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Anarchist – und „reaktionär bis in die Knochen“
Dienstag, 11. September 2007
Herbert Müller-Guttenbrunn: Alphabet des anarchistischen Amateurs. Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel. Berlin: Matthes & Seitz 2007 (= Batterien 78), 363 S., 28,90 Euro

Als Heimo Halbrainer vor mehreren Jahren im KORSO über die von Herbert Müller-Guttenbrunn 1927 bis 1933 – zum Teil in der Steiermark – herausgegebene Zeitschrift „Das Nebelhorn“ schrieb, waren wir mit einer Anzahl überraschter Reaktionen konfrontiert: Nur wenige wussten damals von der Existenz dieses von Intention und Form her an die „Fackel“ angelehnten Periodikums.
Beatrix Müller-Kampel, Professorin an der Grazer Germanistik, hat in Anknüpfung an eine im „Nebelhorn“ in loser Folge erschienene Serie „Zur Richtigstellung der Begriffe“ lexikalische Definitionen aus allen gedruckten und ungedruckten expositorischen Schriften Herbert Müller-Guttenbrunns zu einem „Alphabet des anarchistischen Amateurs“ zusammengestellt. Viele der darin versammelten Einträge muten in ihrer bissigen Ironie erstaunlich zeitgemäß an – so etwa jener zum Stichwort „Bank“: „Zwei Bedeutungen. Mit vier und mehr Füßen: eine Gelegenheit zum Sitzen; mit vier und mehr Direktoren: eine Gelegenheit, diese vor dem Sitzen zu bewahren. Und zwar durch Vernebelungen der Betrügereien mit volkswirtschaftlichen Fachausdrücken und durch Vergrößerung der Schadensziffer bis zu jener Höhe, bei der nicht mehr der Polizist mit einem Gummiknüttel, sondern nur mehr der Staat mit einem Gummiparagraphen, der seine Bürgschaft erklärt, helfen kann.“ (S. 34). Neben knappen Aphorismen à la „Anführer: Einer, der die Leute anführt“ (S. 22.) oder „Uniformiert: Je uniformierter, desto uninformierter“ (S. 248) – Autoritäten und Staatsgewalt stehen natürlich besonders im verbalen Schussfeld des Anarchisten Müller-Guttenbrunn – finden sich mehrseitige Abhandlungen – etwa unter den Einträgen „Justiz“, „Wirtschaft“ oder „Demokratie“, die M.-G. Gelegenheit zu ausführlicher Ideologiekritik bieten. Besonders beißend wird der Autor in den Abschnitten, die sich mit der katholischen Kirche beschäftigen; der Eintrag zur „Vorhaut Christi“ erinnert an ähnliche Passagen im Werk Karlheinz Deschners.
Dass der sehr individuelle Anarchismus Müller-Guttenbrunns auch Abgleitflächen in biologistische Erklärungen aufwies, bleibt im vorliegenden Band nicht ausgeklammert. Besonders die Frauenemanzipation war dem Freigeist wenig geheuer, wie der einschlägige Eintrag zeigt: „[Die Natur] … macht durch die heute so moderne Kameradschaft zwischen den Geschlechtern die Männer zu Weibern und die Weiber zu Männern und wird diesen geschlechtlich indifferenten, nur auf streng geteilte Rechnung bedachten Schleim, wenn ihr sein Aussterben zu langsam vor sich geht, vermutlich durch einen Gaskrieg vertilgen.“ (S. 92) So wechseln klarsichtige Betrachtungen gesellschaftlicher Verhältnisse mit eher abstrusen Vor-Urteilen, sodass Müller-Guttenbrunns kokette Eigencharakterisierung zu Ende des Frauen-emanzipation-Artikels („So bin ich: reaktionär bis in die Knochen“) durchaus auch eine Facette seiner Weltanschauung beschreibt.
cs

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