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Erster steirischer Suchthilfekongress: „Drogenmündigkeit statt Abstinenz“
Archiv - Soziales
Donnerstag, 12. Oktober 2006
ImageOAR Peter Ederer, Suchtkoordinator des Landes Steiermark: „Sucht ist ein menschliches Verhalten"; Prof. Gundula Barsch: „Der Gegenpol zur Abhängigkeit ist nicht Abstinenz, sondern Drogenmündigkeit."

„Multidisziplinäre Treffen von Menschen, die im Sozial- und im Gesundheitsbereich an einem gemeinsamen Thema arbeiten, sind sowohl für die Psychohygiene als auch für die Sicherung der Qualität ihrer Arbeit notwendig", betonte der Suchtkoordinator des Landes, OAR Peter Ederer, anlässlich der Eröffnung des ersten steirischen Suchhilfekongresses, der am 26. September in Bruck/Mur stattfand.

Image„Mit dem Kongress wollen wir neue Denkanstöße und alternative Sichtweisen anregen und zugleich einen Startschuss für periodisch folgende Fachtagungen der steirischen Suchthilfeeinrichtungen geben."
Allein in der Steiermark sind 50- bis 60.000 Menschen schwere Alkoholiker und 130.000 nikotinabhängig. Dazu kommen 15.000 Medikamentensüchtige, 9.000 Spielsüchtige, 7.500 Internetsüchtige und ca. 4.500 opiatabhängige Menschen. „Jährlich sterben rund 3.500 SteirerInnen an den Folgen von Alkohol und Nikotinmissbrauch", sagt Gesundheitslandesrat Mag. Helmut Hirt. 15% der Bevölkerung zwischen 15 und 60 Jahren können als alkoholkrank eingestuft werden. Und etwa jede 15. Frau ist von Essstörungen betroffen.
Auch das Einstiegsalter sinkt: 5.281 SchülerInnen im Alter von 14 bis 17 Jahren wurden letztes Jahr im Rahmen einer Studie zu ihrem Drogenkonsum befragt. Dabei gaben 22% der Befragten an, bereits Cannabis konsumiert zu haben. Nahezu ebenso gefragt unter Jugendlichen sind Ecstasy und Amphetamine. Gesundheitliche Probleme sind bei der Hälfte der unter 20-jährigen Drogenkonsumenten zu konstatieren, über 40-jährige Drogenkonsumenten leiden vielfach unter schweren gesundheitlichen Problemen.

Neue Lösungsansätze. Das Symposium diente unter anderem der Diskussion verschiedener Herangehensweisen an die Suchtproblematik. So setzt etwa Ederer auf den „regionalen Ausbau von niederschwelligen Einrichtungen bzw. patientengerechte Drogenbehandlung". Zur Erfassung jener Patienten, welche sich in Substitutionsbehandlung (Drogenersatztherapie) befinden, sind Qualitätsverbesserungen im Bereich der Datenbank in Planung. „So können wir die Leute erfassen und bleiben in Kontakt zur Szene."
Einen relativ neuen Ansatz im Umgang mit Drogen präsentierte Prof. Gundula Barsch von der Hochschule Merseburg. „Der Gegenpol zur Abhängigkeit ist nicht Abstinenz, sondern Drogenmündigkeit", so Barsch. „Die Suchtprävention argumentiert mit einem schmalen Gesundheitsbegriff. Das bringt negative Aspekte in die Suchprävention, weil es bei den Jugendlichen zu einem Akzeptanzverlust führt." In Deutschland sei die Jugendarbeit daher völlig von der Suchtprävention getrennt. Die „alten Strategien", die auf dem (Irr)Glauben basieren, Drogenprobleme könnten durch Strafen für Anbieter und Nachfragende gelöst werden, seien überholt. „Die überwiegende Mehrheit der Drogenkonsumenten gelangt nicht zu einer Abstinenzlösung. Ziel der ‚Drogenerziehung’, so Barsch, müsse ein selbstkontrollierter, gestaltbarer Konsum sein.

Sucht als „Verengung". „Es gibt ein gängiges Modell vom Suchtprozess, in dem ausgehend vom gesunden Menschen der Weg spiralförmig, über verschiedene Stadien der Suchtgefährdung und Sucht, zu einem Punkt führt, wo die Kräfte für Veränderung lahmgelegt sind", sagt Manfred H. Geishofer von b.a.s., der Steirischen Gesellschaft für Suchtfragen. Sucht sei „Verengung" und deshalb sei auch ein bewusstes Erkennen kaum möglich. „Man spürt nur, dass man nicht mehr im Lot ist und leidet", weiß Geishofer. „Diese Wahrnehmung wird meist auch abgewehrt – letztlich um das abnehmende Selbstwertgefühl auszubalancieren." Oft verhalte es sich so, dass das soziale Umfeld deutlich früher den Eindruck hat, dass etwas nicht stimme. „Vor allem Alkoholkranke leugnen ihre Sucht oft aus Scham, Abwehr und der Furcht vor Stigmatisierung", so Geishofer.

Eigenverantwortung versus Risiko. Dipl.-Psych. Dr. Uwe Fischer vom Zentrum für empirische pädagogische Forschung der Universität Koblenz-Landau thematisierte den Widerspruch zwischen der Tatsache, dass auf der gesellschaftlichen Ebene große Risiken akzeptiert werden – Kernkraft, Mobilfunk, Feinstaub usw. auf der individuellen Ebene hingegen riskantes Verhalten als „unvernünftig" eingestuft wird. Oft seien Misserfolgserfahrungen der Grundstein für erhöhtes Risikoverhalten.

Evaluieren kann behindern. Einen kritischen Blick auf den steigenden Zwang zur Evaluierung aller Maßnahmen warf Dr. Alfred Uhl vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Suchtforschung und Alkohol: „Der Druck in der Suchthilfe zu dokumentieren und zu evaluieren steigt ständig, wobei in der Regel unklar ist, was mit der Dokumentation passieren soll". Es sei naiv, die Wirksamkeit von Drogenkampagnen nachzuweisen, denn dies sei eine längerfristige Entwicklung, welche nicht über einen kurzen Zeitraum evaluierbar sei. Laut Uhl verhindere die kontinuierliche Dokumentation einer Leistung oft, dass sie erbracht werde.

Drogen im medialen Spannungsfeld. „Sucht, Drogen und Gewalt sind journalistische Konfliktsituationen, welche Aufmerksamkeit erzeugen und deshalb häufig strapaziert werden", meint Mag. DDr. Gabriele Russ von der FH Joanneum Graz. Die Medienexpertin kritisiert scharf, dass in einigen hiesigen Medien Schwarzafrikaner ständig mit Drogendealern gleichgesetzt werden: „Das ist Rassismus pur!"

Wunsch nach mehr Vernetzung. Nicht nur die Vorträge des Suchthilfekongresses waren von hoher Qualität, großen Anklang fanden auch die anschließenden Workshops, in denen ein Austausch zwischen den steirischen Suchthilfeeinrichtungen, den verschiedenen regionalen Initiativen, den Behörden und PartnerInnen in der Suchtarbeit stattfinden konnte. Es wurde der Wunsch nach regionalen Koordinationsstellen (wenigstens im Internet) geäußert, welche aktiv Vernetzungsarbeit leisten sollen.
Allein in der Steiermark gibt es derzeit rund 30 ambulante Beratungsstellen und Streetworkprojekte, welche letztes Jahr ca. 21.000-mal von SteirerInnen aufgesucht wurden. Die Drogenambulanz der Landesnervenklinik Sigmund Freud verzeichnet eine Auslastung von täglich 60 Patienten. Die stationäre Einrichtung Walkabout betreut im Monat rund 26 PatientInnen mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren. Die Kosten für Maßnahmen in der Beratung, Betreuung und Behandlung sowie für die Primärprävention wachsen. „Betrug im Jahr 1996 das Budget für Förderungen in diesem Bereich noch 290.700 Euro, sollen es im Jahr 2006 bereits 2,2 Mio sein", so LR Hirt.

Sucht ist menschlich. „Die suchtfreie Gesellschaft ist Illusion. Sucht ist ein menschliches Verhalten", resümiert Ederer. „Das oberste Ziel der Bemühungen der steirischen Suchthilfe ist die Verhinderung und Reduktion gesundheitlicher und sozialer Schäden durch riskanten Konsum von legalen und illegalen Substanzen und durch schädigendes Verhalten!" Erreichbar sei dieses Ziel nur durch verstärkte Kooperation und vorurteilsfreie Kommunikation zwischen den SpezialistInnen, die auf einem zweiten steirischen Suchthilfekongress ihre Fortsetzung finden soll.

Claudia Windisch

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