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„Die EU darf einen Beitritt der Türkei nicht als Bürde sehen“
Dienstag, 9. Dezember 2008
Am 17. Oktober lud Univ. Prof. Dr. Karl Kaser den türkischen Botschafter in Österreich, Selim Yenel, zu einem Gastvortrag mit dem Titel „Turkish relations with Austria and the European Union“ an die Karl Franzens-Universität Graz. Am Rande der Veranstaltung sprach Yenel mit Gregor I. Stuhlpfarrer über die größten Hindernisse auf dem Weg der Türkei in Richtung EU-Vollmitgliedschaft, etwaige Alternativen  dieser Mitgliedschaft sowie die spezifische Anti-Türkei Stimmung unter Österreichs Parteien sowie der österreichischen Bevölkerung.

Der EU-Beitrittsprozess der Türkei erstreckt sich bereits über Jahre, ein Ende der Verhandlungen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt trotzdem nicht absehbar. Was ist ihrer Meinung nach der zentrale Grund dafür, dass die Türkei bis heute kein Mitglied der Europäischen Union ist?
Es mag überraschend klingen, aber ich glaube, dass es auf beiden Seiten ein falsches Timing gab und die Verhandlungen daher bis heute andauern. 1977 deponierte Griechenland den Wunsch Mitglied der EU zu werden, daraufhin wurde die Türkei von Seiten der EU mit der Anregung kontaktiert, es Griechenland gleich zu tun; wir haben daraufhin den Fehler gemacht, keine Anstrengungen in diese Richtung zu unternehmen. Vielleicht wären wir ja gleichzeitig mit Griechenland Mitglied geworden, hätten wir damals unseren Wunsch deponiert.
Heute ist die Sachlage anders: Trotz der Zypern-Frage und anderen Problemstellungen glaube ich, dass die Türkei hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl schlichtweg zu groß ist, um ohne große Probleme Mitglied zu werden. Würde die Türkei aufgenommen werden, würde dies wiederum zu einer Veränderung der Struktur der Union führen. Natürlich spielt auch die Religion, die Kultur oder die ökonomische Situation ein Rolle, trotzdem glaube ich, dass der Türkei, sollte sie Mitglied werden, aufgrund ihrer Große ein umfangreicher Einfluss zu Teil werden würde, was wiederum die Stimmverteilung innerhalb der Kommission etc. auf den Kopf stellen würde. Länder wie Frankreich sind daher sehr kritisch gegenüber einem Beitritt der Türkei eingestellt. Ich meine, wir müssen große wie kleine Länder davon überzeugen, dass die Türkei die EU nicht schwächen sondern natürlich stärken möchte. Wir möchten Europa im globalen Wettbewerb festigen und hier liegt auch die Aufgabe der EU: Sie muss sehen, dass die Türkei einen positiven Beitrag leisten möchte. Die EU darf einen Beitritt der Türkei nicht als Bürde sehen.

Was sind die größten Herausforderungen, die die Türkei auf dem Weg zum Vollbeitritt noch zu bewältigen haben wird?
An erster Stelle steht ohne Zweifel die Zypern-Frage – wenn dieser Punkt nicht gelöst wird, nützt es auch nichts, dass vielleicht alle anderen Bedingungen erfüllt werden. Zweitens müssen wir eine Reihe an zusätzlichen Reformen durchführen…

…welcher Reform würden Sie in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung beimessen…
Ich glaube, dass demokratiepolitische Reformen, die das Individuum stärken besonders wichtig sind. Individuen haben natürlich auch heute schon alle Rechte, trotzdem müssen wir versuchen die geistige Haltung vieler Menschen zu ändern; nicht selten steht der Staat nämlich in der Denkweise der Menschen im Vordergrund und verdrängt die Interessen des Individuums. Dieser Umdenkprozess hat vor ungefähr zehn Jahren begonnen und wird noch eine Weile dauern. In diesem Zusammenhang müssen wir in der Türkei noch Aufklärungsarbeit leisten.

Die gegenwärtige Diskussion beschäftigt sich ausschließlich mit einem EU-Beitritt der Türkei. Was passiert, falls die Gespräche scheitern sollten – gibt es so etwas wie einen Plan B bzw. eine Alternative zum Beitritt zur Union?

Grundsätzlich wollen wir der EU beitreten, trotzdem ist unsere Geduld nicht unendlich. Sollten wir die Bedingungen nicht erfüllen können, so ist die Sachlage eindeutig und die Schuld bei uns. Sollte ein Beitritt aber an Entscheidungen, die außerhalb der Türkei gefällt werden, scheitern, so bedeutet das, dass uns die EU nicht will.
Offiziell gibt es in der Türkei keinen Plan B, aber unter den Gegnern der EU gibt es einen breiten Diskurs, der sich damit beschäftigt welche Rolle das Land außerhalb der EU in Zukunft spielen könnte, wobei diesbezüglich Partnerschaften mit Russland oder anderen asiatischen Staaten ins Treffen geführt werden. Ich glaube, diese Vorschläge sind unbrauchbar, weil wir mit diesen Ländern wenig gemein haben, unsere Staatsausrichtung viel westlicher ist. Daher ist unser zentrales Ziel eindeutig: Wir streben bilaterale Beziehungen mit der EU an. Schauen Sie doch die Schweiz an; sie profitiert von ihren Beziehungen zur Union ohne Vollmitgliedschaft auch sehr gut. Aus diesem Grund wird uns der gegenwärtige Integrationsprozess hilfreich sein und vielleicht wird am Ende eine enge Partnerschaft stehen, die nicht Vollmitgliedschaft heißt. Unser Ziel, all unsere Bemühungen in den Verhandlungen sind aber natürlich auf eine Vollmitgliedschaft ausgerichtet, die es zu erreichen gilt.

Wie schätzen Sie den Beitrag Österreichs zu den Beitrittsbestrebungen der Türkei ein?
Bislang unterstützen ca. 10% der ÖsterreicherInnen einen Türkei-Beitritt zur EU und alle im Parlament vertretenen Parteien – abgesehen von den Grünen – missbilligen die Beitrittsbestrebungen. Wir glauben, dass diese Einstellung falsch ist und speziell die beiden Großparteien eine Führungsrolle einnehmen sollten. Die Sozialdemokraten vertraten bis vor fünf, sechs Jahren eine Pro-Türkei-Politik und sogar der ehemalige Bundeskanzler Wolfgang Schüller hat unsere Pläne unterstützt, doch mittlerweile haben beiden Parteien ihre Meinung geändert. Wenn nun das Establishment geschlossen gegen den Beitritt auftritt, so schlägt sich dies natürlich auch auf die Stimmung in der Bevölkerung nieder. Österreich ist das einzige Land in Europa, das beide große Parteien in ihrer Anti-Türkei Politik vereint. Unsere Aufgabe ist es nun, die politischen Entscheidungsträger dahin gehend zu überzeugen, dass ein Beitritt für die gesamte Union positive Auswirkungen hätte, die im Endeffekt auch Österreich zu Gute kommen würden.
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