„Erhebliches Maß an Phantasie und historischen Fehlern“
Bereits 1999 hat M. J. Wenninger seine Forschungsergebnisse
zu Graz erstmals publiziert. Vier Jahre lang jedoch ist das an der
Grazer science community relativ spurlos vorbei gegangen. Zumindest
beschreiben alle bisher zum Kulturhauptstadtjahr erschienenen Publikationen
die Geschichte der Grazer Juden im 15. Jh. nach dem Erkenntnisstand
der Arbeiten vor dem Zweiten Weltkrieg (hauptsächlich nach Fritz
Popelka, dem Verfasser der „Geschichte von Graz“ und dem langjährigen
Rabbiner David Herzog) sowie jener der 1970er-Jahre, vornehmlich
von Gerhard Salzer-Eibenstein. Dieser hat Popelkas Annahme
von der Existenz eines abgeschlossenen „Ghettos“ in Graz noch ausgebaut
und in topographische Karten umgesetzt. Wenninger: „Das erfolgte
aber mit einem erheblichen Maß an Phantasie und historischen Fehlern
und obwohl auch andere Ansichten bekannt waren.“ Im Herbst 2003
endlich wird der aktuelle Stand von Wenningers Forschungen in einem
Sammelband des Grazer Centrums für jüdische Studien nachzulesen
sein.
Geschichtswissenschafter Markus J. Wenninger: >
Ein Ghetto ist historisch nicht nachzuweisen.
KORSO konnte bereits jetzt einen Blick in das Manuskript werfen
und einige VertreterInnen der Grazer Stadtgeschichtsschreibung dazu
befragen.
Wenninger: Juden lebten nicht räumlich abgeschlossen.
Laut Wenninger muss man sich von der Idee verabschieden, dass die
Juden in Graz getrennt von der christlichen Bevölkerung gelebt hätten.
Genährt wurde diese nicht nur für Graz getroffene Annahme zum einen
durch eine Geschichtsschreibung mit teilweise antisemitischem Einschlag
zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche die Juden bereits damals
in einem ihnen aufgezwungenen „Ghetto“ im modernen Sinn des Wortes
verortete. Auf der anderen Seite vertraten auch jüdische und pro-jüdische
AutorInnen die These einer freiwilligen und gewollten Abschottung
der Juden, so etwa Herzog oder Salzer-Eibenstein.
Die Forschungen der letzten Jahre zeigen, so Wenninger, dass die
Idee einer strikten Trennung zwar in den mittelalterlichen Quellen
sowohl von jüdischer und nicht-jüdischer Seite als Wunschbild auftaucht,
jedoch in der Realität nicht so umgesetzt wurde. Wenninger: „Judensiedlungen
bildeten zwar mit der Synagoge als Zentrum einen von der übrigen
Stadt abgehobenen eigenen Stadtteil. Dieser war aber weder durch
Mauern noch durch verschließbare Tore von der übrigen Stadt getrennt.“
Daher schließt Wenninger eine bauliche Abgrenzung des Grazer Judenviertels
durch eine quellenmäßig nicht belegte Judenmauer aus. Auch war dieses
zu keiner Zeit ausschließlich von Juden bewohnt.
Gegenargumente
Für Peter Laukhardt, der sich in den vergangenen Jahren ebenfalls
intensiv mit der Geschichte der Grazer Juden im Mittelalter beschäftigt
hat (einiges davon wird auch im gemeinsam mit Werner Strahalm verfassten
Werk „Graz. Eine Stadtgeschichte“, welches Ende Juni 2003 erscheint,
nachzulesen sein), spricht jedoch weiterhin vieles für die Annahme
eines ummauerten Judenviertels. Laukhardt: „Bei der im Jahre 2000
in der heutigen Buchhandlung Moser gefundenen 15 Meter langen Mauer
handelt es sich um die östliche Begrenzungsmauer des Judenviertels.“
Die Mauer des Judenviertels sei sogar für die Anlage der im 13.
Jahrhundert entstandenen ersten Stadtmauer in diesem Bereich maßgebend
gewesen. Auch Walter Brunner, langjähriger Leiter des Steiermärkischen
Landesarchivs und Herausgeber des ebenfalls Ende Juni 2003 erscheinenden
mehrbändigen Werkes „Die Geschichte der Stadt Graz“ beharrt darauf,
dass das Judenviertel ummauert gewesen sei. Brunner: „Diese Ummauerung
ist auf der aus der Mitte des 16. Jh. stammenden Grazdarstellung
im Palazzo Vecchio in Florenz deutlich zu sehen.“
Altstadt-Experte Peter Laukhardt >
Es gab ein ummauertes Juden-Viertel in Graz
Die christliche und die jüdische Oberschicht lebten Tür an
Tür
Für Wenninger war hingegen bis zur ersten Vertreibung der Grazer
Juden im Jahre 1438 „im Verlauf der Herrengasse vom Hauptplatz bis
zur heutigen Herrengasse Nummer 15 bzw. 18 sowohl die christliche
wie auch die jüdische Oberschicht angesiedelt.“ Dafür sprechen etwa
Quellen vom Juli 1379, die Juden als Nachbarn der damals bedeutendsten
innerösterreichischen Adeligen erwähnen. Am 29. Juli 1379 kaufte
Graf Hermann von Cilli das Haus heutige Herrengasse 3, mit dem jüdischen
Nachbarn Fridlein in Herrengasse 5. Zwei Tage später kaufte der
damalige Landeshauptmann Rudolf von Wallsee ein Haus vom Juden Efferl,
mit den jüdischen Nachbarn Sekhchlein und Chendlein. Auch lassen
sich einige Häuser in der Herrengasse lokalisieren, die sich bis
zur Vertreibung in jüdischem Besitz befunden hatten. Im Bereich
der heutigen Herrengasse 18 kam so der damalige Hofmarschall Hans
Ungnad in den Besitz eines Hauses, welches zuvor dem Juden Sündel
gehört hatte.
War die heutige Herrengasse die alte Judengasse?
Wenninger führt noch weitere Belege an, die dafür sprechen, dass
es sich bei einem großen Teil der Herrengasse zumindest jahrzehntelang
um jüdisches Wohngebiet gehandelt hat. Nach dem vermutlich bereits
1442 fertig gestellten Vorgängerbau der heutigen Stadtpfarrkirche,
der so genannten Gottesleichnamskapelle, bekam die heutige Herrengasse
kurzfristig die Bezeichnung „Gottesleichnamsgasse“. Doch bald nach
der Rückkehr der Juden um das Jahr 1447 wurde diese in den Urkunden
auch als „alte Judengasse“ bezeichnet. Wenninger schließt daraus,
dass die Bezeichnung „alte Judengasse“ zumindest mit dem größten
Teil der heutigen Herrengasse – vom Eisernen Tor bis zur Höhe der
heutigen Landhausgasse – gleichzusetzen ist.
Auch Laukhardt hält diese Gleichsetzung der Straßennamen für plausibel.
Doch Wenningers Schlussfolgerung, dass Juden Häuser bis zur heutigen
Landhausgasse bewohnten, ist für ihn nicht stichhaltig. Laukhardt:
„Vielleicht hieß die heutige Herrengasse einfach Judengasse, weil
sie zum Judenviertel führte“.
Folgt man hingegen Wenninger, dann habe die Herrengasse schon
immer als Nord-Süd-Hauptverkehrsroute durch das Judenviertel bis
zur Stadtmauer geführt, wo an der Stelle des späteren Eisernen Tores
bereits viel früher als bisher gedacht ein Tor aus der Stadt hinaus
geführt habe. Für Waltraud Resch, Autorin der Kunsttopografie
der inneren Stadt, die Wenninger in vielem zustimmt, ist diese These
nicht nachvollziehbar: „Bloß weil diese Straße von der christlichen
und jüdischen Oberschicht bewohnt wurde, muss sie noch lange keine
Durchzugsstraße gewesen sein.“
Stand die alte Synagoge an der Stelle der heutigen Stadtpfarrkirche?
Wenningers Arbeit bietet auch neue Einblicke in die Vorgehensweise,
wie sich die Grazer 1438 ihrer jüdischen Mitbewohner entledigten.
Zuerst wurden einige Juden höchstwahrscheinlich der Hostienschändung
bezichtigt. Wie in anderen Städten dürften die Beschuldigten hingerichtet
und die übrigen jüdischen Gemeindemitglieder vertrieben worden sein.
Ihre Häuser wurden in der Folge unter anderem von hohen Beamten
und Würdenträgern erworben. An der Stelle des Gebäudes, in dem die
Hostien angeblich geschändet oder aufgefunden worden waren, wurde
bald die auf das Ereignis bezugnehmende Gottesleichnamskapelle erbaut
sowie das spätere Kloster „Zum heiligen Blut“. Da bei der Klostererrichtung
1466 keine weiteren verwendeten Parzellen erwähnt wurden, hält es
Wenninger für möglich, dass sich am Platz der heutigen Stadtpfarrkirche
bereits eine Synagoge samt Hof und Nebengebäuden befunden habe.
Nach der Wiederansiedlung der Juden stand die Mehrzahl ihrer Häuser,
so Wenninger, vermutlich in der Jungfrauengasse und Frauengasse.
Es dauerte jedoch bloß bis zum Jahre 1496, bis die Juden nach jahrelangem
Drängen der steirischen Landstände unter dem Vorwand von Ritualmord-Vorwürfen
für fast 400 Jahre aus Graz und der restlichen Steiermark vertrieben
wurden.
Joachim Hainzl
Zusammen mit Heimo Halbrainer und Gerald Lamprecht wird vom Autor
im Herbst 2003 ein eigener Stadtführer „Das jüdische Graz. Vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“ im Verlag CLIO herausgegeben.
Ebenfalls im Herbst 2003 erscheint der von Gerald Lamprecht und
Klaus Hödl herausgegebene Sammelband „Juden in der Steiermark“ mit
dem Aufsatz von Markus J. Wenninger: „Das Grazer Judenviertel im
Mittelalter“ im Studienverlag.
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