzip des „esho-funi“, doch wird mit der allgemeinen Verbundenheit des Seienden auch die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Umwelt thematisiert. Gesäumt mit fleischiger Wolle, versehen abwechselnd mit kleinen, weißen Tierfiguren und Pflanzensamen in Stoffbeutelchen, zeugt der Rock von der Verletzlichkeit der Tier- und Pflanzenwelt und stellt ihr die Ausbeutung als Eigenschaft menschlichen Handelns gegenüber.
Auch die Lakota-Indianer-Mythologie der weißen Tiere, die dazu aufrufen, für das heilige Leben aller Dinge zu beten, und die aktuelle Ölkatastrophe am Golf von Mexiko sind in die Aufforderung, rücksichtsloses Verhalten zu überdenken, mit eingewebt. Wie eva helene sterns*** persönliche Lebenshaltung: tänzelnd und doch bedacht. Nicht in Resignation zu versinken oder sich in Negativität zu suhlen, sondern Position zu beziehen. „Die Welt sehen und nicht daran zugrunde gehen“, sagt eva helene stern***. Punktum.

www.evahelenestern.com

1Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M.,1989, S. 119

 

EVA HELENE STERN***
geboren als Österreicherin in
München, aufgewachsen in Dachau, 1994-1997 Aufenthalt in Tábor, Tschechien - Artist-in-Residence und Arts Administrator bei CESTA; 1995/1996 Nebenwohnsitz in Wien, Gründung des Kulturvereins K.U.A. und Gasthörerin an der Hochschule für angewandte Kunst; 1997-2005 Bremen; seit 2005 in Graz; 2010 Kunstankauf der Stadt Graz, 2010 Arbeitstipendium für bildende Kunst der Stadt Graz; 2007-2008 Künstler-
atelier im RONDO; 2007 künstlerische Mitarbeit im sozialpädagogischen Team der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Landesnervenklinik Sigmund Freud. Ausstellungen (Auswahl): 2010 „Lebensgeschichte(n)“ 22 Jahre Zebra in Kooperation mit land of human rights, <rotor>, Graz; 2010 Ausstellungspersonale in der Akademie Graz; 2009 Gestaltung des steirischen Kinderrechtspreises, „EhrentrauDi!“; 2008 Gruppenausstellung “Leben? Biomorphe Formen in der Skulptur”, Kunsthaus, Graz; 2008 “seleccione 08”, Galerie Eugen Lendl, Graz; 2008  STOPPT SEXUELLE GEWALT“, Lendwirbel, Graz; 2007 „Active Agents“, Medienturm in Kooperation mit steirischer herbst, Graz; 2006 Teilnahme an Messen in Frankfurt (tendence), Paris (maison et objet) und Mailand (Macef); 2005 Schloss Kapfenstein, Südsteiermark; 2004 „hunting butterflies“ mit
Christine Kroos, Kulturhaus Katt, Bremen; 1998 Ausstellungen in
Verden und Achim bei Bremen; lebt und arbeitet in Graz.| Eva Pichler

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