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Paradigmenwechsel mit 40 |
Donnerstag, 11. Oktober 2007 | |
„40 Jahre steirischer herbst“, sagte die Herbstintendantin Veronika Kaup-Hasler in ihrer Eröffnungsansprache in der Listhalle, „eine Sache der Großväter, wie ich gelegentlich höre, und gendermäßig wäre ich dann natürlich die Großmutter“ … oder so ähnlich. Das war reine Koketterie, wenn sie auch dieses Jahr auf ihre wunderbaren Pumps mit den hohen Stilettoabsätzen verzichtete. Namensgleichheit zwischen dem diesjährigen Generalthema und „Close Enough“, der rituellen Eröffnungsperformance. Diesmal wird die Listhalle ohne besonderen narrativen Faden als „Musikinstrument“ bespielt, hauseigene Geräusche verstärkt und mit allerlei Handwerksgerät innen, Rennwagen oder Hubschrauber außen ergänzt. Matt. Vor einiger Zeit schien der herbst nicht ohne Listhalle auszukommen, derzeit dient der Akustikschuppen hauptsächlich fürs Buffet. Eine eindrucksvollere Eröffnung wäre „That Night Follows Day“ gewesen. Tim Etchell, Kopf der britischen Forced Entertainment, hat für die belgische Produktionsplattform Victoria genial einfache Sätze gesammelt und montiert. A la Foucault wird gezeigt, wie der Nachwuchs für die Welt zugerichtet wird. 17 Kinder öffnen den Zusehern in einem minutiös und karg inszenierten Sprechchor die Augen für die tägliche strukturelle Gewalt. Dass die Kinder als Schauspieler ebenfalls Zugerichtete sind, gibt natürlich zu denken … Im zweiten Höhepunkt machten sich die norwegischen Mittvierziger von Baktruppen im „Theatre“ auf dem Karmeliterplatz mit unbefangener Souveränität und hoher Intelligenz über die Grundlagen des Tanzes selbst lustig. In hautengen Trikots, zu einer Schlange verhakt, robbten sie unter dem Vorhang herein und im Bogen über die Tanzfläche. Ächzen, Schnaufen … dreimal en suite. Irgendwann kriecht die Schlange zu Mahlers melodramatischem „Adagietto“ sogar unter dem Bodenbelag die Bühne entlang. Im zweiten Teil wagen sich die zwei Damen und drei Herren an Merce Cunninghams Klassiker „Deli Commedia“. Natürlich sind die Herrschaften nicht mehr imstande, die schwierige Choreografie technisch perfekt zu bewältigen. Aber gerade die gutgelaunte Unvollkommenheit brachte „Do and Undo & Deli Commedia“ zum Leuchten. Großer Tanzabend gegen alle Regeln! Kasachstan meets Styria. Der schönste Sager: „Sex gibt es nur im Westen. In Russland hat man entweder Liebe oder Geschlechtsverkehr, manchmal beides zusammen.“ Kasachstan meets Styria. Mit „Zwischen Knochen und Raketen“ nach Texten von Christoph Grill und mit Helmut Köpping als Regisseur steuert das Theater im Bahnhof einen dritten Höhepunkt zum herbst 07 bei. Diesmal nimmt die erfolgreichste Prostituierte der Welt den mehrere Hektar großen Acker als Wohnung in Beschlag, bekommt von einer Kollegin Besuch und wird nacheinander von ihren drei Ehemännern, die alle um Tage „zu früh kommen“ (aber es gibt Schlimmeres) heimgesucht. Der absurde Witz besteht in der Fiktion, dass die Riesenfläche als ganz normaler Theaterraum behandelt wird. Die Schauspieler, begleitet von ihren Stimmen auf dem Tonband, rennen endlos über die Reininghausgründe. Der Text changiert zwischen Schönheit und schöner Albernheit und löst das Thema „Nah genug“ wie nebenbei ein. „Nah genug“ versteht Kaup-Hasler als offenen Prozess, als eine Art Projektunterricht, freilich ohne Schulpflicht, bei dem das fertige Werk nicht unbedingt das Wichtigste ist. Wenn die so genannten großen Werke wegfallen, treten, um Altintendant Peter Vujica aus dem Herbstbuch „Theorie zur Praxis“ zu bemühen, an Stelle der „früheren“ Giganten auch nur mehr Zwerge auf. Aber wie viele großartige Aufführungen braucht es, damit ein Festival als erfolgreich gilt? Natürlich lässt ohne sie die Anziehung auf die internationale Presse ein wenig nach. Aber wie viel Presse braucht ein Festival, um erfolgreich zu sein? Und stimmt die Privatstatistik des Berichterstatters, dass ein auf „Werke“ oder „Kunst“ konditioniertes Grazer Bürgertum ebenfalls ausbleibt? Haben sich deshalb die zwei Arbeiten, die einen klassischen Kunstanspruch verfolgen, schwerer durchgesetzt? Schön, aber nicht mehrheitsfähig. Der Choreografin Mathilde Monnier geht es in „Tempo 76“ um eine Rehabilitation des verpönten Unisono, der synchronen Bewegung, begleitet von bezwingender Ligetimusik. Erst steht einer am Rand der dunklen Bühne, karge Posen, bis eine Körperspiegelung auftaucht, aus der schließlich neun werden. Auch hier gestisches Material, vieles aus den Massenmedien. Dazwischen zitiert eine Tänzerin Balinesisches, ein Mann lässt seinen mit zwei Kugeln geschmückten Stab kreisen. Am Ende wird – ähnlich wie bei den Baktruppen – sehr ernsthaft mit den Grundlagen des Tanzes gescherzt. Man beginnt sich buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sich mit Rasenstücken einzurollen, andere damit zu bedecken. Ein schöner, wenn auch nicht mehrheitsfähiger Präzisionsabend. Unzugänglicher war die Arbeit von Kattrin Deufert und Thomas Plischke. In „reportable portraits“ setzen sich die beiden Choreografen – per Selbstdefinition „nichtbiologische Zwillinge“ – mit den Grenzen der Individualität auseinander. Zwei getrennt entwickelte Tanzsoli wurden „übereinandergelegt“ und betont unspektakulär mit drei Frauen und zwei Männern realisiert: ein möglicherweise ungeheuer vielschichtiges, theoretisch anspruchsvolles, durch fünf lange Schwarzblenden gegliedertes Tanzsystem. Das Ende nach 60 Minuten merkt man an den bloßen, ruhigen Füßen der Tänzer, die hinter der Rückwand auf den Applaus warteten. Das frühere „open house“ im Orpheum ist ins Zentrum des herbst-Programms gerückt. Intendantin Kaup-Hasler hat für den steirischen herbst einen Paradigmenwechsel vollzogen, wie man ihn zuvor eigentlich schon im Forum Stadtpark beobachten konnte. Die Avantgarde thront im entfernten Klassik-himmel, die „Kultur“ ist dafür zu einer zweiten Jugendkultur, einem mediengetränkten Jamboree, mutiert. Die erste Jugendkultur ist ja mittlerweile ferne Erinnerung pensionsreifer Springsteen- oder Warhol-Fans. Der herbst scheint sich dafür zum Zentrum für junge Theatermacher zu entwickeln. Kunst drückt sich in medialen Ablegern, in Adaptionen von Fernsehformaten aus, die künstlerische Exklusivität verbirgt sich in memnotechnisch schwierigen Gruppennamen, Titeln und Abkürzungen. Wie bei andcompany&co, die in „Time Republic“ mit medialen Bildern, allerdings solchen aus Zeiten der Raumfahrt, arbeiten. Die Ikonen der Raumfahrt Gargarin, Armstrong, Laika bilden Katalysatoren für Paranoia und Überreaktion des Kalten Krieges bis zum Krieg der Welten. Über die Köpfe zieht sich eine Reihe Papierlampen als ferne Planeten, die Bühne ist angeräumt mit Raketen, kindlichen Musikinstrumenten, Köpfen für Lebewesen von „the outer space“ und Cowboyhüten. Coolness ist nicht angesagt, keine postmoderne Ironie diesmal – eher die Gegenkultur der Siebzigerjahre mit „Do It!“ (Jerry Rubin). Schräg, bizarr, anstrengend. Dafür geht das Nature Theater of Oklahoma in „No Dice“ von gegenwärtigen Platitüden aus. Mit minimaler Kostümierung als Pirat, Tussi oder gehemmter Batman werden maximale Verfremdungs- und Heiterkeitserfolge generiert. Die Plapper- und Medienfiguren sind wie Gott herabgestiegen und Fleisch geworden. Die Botschaft ist ein Medium, das zurückgespielt wird. Das Worthülsenepos ist schräg, bizarr, aber mit dreieinhalb Stunden Länge auch ganz schön anstrengend. Mit 40 ist der Herbst so jung und leichtgewichtig, wie er noch nie war. Wenn „schwere“ Themen und Begriffe der Erwachsenenkultur aufgegriffen werden, dann um sie spielerisch ins Leere laufen zu lassen. Siehe das diesjährige Generalthema „Nah genug“, die Nonsens-Wegweiser oder den „Schwarzmarkt für nützliches Wissen“: Not, Zusammenbruch der Währung, Illegalität lassen sich assoziieren, Skepsis gegenüber Wissen, Kritik an der Wissensvermittlung schwingen im Titel mit. Aber der Effekt ist Wissen als schmerzloses Happening, ein ironischer Event mit einem Hauch von Gegenkultur, zu liebenswürdig, um unangenehm aufzufallen. Perfekt, oder? Willi Hengstler
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