Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Graz explodiert - und trocknet aus
Mittwoch, 12. Dezember 2007
Image Wirtschafts- und Lebensräume wie Graz wachsen weit über die Gemeindegrenzen der Zentralorte hinaus, differenzieren sich und übernehmen immer mehr Aufgaben. Raumordnung und Finanzpolitik hinken diesen Entwicklungen um Jahrzehnte hinterher.
Spätestens seit dem berühmten, 1991 verstorbenen französischen Soziologen Henri Lefebvre wissen wir, dass der Begriff „Stadt" heute etwas ganz anderes bedeutet als noch vor Jahrzehnten. Das, was früher damit bezeichnet wurde – ein Ort mit klaren Grenzen, wo sich Produktionsmittel und Arbeitskräfte (inklusive deren Wohnstätten und des Freizeitangebotes) auf engem Raum konzentrieren – verschwindet. „Die Stadt explodiert, löst sich in Fragmente auf, die Urbanisierung wird allgemein", sagt Lefebvres Schweizer Fachkollege Christian Schmid in seinem Buch „Stadt, Raum und Gesellschaft". „Es entsteht eine „,urbane Großregion‘, in der immer größere Teile des Raumes in einem übergreifenden Einzugsgebiet zusammengefasst werden … es entstehen vielerlei Standorte in einem städtischen Gebiet … das ganze Land wird – tendenziell – zu einer urbanisierten Zone … die starre Raumstruktur wird aufgebrochen … der gesamte urbane Raum zersplittert in spezialisierte Fragmente", schreiben Schmid und seinen MitautorInnen in einem anderen Buch über die Entwicklung der Städte, das den sinnigen Titel „Capitales fatales" trägt.

Kein Thema für die Gemeinderatswahlen?
Was die Wissenschaft schon lange weiß, hat sich noch nicht wirklich bis zur Politik herumgesprochen, obwohl sich diese Veränderungen direkt vor ihren Augen abspielen – auch in und um Graz. Auch die GrazerInnen sind Opfer politischer Entscheidungen auf Bundes-, Landes und kommunaler Ebene, die sich noch immer am Schrebergartendenken vergangener Epochen, an klaren, abgegrenzten Gemeindestrukturen und am Gegensatz zwischen Stadt und Land orientieren. In der öffentlichen Debatte vor den Gemeinderatswahlen, wo genau diese Themen diskutiert werden sollten, spielen sie allerdings so gut wie keine Rolle.
Wüsten des Individualverkehrs. Die „Explosion der Zentralräume" und ihre Differenzierung in Wohn-, Arbeits-, Schlaf- und Freizeitgebiete ohne Rücksichtnahme auf historische Stadt- und Gemeindegrenzen konkretisiert sich am anschaulichsten in der anschwellenden Verkehrslawine: „Pro Tag pendeln 120.000 PKWs nach Graz ein, jeder zweite Kilometer, der in Graz mit einem PKW gefahren wird, wird mit einem Auto aus dem Umland gefahren", weiß Verkehrs- und Planungsstadtrat Dr. Gerhard Rüsch. Umgekehrt fließt seit der Errichtung der großen Einkaufszentren ein unüberschaubarer Kraftfahrzeug-Strom in den Süden von Graz. Laut einer Untersuchung der Wirtschaftskammer Steiermark wird der Großteil der wirksamen Kaufkraft „bereits außerhalb der Ortszentren bzw. Innenstädte erwirtschaftet" – je nach Bedarfsbereich zwischen 21 und 50%. Eine Studie des Verkehrsclub Österreich (VCÖ) hat ergeben, dass allein auf dem Weg ins Einkaufszentrum Seiersberg jährlich 99 Millionen Autokilometer zurückgelegt werden; ein durchschnittliches Einkaufszentrum erzeugt pro 1000 Quadratmetern Einkaufsfläche bis zu 1000 Verkehrsbewegungen pro Tag. Die Zentralräume werden zu Wüsten des Individualverkehrs. Und das nicht nur im übertragenen Sinn: Allein bei den Einkaufsfahrten nach Seiersberg werden 16.400 Tonnen CO2 frei, ein kleiner, aber messbarer Beitrag pro Klimawandel und Versteppung Mitteleuropas.

Ohne eine Offensive im öffentlichen Verkehr kommt jede Entwicklung zum Erliegen.
An Vorschlägen, wie dieser Trend zu stoppen sei, fehlt es nicht. Im Regionalplan für den Großraum Graz ist vorgesehen, dass nur jene Siedlungsbereiche weiter verdichtet werden sollen, die gut an den öffentlichen Verkehr angebunden sind – die Distanz zu einer ÖV-Station soll nicht mehr als 300 Meter betragen. Die Mindestbebauungsdichte soll 0,3 betragen – also 300 Quadratmeter Wohnfläche auf einem Grundstück von 1000 m2. Aber, so der Grazer Raumplaner DI Günther Tischler: „Das Problem liegt nicht an den mangelnden Lösungsvorschlägen, sondern an der mangelnden Umsetzung."
So bleibt nur die Hoffnung auf eine Umorientierung in der Verkehrspolitik – die macht zwar die Wege, die durch die Zersiedelung immer länger werden, nicht kürzer, kann aber wenigstens dazu beitragen, dass sie auf umwelt- und menschenfreundliche Weise zurückgelegt werden können. Hier ist zum Glück einiges auf Schiene. Die geplante S-Bahn soll einen Teil des stadtgrenzenüberschreitenden Verkehrs aufnehmen, die EinpendlerInnen sollen dann innerstädtisch mit der Straßenbahn weitertransportiert werden. Ganz oben auf Rüschs Prioritätenliste stehen darum die neue Südwestlinie nach Strassgang und die Nordwestlinie nach Gösting, die über die Nahverkehrsknoten Don Bosco und Bulme an das S-Bahn- bzw. das ÖBB-Netz angebunden werden sollen. Der Verkehrsstadtrat hofft auf eine Fertigstellung bis 2015, ein zweifellos ambitioniertes Ziel. Aber, so Rüsch: „Wenn wir diese Vorhaben nicht verwirklichen und die bisherige Entwicklung fortschreiben, wären Graz und vor allem die City zunehmend schlechter erreichbar, wir könnten aus Verkehrsgründen weder weitere Wohnanlagen bauen noch Betriebe ansiedeln – die Stadt würde im Verkehr buchstäblich ersticken und jede Entwicklung käme zum Erliegen."

 


Die Parallelwelt der Politik. Wenn der Titel dieses Beitrages lautet: „Graz explodiert", so gilt dies freilich nur für die reale Welt der Umsiedelung und Konzentration von Unternehmen und Handelsbetrieben, der Konzentration von Wohn- und Freizeitangeboten fernab von Arbeitsmöglichkeiten und der Konzentration von Dienstleistungsangeboten und Verwaltung, die allesamt zu längeren Wegen führen – und all das völlig unbeeindruckt von Gemeinde- und sonstigen Grenzen.

In der Parallelwelt der Politik sieht die Situation völlig anders aus: Da bestimmt noch das Denken in Grätzeln und Pfründlein die Maximen des Handelns. „Das zentrale Hindernis für eine Raumordnung, die einen Ausgleich zwischen den Einzelinteressen und dem gemeinsamen öffentlichen Interesse schaffen sollte, ist die bei den Gemeinden liegende Widmungshoheit", sagt Tischler. Wenn Seiersberg zulässt, dass die bestehenden Einkaufszentren im Rahmen der Flächenwidmung ausgebaut werden, kann der Grazer Bürgermeister nur ohnmächtig zusehen – eine rechtliche Handhabe dagegen hat er nicht.

Allerdings: Die Widmungshoheit der Gemeinden und damit eines der wichtigsten Rechte der Bürgermeister antasten will niemand in der Landespolitik. Die radikalere Lösung – die Zusammenlegung von Gemeinden und Eingemeindungen – wird ebenfalls abgelehnt. „Gegen den Willen betroffener Gemeinden kann es keine Eingemeindung geben", sagt LH-Stv. Hermann Schützenhöfer im KORSO-Gespräch. Er setzt auf „gute Zusammenarbeit der Grazer Parteien, dann kann es auch im Grazer Stadtgebiet wieder interessante Betriebsansiedelungen geben." Und LH Franz Voves hofft auf die Wirksamkeit des von ihm initiierten „Regionext"-Programmes, das u.a. Graz und Graz-Umgebung in einer Großregion zusammenfasst. „Von der Stadt Graz und von Graz-Umgebung erwarte ich mir ein offenes Aufeinander-Zugehen, Eigeninteressen dürfen eine Win-win-Situation für alle Beteiligten nicht unterbinden."

 


Vertrocknende Finanzquellen. Nicht nur die Raumordnungs-Politik und vor allem ihre konkrete Umsetzung hinken hinter den realen Entwicklungen der wachsenden Zentralräume einher – das gilt auch für die Finanzpolitik; davon kann Finanzstadtrat Dr. Wolfgang Riedler ein Lied singen. „Die großen wirtschaftlichen Zentralräume – und dazu gehört in Österreich neben Wien und der Region Linz/Wels eben der Großraum Graz – übernehmen immer mehr Aufgaben und Funktionen; das hat die österreichische Raumordnungskonferenz schon Anfang der neunziger Jahre festgestellt. Nur: Parallel dazu wurde die Finanzkraft der Städte strukturell geschwächt." Schuld daran sei der Verteilungsmodus beim Finanzausgleich, der die kleinen Gemeinden bevorzuge und, so Riedler, „direkt auf den Einfluss des Bauernbundes in der ÖVP damit auf den Finanzminister zurückzuführen ist – wir erreichen inflationsbereinigt erst heuer wieder das Niveau der Einnahmen von 2002."

Weil der Finanzausgleich nun auf sechs Jahre statt wie bisher auf vier abgeschlossen wurde, sei nun aber genügend Zeit um die Verteilungsregel für die Mittel völlig neu zu definieren. Dafür hat Riedler auch eine Reihe an Vorschlägen parat: „Zunächst müsste sich die Vergabe der Mittel an den tatsächlichen Aufwendungen orientieren – das heißt zum Beispiel, dass die Stadt Graz dafür, dass sie Aufgaben der mittelbaren Bundesverwaltung wahrnimmt, auch einen Ausgleich erhält." Das gelte etwa für die Bezirkshauptmannschaft, die von der Stadt – im Gegensatz zu allen anderen Bezirken – selbst bezahlt werden muss. Auch im Gesundheitsbereich habe die Stadt Aufgaben anderer Körperschaften übernommen – im Fall der Geriatrie I etwa jene des Landes. Und: „Für die zentralen Kultureinrichtungen zahlen wir 50%, obwohl in Graz nur ein Viertel der Bevölkerung des Landes lebt." Gleichzeitig sei der Bund seinen Aufgaben nicht nachgekommen und habe die Einheitswerte nicht der tatsächlichen Entwicklung angepasst – „dadurch wurden den österreichischen Gemeinden seit Mitte der 70er Jahre über 20 Milliarden Euro entzogen. Im Zuge der Steuerreform 2009 muss daher unbedingt eine Neuordnung der Grundsteuer erfolgen", fordert der Finanzstadtrat.

 

Mangelnde Finanzkraft verhindert nicht nur, dass Städte wie Graz ihren Aufgaben immer schwerer nachkommen können, sie hat auch zur Folge, dass Investoren den Kommunen ihre Bedingungen diktieren können. Damit drohen amerikanische Zustände – Bautätigkeit ohen Rücksicht auf Raumordnung und historisches Kulturgut, Mobilität wird auf den Individualverkehr reduziert, die Lebensqualität in den Städten sinkt. „Noch ist Zeit, die europäische Stadt zu retten und leb- und bewohnbar zu erhalten, aber: Ohne mutige und vielleicht kurzfristig unpopuläre Entscheidungen und ohne das Zurückdrängen von Partikularinteressen wird diese Chance nicht genützt werden können", resümiert Tischler.


cs

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