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Etiketten sollen Gesellschaft
auf den Punkt bringen
Am 12. April fand im Kulturzentrum bei den Minoriten
ein von der Akademie Graz veranstaltetes und mit renommierten
Wissenschaftlern besetztes Symposium zum Thema „Etikettengesellschaft“
statt. „Mittels Etiketten wird versucht, das verwirrende Durcheinander
der gegenwärtigen Gesellschaft durch Zeitdiagnosen auf den Punkt
zu bringen“, erläuterte Univ. Prof. Manfred Prisching in
seinem Eröffnungsreferat. Die Soziologie bewegt sich damit weg von
der „Klein-Empirik“ und versucht, die Gesellschaft als Ganzes ins
Auge zu fassen. KritikerInnen beurteilen diese Methode als zu konstruktivistisch,
die rege Nachfrage nach Werken wie „Die Erlebnisgesellschaft“ lässt
jedoch auf ein großes Bedürfnis nach Selbstanalyse beim breiten
Publikum schliessen.
Für Peter Gross von der Universität St. Gallen ist die
gegenwärtige Gesellschaft vor allem durch ein immer breiter werdendes
Angebot an Möglichkeiten gekennzeichnet. Feste Gewissheiten früherer
Gesellschaften verflüchtigen sich mehr und mehr, Enttraditionalisierung
und Autonomisierung haben aber ihre Konsequenzen: je mehr Autonomie,
Mündigkeit und Selbstverantwortung vom einzelnen gefordert werden,
desto mehr werden jene zu Ausgeschlossenen, die, aufgrund ihrer
Sozialisation etc. nicht so viel aus sich machen können. Die ständige
Auseinandersetzung mit den Sinn-stiftenden Möglichkeiten, mit der
eigenen Identität, das dauernde Auswählen-Müssen (das immer das
Risiko der falschen Entscheidung beinhaltet) überfordert viele Menschen.
Für Wolfgang Müller-Funk von der Universität Birmingham,
dem Zentrum für Cultural Studies, sind viele der „neuen“ soziologischen
Ideen schon bei früheren Theoretikern zu finden. Richard Sennetts
Diagnose vom „Nihilismus des neuen Lebensstils“ hat schon Georg
Simmel erkannt, wenn er vom „Zerfall des Charakters“ sprach, als
Folge der vorherrschenden Logik von Geld, Macht und Technik. „Der
bewegliche Geldverkehr beinhaltet einen strukturellen Zynismus,
Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“, so Müller-Funk.
Sozialabbau im Neoliberalismus wird in Theorien nicht berücksichtigt
Ein paradigmatisches Werk für diese Befindlichkeit ist für Müller-Funk
Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“: Ulrich, der Spieler
und Provokateur fühlt sich nicht mehr an die Werte des Humanismus
gebunden. Während Narratives alleine durch das Vorhanden-Sein einer
Struktur heilt, ist die heutige Gesellschaft, die keine „großen
Erzählungen“ mehr hat, geprägt von Dekonstruktion und Diskontinuität.
Die Last wird auf den einzelnen abgewälzt, der, im Sport durch Dressur
des Körperlichen und Mentalen, durch Kreativitätstraining mittels
Kunst zum Anpassungsartisten wird. In weiteren Referaten wurden
„Bastelidentität“, „Information“ und „Wissen“ als zentrale Paradigmen
der gegenwärtigen Gesellschaft diskutiert. Auffallend ist, trotz
mancher interessanter theoretischer Ansätze, wie wenig die sich
verschärfenden Arbeitsbedingungen und der Abbau sozialer Absicherung
im Neoliberalismus als Ursache für zunehmende Unsicherheitsgefühle
in die Theorien der Soziologen einfließen.
Romana Scheiblmaier
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