Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Demokratie in Wirtschaft und Unternehmen: Der Mythos Mondragón
Archiv - Arbeit und Wirtschaft
Montag, 13. März 2006
ImageTeil 1: Die Idee, ihre Geschichte, ihr Erfolg
Können Unternehmen nach demokratischen Prinzipien funktionieren und dennoch hoch produktiv sein? Wie kann ein nichtstaatlicher Betrieb seinen MitarbeiterInnen eine lebenslange Beschäftigungsgarantie gewähren?
Diesen Fragen ging eine Gruppe von Unternehmensinhabern und -mitarbeiterinnen anlässlich einer Exkursion zum spanisch-baskischen Unternehmen Mon-dragón unter Leitung des Grazer Universitätsprofessors Bernhard Ungericht nach.
Im ersten Teil seines Beitrages erläutert der Autor, was unter Wirtschaftsdemokratie zu verstehen ist, wie die Mon-dragón-Gruppe entstanden ist und welchen Prinzipien sie folgt.

ImageMuss die Demokratie an den Fabrikstoren enden? Ist die Idee der demokratischen Organisation von Ökonomie und ihrer Institutionen (v.a. Unternehmen) eine Utopie? Zumindest erweckt die bloße Frage Assoziationen, die eher an die Vergangenheit als an die Zukunft geknüpft scheinen. Assoziationen an Thomas Mores „Utopia" (1516), an die Genossenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts, an das Rätekonzept in den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Ende der 60er Jahre brachten Studierende Schilder vor deutschen Fabrikstoren an, auf denen zu lesen war: „Achtung! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor". Dieser Aktionismus sollte auf den Umstand hinweisen, dass Bürgerrechte und demokratische Prinzipien in Wirtschaftsunternehmen nur beschränkte Gültigkeit haben. Dann wurde die Idee einer in allen Bereichen (auch der Wirtschaft) demokratisierten Gesellschaft zunehmend von „realwirtschaftlichen Sachzwängen", vom „Standortwettbewerb" und dem „Druck der Globalisierung" verdrängt. Als BürgerIn soll der Mensch politisch bewusst und aktiv sein, seine Politikverdrossenheit wird beklagt. Als Arbeitskraft soll der Mensch aber auf grundlegende Bürgerrechte verzichten. Im Idealfall soll er sich selbst als (unpolitischer) Produktionsfaktor instrumentalisieren.

Die Demokratisierung der Wirtschaft ist ein Gebot der Stunde. Die aktuelle Situation ist paradox: Einerseits herrscht Massenarbeitslosigkeit, andererseits ein noch nie dagewesener Arbeitsdruck für diejenigen, die Arbeit haben. Studien zur Arbeitssituation (Statistik Austria 2000) ergeben ein deutliches Bild: 54% der Befragten geben an, dass Überanstrengung, Stress und mangelnde Zeitautonomie am Arbeitsplatz die hauptsächlich erlebten Belastungen darstellen.
Die Demokratisierung der Wirtschaft ist also ein Gebot der Stunde – sofern man tatsächlich das Ziel einer demokratischen Gesellschaft verfolgt. Organisationen werden allgemein dann als demokratisch bezeichnet, wenn die Organisationsmitglieder Stimmrecht, ein Vetorecht gegenüber der Führung (also die Letztentscheidung in Grundsatzfragen) und das Recht haben, über die Bestellung, Bestätigung und Entlassung der Führungskräfte zu entscheiden, Für den Einzelnen äußert sich Betriebsdemokratie in: Angstfreiheit, Mitsprache, Verteilungsgerechtigkeit, Zeitautonomie und der Chance auf Selbstverwirklichung. Eine Utopie angesichts eines globalisierten Marktradikalismus und der dazugehörenden Ideologie?
In den 70er Jahren machte ein Artikel des Wissenschaftlers Robert Oakshott mit dem Titel „Mondragon – Spains Oasis of Democracy" auf ein einzigartiges Experiment aufmerksam: die Genossenschaften der Mondragónbewegung im spanischen Baskenland.

Eine solidar-wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Das Mondragón-Modell gilt als eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Modelle demokratischer Arbeitsorganisation weltweit. Die Mondragónbewegung hat ihren Ursprung in den Ideen des baskischen Priesters José Maria Arizmendiaretta (1915–1976). Als 1936 der spanische Bürgerkrieg ausbrach, unterbrach er sein Theologiestudium, um sich für die baskische Armee zu melden, welche an der Seite der Republikaner gegen General Franco kämpfte. Er war als Militärjournalist tätig und entkam nach dem Sieg von Francos Truppen knapp der Todesstrafe. Nach dem Krieg wurde Arizmendiarrieta zum Priester geweiht und 1941 als Assistenzpfarrer in die baskische Stadt „Mondragón" geschickt.
Seine Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg und die Vorkommnisse des Zweiten Weltkriegs gaben schließlich den Ausschlag, dass er versuchte, eine wenigstens teilweise bessere Gesellschaft zu errichten. Das Ergebnis war das, was er den „Dritten Weg" zwischen ungezügeltem Kapitalismus und zentralisiertem Sozialismus nannte: Ein den Arbeitern gehörendes und von ihnen verwaltetes Unternehmen, welches Gemeinschaftsnutzen mit individuellen Anreizen verband. Don José María sah in dem von ihm konzipierten ökonomischen System von neuen solidarisch-wirtschaftlichen Strukturen die einzige Möglichkeit für das Fortbestehen des baskischen Volkes. Im Jahr 1943 gründete Arizmendiaretta eine technische Schule in Mondragon und vier seiner Schüler gründeten 1956 die erste Genossenschaft, um die Lehren Arizmendiarettas umzusetzen. Da nicht nur die Kooperation zwischen den GenossInnen als wichtig erachtet wurde, sondern auch die Kooperation zwischen Unternehmen, wurden weitere Genossenschaften gegründet und damit die Entstehung des Genossenschaftsverbundes eingeleitet.

Lebenslange Beschäftigung garantiert. Vorrangiges Ziel von Mondragón war und ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Heute umfasst der Genossenschaftsverbund ca. 120 Genossenschaften (ca. 90 Industriegenossenschaften, eine Konsumgenossenschaft, genossenschaftliche Unternehmen in den Bereichen Landwirtschaft, Wohnbau und Dienstleistungen, Forschungs- und Entwicklungsgenossenschaft, Bildungsgenossenschaften – u.a. eine als Genossenschaft errichtete Universität) mit ca. 74.000 Beschäftigten, 80% davon GenossInnen (im Baskenland, insgesamt liegt der Anteil der GenossInnen bei 50%; der Frauenanteil liegt bei 44%). Dieses enorme Wachstum erklärt sich aus der Zielsetzung (Arbeitsplätze schaffen) und aus der Tatsache, dass den GenossInnen „lebenslange" Beschäftigung garantiert wird. Wenn eine Genossenschaft in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, so muss den „freigesetzten" GenossInnen weiterhin ihr Gehalt bezahlt werden. Die Gründung von neuen Genossenschaften bzw. der Austausch von GenosschafterInnen zwischen einzelnen Genossenschaften innerhalb des Verbundes reduziert die Zahl der zu erhaltenden „freigestellten" GenossInnen und damit den ökonomischen Druck auf den Gesamtverband.

Image Foto: Patxi Ormazabal, ehemaliger Minister der baskischen Regionalregierung und leitender Manager für institutionelle Beziehungen bei Mondragón, „Mondragón versteht sich als Solidargemeinschaft"

Höchste Produktivität, geringste Arbeitslosigkeit.
Der Grundsatz der „Interkooperation" ermöglicht ein solidarisches Netzwerk der einzelnen Genossenschaften. So werden die Gewinne teilweise zwischen den Genossenschaften umverteilt, um „Durststrecken" einzelner Genossenschaften zu überbrücken, die Genossenschaftsbank vergibt die Kredite an ökonomisch prosperierende Genossenschaften zu höheren Zinsen und verlangt von Genossenschaften in einer problematischen Situation nur sehr geringe oder gar keine Zinsen. Ebenso werden die Genossenschaften von weiteren so genannten „Genossenschaften zweiten Grades" unterstützt: von der genossenschaftlichen Sozialversicherung, einem Forschungs- und Entwicklungszentrum und den genossenschaftlich organisierten Bildungsinstitutionen. „Wir verstehen uns – entsprechend unseren Grundprinzipien: demokratische Organisation, Lohnsolidarität, soziale Transformation in der Region – als Solidargemeinschaft", meint dazu der leitende Mondragon-Manager für institutionelle Beziehungen Patxi Ormazabal.
Der ökonomische Erfolg der Mondragon-Bewegung ist erstaunlich: Bis 1986 wurden 103 Genossenschaften neu gegründet, nur drei davon waren Misserfolge. In den USA gehen hingegen 80 bis 90 % der neu gegründeten Unternehmen innerhalb von fünf Jahren Pleite. Mondragon ist das führende Industrieunternehmen im Baskenland, das siebtgrößte Unternehmen Spaniens, die Produktivität pro MitarbeiterIn ist größer als in allen anderen Organisationen Spaniens. Die Arbeitslosigkeit beträgt in Spanien 15%, in der Region um Mondragon lediglich 2%. Mon-dragón wurde 2003 vom Magazin Fortune als eines der zehn arbeitnehmerfreundlichsten Unternehmen Europas genannt, die dabei angewendeten Kriterien waren: Mitbestimmung, Gleichheit, Gewinnbeteiligung, Zeitflexibilität, Ehrlichkeit, Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten.

ImageDer Autor Bernhard Ungericht ist Professor am Institut für Internationales Management der Karl-Franzens-Universität Graz.

Im zweiten Teil des Beitrages sollen in der nächsten Ausgabe die Organisationsstruktur des Genossenschaftsverbundes und ihre Veränderung in den 90er Jahren sowie Lehren für die Regionalentwicklung dargestellt werden.






 

» 1 Kommentar
1"Reinhard Hoffmann, Thüringen"
am Donnerstag, 1. Januar 1970 00:33von Gast
Ich finde diesen Beitrag sehr interessant. Leider kenne ich mich in der Rechtslage und in den Möglichkeiten für so eine alternative Organisationsstruktur in Deutschland nicht aus. Können Sie mir dazu ein paar Links senden?  
 
MfG 
 
R. H.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >