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Die Zeitung klärt |
Freitag, 10. April 2009 | |
Kopfzeile - von Martin Novak Wenn es in Florenz plötzlich regnet, haben die Straßenhändler ebenso plötzlich Regenschirme im Programm. Diese sehr vernünftige Marktstrategie (Wer mag schon völlig durchnässt über die Piazza della Signoria spazieren?) haben die Medien wahrscheinlich nicht von Straßenhändlern übernommen, aber sie setzen sie ein. Immer wenn völlig unfassbare Ereignisse eintreten, haben Journalisten Erklärungen bei der Hand. Das müssen sie auch. Denn Erklärungen sind, seit Online-Medien das Nachrichtengeschäft übernommen haben, ihre wertvollste Ware. Erklärungen lagern aber – das ist das Problem – nicht wie Regenschirme in Depots. Sie müssen „on demand“ aus Nachrichtenmaterial, Allgemeinwissen (das über Google und Wikipedia nach Bedarf aufgefrischt werden kann) und Expertenäußerungen raschest zusammengebaut werden. Und wenn ich „raschest“ schreibe, meine ich es auch.Oder würden Sie mir heute, einen knappen Monat später, noch eine Erklärung für den Amoklauf von Winnenden abkaufen wollen, auch wenn sie noch so gut ist? Sicher nicht. Aber damals, also vor drei Wochen etwa, wollte jeder erklärt bekommen, warum ein 17-Jähriger 15 Menschen erschossen hat. Und hat sie auch bekommen: Der Täter wurde gemobbt, war in psychiatrischer Behandlung, sein Vater, der Sportschütze, hat seine Waffen nicht ordentlich verwahrt. Dann gab es noch die Geschichte von der (wie sich später herausstellte, gefälschten) Ankündigung auf einem Internetportal. Darauf wollen wir nicht herumreiten, denn warum sollten Medien Baden-Württembergs Innenminister keinen Glauben schenken? Und es gab noch die Erklärung, dass häufiges „Far Cry 2“-Spielen schuld am Amoklauf war. Das war die beste: Denn jetzt konnten Politikerinnen von Angela Merkel abwärts endlich etwas tun und (in den Medien) Restriktionen für Computer-Killerspiele verlangen. Womit wir bei der Frage sind, was eine gute Erklärung ist. Plausibel sollte sie sein, das ist gut. Plausibel ist sie, wenn sie Erwartungen erfüllt. Handlungsrelevant sollte sie nach Möglichkeit auch sein. Eine Ursache für ein Problem, die man nicht bekämpfen kann, hilft uns nicht. Richtig muss die Erklärung nicht unbedingt sein, es darf nur keiner merken. Das ist hilfreich, denn in der allgemeinen Hektik nach erklärungsbedürftigen Ereignissen kann man nicht allen Wahrheiten auf den Grund gehen, das weiß jetzt auch ein Innenminister. Damit diese Kolumne nicht in eine Medienschelte ausartet, lassen wir den Philosophen Nassim N. Taleb („Der schwarze Schwan“) die Mediennutzer beschimpfen: „Das Problem der verbissenen Suche nach Ursachen liegt nicht bei den Journalisten, sondern bei ihrem Publikum. (…) Wir wollen Geschichten erzählt bekommen …“ Das muss die Zeitung berücksichtigen, damit ihre (Er)klärungen Absatz finden. Solange sie noch kann. Statt Fragen der Presse hat Barack Obama kürzlich auf einer Art Web-Konferenz nur Publikumsfragen beantwortet. „Ohne Medienfilter“, wie die Korrespondentin der französischen „Libération“ enthusiastisch schrieb. Nur: Ohne Filter gibt es keine Klärung. „Die Zeitungen bemühen sich zwar, an einwandfreie Fakten zu kommen, verweben diese aber zu einer Erzählung …“, meint Taleb. Vielleicht ist der Amoklauf von Winnenden ja passiert, weil in der Psychiatrie die Computer-Killerspiele nicht ordentlich verwahrt waren. Martin Novak ist Journalist, Medienfachmann und Geschäftsführer der Agentur „Conclusio“ in Graz.
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