Mit Maha Nassar, Vorsitzende der Frauen-Basisorganisation
Union of Palestinian Women‘s Committees (UPWC), sprach KORSO
anlässlich einer Vortragsreise von Frau Nassar durch Europa.
Die Union of Palestinian Women’s Committees arbeitet
als Frauenorganisation in einem besetzten Land …
Die Vereinigung palästinensischer Frauenkomitees ist eine
Frauenorganisation mit Graswurzelcharakter. Dadurch unterscheiden
wir uns grundlegend von karitativen Einrichtungen, aber auch von
den bürokratischen Institutionen. Unserer Meinung nach reicht
es für eine Frauenorganisation nicht aus, Hilfslieferungen
zu verteilen. Uns geht es in erster Linie darum, das Bewusstsein
der Frauen zu stärken und damit jene Voraussetzungen zu schaffen,
die es ihnen ermöglichen, in der nationalen und der sozialen
Frage eine aktive Rolle einzunehmen.
Maha Nassar,
Union of Palestinian Women‘s Committees: Der Bau der Mauer
durch Israel ist eine Apartheid-Maßnahme
Die UPWC betreibt ein vielseitiges Bewusstseinsbildungsprogramm.
Wir organisieren Kurse zu Genderfragen, Recht, Kommunikation, Konfliktmanagement
und Journalismus. Kurse für Büroorganisation, Informatik
etc. sollen es unseren Frauen erleichtern, Arbeit zu finden. In
der UPWC organisierte Frauen betreiben Landwirtschafts- und Handwerkskooperativen,
die zum einen die Unabhängigkeit der einzelnen Frau, gleichzeitig
aber auch die nationale Unabhängigkeit fördern sollen.
Allein im Westjordanland umfasst die UPWC 99 Frauenkomitees. Im
Gazastreifen haben wir beinahe 30 Komitees, die sehr stark nach
außen auftreten.
Unser Ziel ist es, den Frauen Räume zu schaffen, wo sie selbst
aktiv werden können. Gleichzeitig sollen sie ihre Kinder an
einem sicheren Ort wissen. Daher betreiben wir 26 Kindergärten
in den am stärksten benachteiligten Dörfern. Wir wollen
unseren Kindern dort eine offene Grundhaltung und demokratische
Werte vermitteln. Am Nachmittag werden die Kindergärten als
Versammlungsort der Frauengruppen genutzt.
Sie sind Pädagogin von Beruf, die UPWC ist auch sehr
stark im pädagogischen Bereich tätig.
Ja, wir bilden selbst Pädagoginnen aus. Sechsundvierzig von
ihnen arbeiten in Einrichtungen der UPWC. Unser Programm für
Hochschulbildung ermöglicht 46 Frauen das Studium. Wir begreifen
das als eine ganz direkte Investition in die Zukunft der Frauenbewegung.
Unser Engagement in der Vorschulerziehung bedeutet für uns,
den Grundstein für eine gerechte Gesellschaft in der Zukunft
zu legen. Unsere Kinder sind jeden Tag der Gewalt der Besatzung
ausgesetzt. Sie begegnet ihnen nicht nur auf der Straße, sie
folgt ihnen sogar bis in die Schulen und nach Hause. Wir wollen
nicht, dass unsere Kinder diese Gewalt verinnerlichen.
In den europäischen Medien ist das Bild Steine werfender
Kinder und Jugendlichen geradezu zum Symbol der Intifada geworden.
Die Medien zeichnen von uns PalästinenserInnen ein Bild,
das nichts mit der Realität zu tun hat. Kaum jemand war es
ein Zeile wert, als ein Mädchen während des Unterrichts
auf seiner Schulbank erschossen wurde. Welche Gefahr hat sie für
Israel dargestellt ? Ein dreizehnjähriges Mädchen wurde
auf ihrem Schulweg von einem Scharfschützen erschossen. Man
fand sie mit zwölf Kugeln im Körper …
In den Medien fehlen diese Berichte aus einem ganz einfachen Grund.
Sie folgen der politischen Logik Israels. Ihr zufolge sind nämlich
auch unsere Kinder Terroristen. Es wurde sogar behauptet, wir würden
sie nur dazu auf die Welt bringen. Eine derartige Behauptung überhaupt
aufzustellen finde ich an sich schon rassistisch.
Die Berichterstattung über Palästinenser beschränkt
sich auf Selbstmordanschläge und die Korruption innerhalb der
Autonomiebehörde. Aber so viele Aspekte der palästinensischen
Realität werden ausgeblendet! Es gibt linke und demokratische
Kräfte in Palästina, die demokratische Strukturen innerhalb
der Befreiungsbewegung und Konzepte für eine Lösung der
Palästinafrage und für die Rückkehr der Flüchtlinge
entwickelt haben …
Frau Nassar, sie sind als Vorsitzende der UPWC häufig
auf Vortragsreisen in Europa und den USA. Verwundert es sie, wie
die Palästinafrage im Westen gesehen wird?
Viele glauben, wir stünden mit Israel in einem Konflikt,
in dem sich zwei Völker gegenüberstehen und in dem es
um Grenzstreitigkeiten oder ähnliche Fragen gehe. Doch wir
haben keinen derartigen Konflikt mit Israel. Wir leisten Widerstand!
Israel will uns PalästinenserInnen aus dem Weg haben und uns
all unser Land nehmen. Für uns geht es in diesem Widerstand
um unser Überleben.
Sie kommen aus Jerusalem, dessen Ostteil 1967 von Israel
besetzt und formell annektiert wurde; ein Schritt, der aus völkerrechtlichen
Gründen nur von wenigen Staaten anerkannt wurde. Immer wieder
wird israelischen Institutionen vorgeworfen, willkürlich
Druck auf die palästinensischen BewohnerInnen der Stadt auszuüben
um sie zum Abwandern zu zwingen …
Neben der Politik, Siedler vorzuschicken, die PalästinenserInnen
ihre Häuser einfach wegnehmen und besetzen, bedient sich Israel
im Wesentlichen zweier Methoden: der Mauer und des ökonomischen
Drucks.
Die Mauer ist mit Sicherheit das wirkungsvollste Mittel. Sie wird
100.000 PalästinenserInnen aus der Stadt ausschließen.
Von den israelischen Behörden werden sie dadurch mit einem
Schlag nicht mehr als JerusalemerInnen anerkannt.
Seit Juni 2002 baut Israel eine Mauer in der besetzten Westbank.
Der internationale Gerichtshof in Den Haag hat sie am 4. Juli
2004 für völkerrechtswidrig erklärt und fordert
Israel auf, sie umgehend abzureißen. Azmi Bishara, einer
der wenigen palästinensischen Abgeordneten im israelischen
Parlament spricht im Zusammenhang mit der Mauer von „Soziozid“,
also der Vernichtung der palästinensischen Gesellschaft.
Wie wirkt sich die Mauer konkret auf das Leben im Westjordanland
aus?
Die Mauer zerbricht die Einheit der palästinensischen Gesellschaft
von innen. Sie schwächt sogar die Beziehungen unter Verwandten,
weil es nicht mehr möglich ist, sich zu treffen. Die Mauer
beeinflusst alle Lebensbereiche. Heute ziehen es viele, die heiraten
wollen, vor, jemand aus der eigenen Stadt zu wählen, weil sonst
unglaubliche Schwierigkeiten auf die Familien zukommen. Es ist schon
vorgekommen, dass Personen nicht getraut werden konnten, weil etwa
die Braut aus den eingemauerten Gebieten auch nach stundenlangem
Warten nicht herauskommen konnte und der Geistliche nicht länger
gewillt war zu warten.
Israel fährt damit fort, rassistische Trennlinien zu ziehen.
Die Mauer ist das beste Beispiel für die Ausgrenzung der PalästinenserInnen.
Die „Sicherheit Israels“ ist dabei nur ein Vorwand.
Wir haben es mit systematischer Diskriminierung zu tun, vergleichbar
mit der Apartheid in Südafrika. Damals wie heute werden Menschen
ausgesondert und ausgeschlossen, sie werden in die Schwarzarbeit
abgedrängt und auf Schritt und Tritt kontrolliert.
Wie beurteilen Sie die unilaterale Entscheidung Israels,
die Siedlungen im Gazastreifen abzubauen und sich mit seinen Truppen
an den Rand des Gazastreifens zurückzuziehen?
Der Rückzug aus Gaza wurde unter der Formel „Land für
Sicherheit“ abgewickelt; das heißt: Rückgabe von
Land an die PalästinenserInnen im Gegenzug für Sicherheit
für Israel.
Dazu ist zu allererst zu sagen: Dieses Land gehört ihnen
nicht! Die Gaza-Siedlungen haben Israel schon seit geraumer Zeit
große Sorgen bereitet. Die PalästinenserInnen im Gazastreifen
leben weit unter der Armutsgrenze. Sie widersetzen sich der Besatzung,
wie es nur Menschen tun können, die nichts mehr zu verlieren
haben. Die Bewachung der Gazasiedlungen verursachte astronomisch
hohe Kosten. Pro Siedler musste Israel monatlich 30.000$ aufwenden.
Aber die Kosten sind nicht der eigentliche Grund für den Rückzug.
Israel gibt uns ein Stückchen Land und glaubt, damit alle anderen
Siedlungen und die Besetzung des Westjordanlandes legalisieren zu
können. Israel hat in der Gazafrage die Initiative ergriffen,
um den Mythos des Friedensstifters zu schaffen, der 8000 Siedler
opfert, um Frieden mit den PalästinenserInnen zu schaffen.
Ich halte das für sehr gefährlich. Die offizielle palästinensische
Vertretung sollte die Augen öffnen und erkennen, was hier vor
sich geht.
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