Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Kleiner Kulturführer durch die Krise (I)
Mittwoch, 10. März 2010
Mit Rudolf Brunngraber von Graz in die weite Welt und zurück Karl Wimmler, ständiger Feuilletonist des KORSO, hat in jenem Sektor seines überbordenden Archivs gegraben, der mit „Krise“ überschrieben ist – und dabei Fundstücke aus mehreren Jahrzehnten zu Tage gefördert, die wir unseren LeserInnen nicht vorenthalten wollen.

„Karl und das 20. Jahrhundert“
ist ein Roman betitelt, der am 16.12.1932 im österreichischen Buchhandel erschien. Bereits drei Monate später kam seine US-amerikanische Ausgabe auf den Markt, und zugleich begann das „Prager Tagblatt“ mit der Veröffentlichung des Textes. Zuvor hatte die Wiener „Arbeiterzeitung“ mit dem Vorabdruck begonnen. Sein Autor ist heutzutage so gut wie vergessen, obwohl sein umfangreiches Werk „in zwanzig Sprachen übersetzt“ wurde, wie einer der Zeitgenossen über den 1960 gestorbenen österreichischen Schriftsteller Rudolf Brunngraber schrieb. Vor mehr als zwanzig Jahren hat der deutsche Lyriker und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger diesen Erstlingsroman Rudolf Brunngrabers für seine „Andere Bibliothek“ ausgegraben. Hierzulande wurde das weithin ignoriert. Obwohl es sich dabei um den österreichischen Roman der Weltwirtschaftskrise von 1929 schlechthin handelt. Aber was besagte das schon im Jahr 1988, dem Jahr der deutschen Neuauflage des Romans, dem dafür allerdings strategisch und taktisch miesesten Zeitpunkt. Der Ostblock war am Zusammenbrechen, Kreisky lag im Sterben, die Verkündigung des „Endes der Geschichte“ (Francis Fukujama) stand bevor, und eine Lawine an schlaraffenländischen Verheißungen war dabei, über das, was „der Westen“ genannt wurde, niederzugehen. Krise war anderswo. Im Osten. Hingegen Weltwirtschaftskrise, 1929, 30er Jahre, das war in der herrschenden Meinung der 80er und beginnenden 90er Jahre weiter weg als die k. &  k. Monarchie.
Es ist hier nicht der Ort, mich über Brunngrabers Roman auszubreiten. Oder gar über die Person des Autors in Heiligenverehrung zu verfallen, die nicht angebracht wäre. Aber ist es ein Wunder, dass just die österreichische Sozialdemokratie, der dieser Autor sich lebenslang verbunden fühlte, ihn und diesen seinen Roman seit Brunngrabers Tod derart der Vergessenheit anheim fallen ließ? Vielleicht  war die damit verbundene Geschichtslosigkeit nicht unwesentlich dafür, wie wehrlos die Sozialdemokratie sich unter anderem dem ausgeliefert hat, was seit den 80er Jahren unter dem Schlagwort „Neoliberalismus“ auch hierzulande nahezu widerstandslos durchgesetzt wurde. „Sich wehrlos ausgeliefert“ ist natürlich eine ziemliche Untertreibung. In mancher Hinsicht war es gerade die an der Macht befindliche Sozialdemokratie, die das Rollback gegen die sozialen Absicherungen begeistert mitbetrieben hat.

Die Interessen der Bank sind nicht Lina Braakes Interessen.
Ein solcher Textbeginn ist natürlich taktisch äußerst unklug, zumal jeder Leser nun bereits weiß, welche ideologischen Bretter vorm Kopf der Autor hat. Gegen den „Neoliberalismus“ – ein abwertender Begriff für den Vorrang von Leistung und Erfolg! „Weltwirtschaftskrise 1929“ – mit heute aber auch schon gar nicht vergleichbar! „Sozialdemokratisches Erbe“ – was soll das denn sein?! Also zäume ich das Pferd vielleicht besser von hinten auf. Am 23. Juni 2009 las ich in einer knappen Zeitungsmeldung: „Fünf deutsche Senioren als Kidnapper festgenommen.  Nach einer spektakulären Geiselnahme im oberbayrischen Chieming ist gegen fünf Männer und Frauen im Alter von 60 bis 79 Jahren ein Haftbefehl ergangen. Sie sollen laut Polizei einen 56-jährigen Geschäftsmann aus Speyer (Rheinland-Pfalz) entführt haben. Die fünf Senioren hätten den Mann zwingen wollen, insgesamt 2,4 Millionen Euro an sie zurückzuzahlen. Sie hätten über ihn Geld im Ausland angelegt, das offenbar verloren wurde. (dpa)“ (Der Standard) Ich recherchiere nach, finde aber im Netz seither lange nichts mehr, außer dass es sich um keine Zeitungsente gehandelt hat. Und dass der „Geschäftsmann“ nach vier Tagen Einzelhaft im Keller des Wohnhauses eines Kidnapper-Ehepaares durch Erstürmung eines Sonderkommandos der Polizei befreit worden war (inzwischen ist der Prozess angelaufen). Mir kommt schon beim ersten Lesen der Meldung nur eines in den Sinn: Gute Kunst ist manchmal auch die Vorwegnahme der Realität. Weil ich mich an den Anfang der 70er Jahre in Deutschland produzierten Film erinnere: „Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat“ (Berlinale 1975, Interfilm Award). Darin rächt sich die einundachtzigjährige Lina Braake mithilfe eines pensionierten Bankkaufmanns, den sie im Altersheim kennengelernt hat, an jener Bank, die sie aus ihrer Mietwohnung vertrieben hatte. Sie trickst die Bank mit einem erfolgreichen Kreditbetrug zugunsten eines sardischen Gastarbeiters aus, in dessen Haus in Sardinien sie dann ihren Lebensabend verbringt.

Die Ideologie des Rollback. Dieser Film war fraglos auch ein Ergebnis des mit dem Jahr 1968 verbundenen ideologischen (Auf-)Bruchs. Und jener Gedankenlinie, die vierzig Jahre zuvor von Bertolt Brecht mit dem Satz in der „Dreigroschenoper“ auf den Punkt gebracht wurde: „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ – Ja, solche Gedankensprünge muss man sich bisweilen zumuten, um klarer zu sehen, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu vor mehr als zehn Jahren meinte, als er versuchte, die ideologischen Schritte zum vorherrschenden kapitalistischen Marktfetischismus zu rekapitulieren: Zunächst musste, so meinte er, „das 68er-Denken“ auf den Müllhaufen verbannt werden. Was seit den 80er Jahren kontinuierlich geschah. Ein Film wie „Lina Braake“, denke ich, hätte vor zehn Jahren natürlich niemals das Licht der Welt erblickt. Und dann, so analysiert Bourdieu das Rollback-Konzept weiter: „Man macht aus dem Wirtschaftsliberalismus die notwendige und hinreichende Bedingung für Freiheit und setzt dadurch Staatsinterventionismus mit ‚Totalitarismus’ gleich; man identifiziert das Sowjetsystem und den Sozialismus miteinander und behauptet damit, dass der Kampf gegen die für unausweichlich gehaltenen Ungleichheiten unwirksam sei (…), man assoziiert Effizienz und Modernität mit dem Privatunternehmen, Anarchismus und Ineffizienz mit dem öffentlichen Dienst und will dadurch das vermeintlich egalitäre und effizientere Kundenverhältnis an die Stelle des Verbraucherverhältnisses setzen.“ (Das Elend der Welt, zit. nach: Freibeuter 78, Berlin 1998) Und in Österreich passierte das unter anderem auch durch jahrelange Propaganda gegen die „Verschwendungspolitik unter Kreisky“. Landauf, landab wurde sein Sager von den Sorgen (weniger um ein paar Millionen Schulden, mehr um einige tausend Arbeitslose) abgewatscht, bis jeder glaubte, Kreisky habe das Budgetdefizit erfunden. Die Fakten: „Von den 4,5 Prozent des BIP, auf die (Kreiskys Finanzminister) Hannes Androsch im Rezessionsjahr 1975 das Deficit-spending ausgeweitet hat, ‚erbte’ noch im von Androsch erstellten Budget 1981 sein Nachfolger nur noch ein Restdefizit von 2,6 Prozent des BIP.“ (Horst Knapp, Standard, 16.10.1995) – Die Demagogen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte stört das nicht.

Herr Rürup und Herr Tomandl und ihre Pensionen. Zu theoretisch? – Praktisch ist Herr Rürup. Geboren 1943 in Essen. Nach dem Studium der wirtschaftlichen Staatswissenschaften im Bonner Kanzleramt. 1974 erste Professur in Essen, seit 1976 Nationalökonom an der Uni Darmstadt (emeritiert mit staatlicher Pension 2009), Gastprofessor auch an der TU Wien. In den 90er Jahren in den Medien in Deutschland und Österreich dauerpräsenter „Regierungsberater“ in Pensionsfragen. 1997 Guru des Reformplans für das österreichische Pensionssystem, Propagandist der „Privaten Pensionsvorsorge“. Einer der bis vor wenigen Jahren meistbeschäftigten „Sozialexperten“ Deutschlands. Und damit auch Österreichs. Denn ideologisch hängt unser Land wie nie seit der Nazizeit am deutschen Tropf. Der jetzt halt „europäisch“ verbrämt ist. Und Rürup fabuliert landauf landab: Staatliches Pensionssystem – Katastrophe, Alterspyramide, geriatrische Zukunftsbevölkerung, rette sich wer kann! – Der Staatsapparat vor immer mehr und unersättlicheren Anspruchstellern, aber der Einzelne vor allem! Eigenvorsorge! Ich ist das Wichtigste! Ich ist das einzig Sichere! – Es dauert einige Jahre, bis jemand nachschaut, was dieser famose Herr sonst so macht. Er sitzt damals u.a. im Aufsichtsrat der drittgrößten deutschen Versicherungsgruppe (ERGO), berät ein anderes, das inzwischen zu ERGO gehört (Victoria) und zumindest noch einen dritten „Finanzdienstleister“ (MLP), letzteren als Vortragender und Werbeträger. Inzwischen ist er gelandet im Vorstand jenes Keilervereins, der sich in diesen Tagen Sammelklagen betrogener Vorsorgekunden zu erwehren hat. Soweit zu Herrn Rürup, neben dem wir allerdings auch einen anderen langjährigen Propagandisten des Abbaus des staatlichen Pensionssystems nicht unter den Tisch fallen lassen sollten: Theodor Tomandl. Das ist jener Herr, der so frei war, im Jahre 2008 Klage beim österreichischen Verfassungsgerichtshof einzubringen, weil seine eigene staatliche Pension von rund 7000 (in Worten: siebentausend) Euro schändlicherweise nur um einen Fixbetrag erhöht wurde, statt prozentuell. Und der im September desselben Jahres die Chuzpe besaß, die geplante Erhöhung aller Sozialversicherungspensionen (ASVG) um 3,2 Prozent als zu hoch zu geißeln. Nebenbei: Ich hab mir den Spaß gemacht auszurechnen, was Herr Tomandl privat pensionsversichert vom 25. Lebensjahr an hätte einzahlen müssen (ohne Fonds und Spompernadln), um mit 65 Jahren, also nach 40 Jahren Einzahlung, auf eine lebenslange Monatspension von € 7000,- zu kommen: rund €  1400,- monatlich (plus/minus ein bisserlwas je nach Variante und Gesellschaft)!  So viel hat er vor 40 Jahren nicht einmal oder vielleicht gerade verdient. Und wenn er heute feststellen müsste, einer, sagen wir, verlustbringenden Pensionskasse eingezahlt zu haben und vor der Frage steht, ob eine Regierung nun zuschießt oder…..

Das ist der Moment, wo Herr Fischer ins Spiel kommen muss. Thomas Fischer, ein den Lesern meiner KORSO-Kolumnen nicht unbekannter deutscher Paradeökonom. Mehr von ihm im nächsten KORSO.
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