05/2002
 

 

Etiketten sollen Gesellschaft auf den Punkt bringen

Am 12. April fand im Kulturzentrum bei den Minoriten ein von der Akademie Graz veranstaltetes und mit renommierten Wissenschaftlern besetztes Symposium zum Thema „Etikettengesellschaft“ statt. „Mittels Etiketten wird versucht, das verwirrende Durcheinander der gegenwärtigen Gesellschaft durch Zeitdiagnosen auf den Punkt zu bringen“, erläuterte Univ. Prof. Manfred Prisching in seinem Eröffnungsreferat. Die Soziologie bewegt sich damit weg von der „Klein-Empirik“ und versucht, die Gesellschaft als Ganzes ins Auge zu fassen. KritikerInnen beurteilen diese Methode als zu konstruktivistisch, die rege Nachfrage nach Werken wie „Die Erlebnisgesellschaft“ lässt jedoch auf ein großes Bedürfnis nach Selbstanalyse beim breiten Publikum schliessen.

Für Peter Gross von der Universität St. Gallen ist die gegenwärtige Gesellschaft vor allem durch ein immer breiter werdendes Angebot an Möglichkeiten gekennzeichnet. Feste Gewissheiten früherer Gesellschaften verflüchtigen sich mehr und mehr, Enttraditionalisierung und Autonomisierung haben aber ihre Konsequenzen: je mehr Autonomie, Mündigkeit und Selbstverantwortung vom einzelnen gefordert werden, desto mehr werden jene zu Ausgeschlossenen, die, aufgrund ihrer Sozialisation etc. nicht so viel aus sich machen können. Die ständige Auseinandersetzung mit den Sinn-stiftenden Möglichkeiten, mit der eigenen Identität, das dauernde Auswählen-Müssen (das immer das Risiko der falschen Entscheidung beinhaltet) überfordert viele Menschen.

Für Wolfgang Müller-Funk von der Universität Birmingham, dem Zentrum für Cultural Studies, sind viele der „neuen“ soziologischen Ideen schon bei früheren Theoretikern zu finden. Richard Sennetts Diagnose vom „Nihilismus des neuen Lebensstils“ hat schon Georg Simmel erkannt, wenn er vom „Zerfall des Charakters“ sprach, als Folge der vorherrschenden Logik von Geld, Macht und Technik. „Der bewegliche Geldverkehr beinhaltet einen strukturellen Zynismus, Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“, so Müller-Funk.

Sozialabbau im Neoliberalismus wird in Theorien nicht berücksichtigt

Ein paradigmatisches Werk für diese Befindlichkeit ist für Müller-Funk Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“: Ulrich, der Spieler und Provokateur fühlt sich nicht mehr an die Werte des Humanismus gebunden. Während Narratives alleine durch das Vorhanden-Sein einer Struktur heilt, ist die heutige Gesellschaft, die keine „großen Erzählungen“ mehr hat, geprägt von Dekonstruktion und Diskontinuität. Die Last wird auf den einzelnen abgewälzt, der, im Sport durch Dressur des Körperlichen und Mentalen, durch Kreativitätstraining mittels Kunst zum Anpassungsartisten wird. In weiteren Referaten wurden „Bastelidentität“, „Information“ und „Wissen“ als zentrale Paradigmen der gegenwärtigen Gesellschaft diskutiert. Auffallend ist, trotz mancher interessanter theoretischer Ansätze, wie wenig die sich verschärfenden Arbeitsbedingungen und der Abbau sozialer Absicherung im Neoliberalismus als Ursache für zunehmende Unsicherheitsgefühle in die Theorien der Soziologen einfließen.

Romana Scheiblmaier

 

 
MAI-AUSGABE WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG