Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Wir können nichts als die Sprache
Mittwoch, 17. Februar 2010
Festrede zur Menschenrechtspreisverleihung 2009 des Landes Steiermark. von Ernst Marianne Binder.
(redaktionell gekürzt)
Wenn ich heute den Begriff Sprache in den Mittelpunkt meiner Festrede stelle, so deshalb, weil die Sprache der Ausgangspunkt der Möglichkeiten ist, sich miteinander zu verständigen.

Nicht nur als Dichter, auch als Mensch hat man nichts als das, was man in Sprache verkleidet erfahren hat. Wir können uns nur begreifen, wenn wir das, was wir erleben, auch benennen können. Indem wir etwas benennen und es so für uns zugänglich machen, erschaffen wir es für uns neu. Als Individuum bestehen wir vor allem aus über Sprache Wahrgenommenem. Die Erinnerungen erschließen sich in dem Moment, in dem wir sie in Worte übersetzt nachvollziehen können. Schludriger Umgang mit dem wertvollsten Kulturgut, das wir besitzen, der Sprache, verhindert, dass es uns möglich ist, die richtigen Schlüsse aus dem, was sich im Lauf der Menschheitsgeschichte ereignet hat, zu ziehen. Erst Sprache macht Geschichte transparent und uns fähig, daraus zu lernen.

SCHNITT: November 1975. Hermann-Kaserne Leibnitz. 18 Uhr. Ein kalter, grauer, nebeliger Wochentag. Vor dem Schranken wartet eine in einen dicken Schal gehüllte Gestalt auf mich. Meine Frau Marianne. Unser vier Monate altes Kind hat sie der Obhut ihrer Mutter anvertraut, um mich zu sehen.
„Servus.“
Wir umarmen uns.
„Hast du Zeit, mit mir einen Kaffee zu trinken?“
„Nein, ich muss in zehn Minuten beim Abendessen sein.“
„Kommst du am Samstag?“
„Nein, ich habe Dienst.“
Marianne weint.
Wir halten uns schweigend im Arm.
Dann muss ich in den Speisesaal und sie zum Bahnhof.

Ich hatte aus unerfindlichen Gründen seit Wochen keine Heimfahrtgenehmigung bekommen und musste Wochenende für Wochenende Dienst schieben. Nun ja, so unerfindlich waren die Gründe nicht. Als Künstler war ich vom ersten Tag an den Sticheleien der unteren Chargen ausgesetzt. Zudem hatte ich mich zu allem Überdruss beim Kasernenkommandanten über die ungerechte Behandlung eines Kameraden beschwert.

ABSATZ: Nach dem Ableisten des Grundwehrdienstes gelang es durch die Intervention eines mit meinem Vater befreundeten Politikers, meine Verlegung in eine Grazer Kaserne durchzusetzen.
Für Marianne allerdings kam auch diese Verlegung zu spät. Am Tag meiner Ankunft in Graz stürzte sie vom Balkon unserer im ersten Stock gelegenen Wohnung. Zwei Tage später erlag sie ihren schweren Verletzungen. Auf dem Totenschein der Grund ihres Ablebens: Suizid.
Ich will nicht vom Schmerz erzählen, den der Tod meiner Frau in mir auslöste, nicht von meinem Hass auf die Institution Bundesheer. Ich will davon erzählen, wie ich versuchte, mit diesem Schicksalsschlag zu leben. Als erstes beschloss ich, Marianne in mir zu begraben. Nicht auf einem Friedhof sollte sie begraben sein. Ihr Tod sollte fortan mit meinem Leben verknüpft sein. Ihr Grab sollte ihr Name zwischen meinem Vornamen und meinem Nachnamen sein: Ernst Marianne Binder. Und natürlich sollte ihr Tod kein sinnloser sein, sondern sollte über meinen Schmerz und die Leere, die sie hinterließ, hinaus etwas bewirken.
Ich begann, den Ablauf der Tragödie Schritt für Schritt zu hinterfragen. Auch meine durch Intervention gelungene Verlegung nach Graz. Ich musste mir eingestehen, dass meine Bevorzugung bei Anlegung meiner heutigen Maßstäbe ungerechtfertigt war. Ich fühlte mich schuldig. Am Tod Mariannes und daran, der Nutznießer eines Systems zu sein, das vorgibt, alle Menschen gleich zu behandeln. Seitdem versuche ich, meiner Verpflichtung als aufmerksames und kritisches Mitglied dieser Solidargemeinschaft ohne Rücksicht auf persönliche Vor- oder Nachteile nachzukommen. Als Dichter und als Mensch betrachte ich es als unerlässlich, auf den Stellenwert der Sprache auch als Vermittlungsinstrument und damit Voraussetzung für jegliche Zivilisation hinzuweisen. Heißt es nicht schon im Alten Testament: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort ist Fleisch geworden.“

So komme ich heute nicht umhin, Menschlichkeit und Menschenwürde auch im Umgang mit der Sprache einzufordern. Nicht für die Privilegierten dieser Gesellschaft, wie ich einer war und bin. Nein, für die, die an den unteren Rändern unserer Gesellschaft leben. Es scheint mir – nach den Vorkommnissen und Sprachverselbstständigungen der letzten Jahre – in denen der Begriff „CHRISTLICH“ besonders häufig in den Mund genommen und gleichzeitig mit den Füßen getreten wurde, hoch an der Zeit, Menschenwürde einzufordern für jene, die zu uns nach Österreich kommen, weil sie in ihrem Heimatland verfolgt werden oder aber auch nur - wobei ich das Wort NUR unter Anführungszeichen stelle -, weil sie sich ein besseres Leben für sich und ihre Kinder erhoffen.

Gerne beruft man sich darauf, ein Europa der Werte und nicht ein werteloses Europa zu wollen. Ohne demagogisch zu sein, würde ich Sie bitten, diese Aussage nach ihrem Sinn zu hinterfragen. Ich habe keinen entdecken können, der nicht auf die Diskriminierung der Menschen in der Islamischen Religionsgemeinschaft hinauslaufen würde. Im besten Fall könnte ich solchen Aussagen Gedankenlosigkeit und einen schlampigen Umgang mit Sprache unterstellen. Unchristlich und unmenschlich sind sie allemal.
Ob es die „Bettlermafia“ ist, „Sozialschmarotzer“ oder „Scheinasylanten“ sind, immer trifft die verbale Diskriminierung jene, die von der Verteilungsungerechtigkeit in dieser Welt am schlimmsten betroffen sind.
Dass Menschen, die Menschlichkeit und Menschenrechte einfordern, als Gutmenschen beschimpft werden, verdeutlicht die Pervertierung der gesellschaftlichen Moral unserer sogenannten westlichen Wertegemeinschaft in einer Weise, die Zweifel am Sinn der Evolution des Menschen aufkommen lässt.
Was Menschenwürde und Nächstenliebe betrifft, so muss ich das Unmögliche einfordern, das Öffnen der Grenzen im geografischen wie im ideellen Sinn. Das Menschenrecht kann nicht zum Gegenstand einer Volksbefragung degradiert werden. Das Menschenrecht ist unantastbar. Und eine Verletzung, ja auch nur der Versuch, es sich aus Überzeugung zurechtzubiegen, kann durch nichts gerechtfertigt werden. Es beginnt immer mit dem Wort. Das Wort verhetzt die Menschen! Damit meine ich das Schielen nach RECHTS, das vorgibt, den Willen der Mehrheit umzusetzen und doch nur dem politischen Kalkül dient. Damit kann man sich die Hände waschen, nicht aber der Verantwortung der Geschichte gegenüber entkommen.

SCHNITT: Im September des vergangenen Jahres erfuhr ich zufällig, dass meine Frau Marianne zum Zeitpunkt ihres Todes im zweiten Monat schwanger war und unter Eisenmangel litt. Ihr Sturz vom Balkon passierte daher nicht in Suizid-Absicht, sondern sie wurde mit allergrößter Wahrscheinlichkeit beim Frische-Luft-Schnappen ohnmächtig und stürzte über die niedrige Balkonbrüstung. Die Todesursache „Suizid“ im Totenschein stimmt also nicht. Es war einfach Schlampigkeit, Schludrigkeit, das Nicht-ernst-Nehmen eines Menschen.

ABSATZ: Dieses Wissen um die tatsächlichen Umstände des Todes meiner Frau ändert freilich nichts daran, dass das Verhalten meiner Vorgesetzen in der Leibnitzer Hermannkaserne damals unmenschlich war. Sie relativiert bloß das Geschehene und die Schuldfrage. Und sie macht aus dieser Geschichte eine Parabel, die bestätigt, was wir ohnehin wissen: Dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie scheinen. Und dass kein Gesetz der Welt – ebenso wenig wie die Standardformel „Nach bestem Wissen und Gewissen“ - ein inhumanes Verhalten rechtfertigt. Auch nicht das Propagieren dessen im Namen des Volkes. Das gilt für mich als Dichter genauso wie für Wahlkampf führende Politiker. Der steirische Dramatiker Werner Schwab hat in einer Regieanweisung folgenden Satz notiert: Die Sprache zerrt die Personen hinter sich her: wie Blechbüchsen, die man an einen Hundeschwanz angebunden hat. Man kann eben nichts als die Sprache. Dem ist nichts hinzuzufügen, als meine Bitte, der Sprache und damit uns Menschen gerecht zu werden, indem wir sie benützen, um uns zu verständigen und uns zu verstehen, und damit unserer Individualität und der Vielfalt unseres Daseins zu huldigen, in Demut und voller Bewunderung. Wir können nämlich wirklich nichts als die Sprache.

Graz, Jänner 2010



Ernst Marianne Binder
Dichter und Regisseur, geb. 1953 in Mostar, Ex-Jugoslawien. Seit 1971 freiberuflicher Autor, Musiker und Regisseur. Lebt zur Zeit in Graz und Berlin. Im Lauf der Jahre neben der künstlerischen Tätigkeit verschiedene Berufe wie: Steinmetz, Fensterputzer, Zeitungsausträger, Olivenbauer, Kellner, Discjockey, Zirkus-Beleuchter, freier Mitarbeiter im ORF etc. Seit 1987 Künstl. Leiter des forum stadtpark theater / dramagraz.
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