Palästina – das „Opfer der Opfer“
Der palästinensische Arzt und Exilpolitiker Dr. George Nicola
betonte, dass die Palästinenser nach dem Holocaust an den europäischen
Juden durch die massenhafte Vertreibung und die Staatsgründung Israels
1948 zum „Opfer von Opfern“ geworden seien. Dennoch habe die PLO
im Vertrag von Oslo das Existenzrecht Israels vollinhaltlich anerkannt
und eine Zwei-Staaten-Lösung angestrebt. Der daraufhin eingeleitete
aussichtsreiche Friedensprozess sei aber mit der Ermordung Rabins
von israelischer Seite gewaltsam gestoppt und durch die darauf folgende
politische Wende in Israel über Barak zu Netanjahu und Sharon in
die nunmehrige Sackgasse der perspektivlosen Gewalt geführt worden.
Als Folge des jüngsten Irak-Krieges habe die Regierung Sharon von
den USA grünes Licht bekommen die Problematik ohne Rücksicht auf
die Palästinenser in ihrem Sinne zu lösen. Die Zwei-Staaten-Lösung
sei für die Palästinenser mittlerweile keine überzeugende Perspektive
mehr, weil durch die fortgesetzte israelische Siedlungsbewegung
ein palästinensischer Staat nur mehr völlig zersplittert auf 22%
des Gebietes des alten Palästina verwirklicht werden könnte und
daher nicht lebensfähig wäre. Die Alternative, ein gemeinsamer multiethnischer,
multireligiöser demokratischer Staat könne aber nur unter starkem
politischen Druck von außen verwirklicht werden. Nicola forderte
dafür ein stärkeres Auftreten der Europäischen Staaten innerhalb
der Gremien der Vereinten Nationen zur Durchsetzung der dort bereits
gefassten Beschlüsse. Als Kernfrage einer zukünftigen Friedensregelung
bezeichnete Nicola die Frage der Rechte der 1948 Vertriebenen. Ohne
deren freie Wahl zwischen dem Recht auf Rückkehr oder Entschädigung
sei eine politische Lösung nicht denkbar. Um den Weg für eine tragbare
Lösung aber überhaupt frei zu machen wäre angesichts der erlittenen
jahrzehntelangen Demütigungen und der aktuellen unerträglichen Mühsal
des Lebens unter der israelischen Besatzung eine Anerkennung des
Unrechts und eine offizielle Entschuldigung durch Israel notwendig.
Israel – die Macht erzählter Geschichte
Dr. John Bunzl vom Österreichischen Institut für Internationale
Politik und Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde in Wien referierte
die Haltung der Friedensbewegung in Israel. Die wechselseitige Anerkennung
der jeweiligen traumatischen Erfahrungen des Gegners – also jüdischer
Holocaust und palästinensische Vertreibung – seien mentale Voraussetzungen
eines erfolgreichen Friedensprozesses. Das Problem werde deutlich
in der Frage nach dem Narrativ, der völlig unterschiedlichen Interpretation
der gemeinsamen Geschichte durch die beiden Konfliktparteien. Dies
stelle für die israelische Seite ein fast unüberwindliches Problem
dar. Wie jede Siedlergesellschaft produziere die israelische starke
Ursprungs- und Geschichtsmythen, bei der die Perspektive des Gegners
völlig ausgeblendet bleibe. Diese Mythen haben gerade in einer sozio-kulturell
so heterogenen Gesellschaft wie jener Israels eine als überlebenswichtig
empfundene Rolle der gesamtgesellschaftlichen Identifikation. Eine
besondere Rolle nehme dabei natürlich der Holocaust ein. Dabei sei
auffällig, dass dieser in der ideo-logischen Argumentation jener
Generation, die unmittelbar von ihm betroffen war, eine geringere
Rolle spielte als bei den Kindern und Enkeln. Die Friedenschancen
lägen dabei in der sprachlichen Differenzierung zwischen dem „uns
darf das nie wieder geschehen“ der Zionisten und dem „es darf nie
wieder geschehen“ auf das sich die Friedensbewegung bezieht.
Von Lebenslügen gehe man aber solange nicht ab, solange „man davon
etwas hat“, was derzeit für viele Israelis offensichtlich noch der
Fall ist. In der israelischen Friedensbewegung habe man aber erfolgreich
angefangen die mythischen Gehalte der Staatsgeschichte zu überwinden
und das auf Seite der PalästinenserInnen erlittene Unrecht zu sehen.
In Gruppen wie jener der „Parents Circle“ oder in Experimenten wie
jenem des gemeinsamen arabisch-israelischen Dorflebens im Friedensdorf
Neveh Schalom / Wahad al-Salam (zwischen Jerusalem und Tel Aviv
gelegen) habe man begonnen diese Perspektiven auch praktisch umzusetzen.
Vereinzelt gebe es auch schon Beispiele, in denen das palästinensische
Narrativ in die israelische Umgangsprache eingedrungen sei. So sei
etwa das arabische Wort „naqba“ für die Vertreibungen des Jahres
1948 heute auch schon den Israelis geläufig. Insgesamt sei dieser
Prozess aber noch viel zu wenig weit fortgeschritten, um aktuell
eine Chance zu haben die offizielle Politik zu prägen. Den größten
Rückschlag habe die Friedensbewegung in Israel von Barak verpasst
bekommen, als dessen Diktum, wonach er Arafat in Camp David „Alles
angeboten, dieser aber trotzdem abgelehnt habe“, in den öffentlichen
Mythos eingefügt wurde. Sharon lebe nunmehr geradezu von der Überzeugung,
dass man auf der anderen Seite keinen Gesprächspartner habe und
man daher Frieden nur als unilateral betriebene Sicherheitspolitik
der militärischen Stärke verstehen könne. Daher empfinde die Regierung
Sharon auch die Genfer Gespräche zwischen nicht offiziellen Honoratioren
und Ex-PolitikerInnen der beiden Seiten als Bedrohung, weil es da
ja sichtbare Gesprächspartner gebe. Umgekehrt sei auf Seite der
PalästinenserInnen eine große Enttäuschung darüber gegeben, dass
die bisherigen wechselseitigen Verständigungsbemühungen an der Basis
keinerlei politische Auswirkungen hatten.
Verständnis zeigte Bunzl auch dafür, dass die Zweistaaten-Lösung
angesichts der durch die Siedlungen und die Mauer bereits geschaffenen
Realitäten für die palästinensische Seite keine annehmbare Perspektive
darstelle. Da aber ein Verzicht Israels auf eine „Eigenstaatlichkeit“
völlig illusionär sei, hält er das Modell zweier Staaten als langfristig
notwendige Übergangslösung für das einzig realistische. Und da die
israelische Gesellschaft von einer inneren Umkehr noch zu weit entfernt
ist, erscheint ihm selbst dafür realpolitisch eine äußere Intervention
nötig.
Franz Sölkner
KORSO führte am Rande der Veranstaltung folgende ausführliche Interviews
mit den beiden Diskussionsteilnehmern.
Interview mit John Bunzl: "Sharon setzt bedingungslos auf Kapitulation"
<
John Bunzl: „Siedlergesellschaften produzieren Geschichtsmythen,
welche die Perspektive des Gegners ausblenden“
Zur Person: Dr. John Bunzl, geboren 1945 in London, wohin
seine Eltern vor den Nazis geflüchtet waren; 1946 Rückkehr nach
Österreich; Nahost-Experte am Institut für Internationale Politik
in Wien; häufige Aufenthalte in Israel und enge Bindungen zur Israelischen
Friedensbewegung; Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in
Wien
Wie beurteilen Sie 1 ½ Jahre nach dem 2. Irakkrieg dessen
Auswirkungen auf den Konflikt Israel-Palästina?
Bunzl: Wir müssen etwas weiter ausholen. Mit dem Amtsantritt des
jüngeren Bush wurden der von Clinton eingeleitete Versuch der Herbeiführung
eines Verhandlungsfriedens - Stichwort: Camp David - abgebrochen
und durch die Losung "Let them bleed!" ersetzt. Der 11. 9. 2001
wurde von der Regierung Sharon im Sinne der Darstellung des gemeinsamen
Opferstatus Israels und der USA optimal genutzt. Gleichzeitig kekamen
in den USA jene republikanischen Kreise verstärkten Einfluss auf
die Regierungstätigkeit, die auch den Likud in Israel stärken wollten.
Dann kam es im Afghanistan-Konflikt zu einer für Israel etwas ungünstigen
Zwischenphase, weil die USA eine breite Anti-Terror-Front mit den
Arabischen Staaten herbeiführen wollten. Diese Phase israelischer
Zurückhaltung wurde aber bald abgelöst durch den Irak-Krieg, in
dem von Seite der USA von vorneherein nicht möglich war auf arabische
Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Die unilaterale US-Politik
gab gleichzeitig "grünes Licht" für Sharons harte Kriegspolitik
gegenüber den PalästinenserInnen.
Eine Folge dieser harten Politik Sharons ist der Bau des "Sperrwalls".
Wie beurteilen sie diesen Bau im Hinblick auf die Entwicklung
in Israel selbst?
Bunzl: In der Hoffnung auf eine Reduktion der Zahl der Terroranschläge
gibt es kurzfristig einen überwiegenden Konsens in Israel selbst.
Dieser wird aber nicht dauerhaft sein. Die Mauer symbolisiert ja
unübersehbar auch das Faktum der Isolation und Ghettoisierung. Und
auch die Hoffnung hinsichtlich der Abhaltung des Terrors ist trügerisch.
Die unannehmbaren alltäglichen Lebensituationen der PalästinenserInnen
verschärfen sich weiter, die Mauer wird daher auch zu keinen verträglicheren
Formen des Widerstands führen.
Der Oslo-Friedensprozess von 1993 wurde mit dem Regierungsantritt
Sharons endgültig zu Grabe getragen. Welche Vorleistungen müsste
Israel erbringen, damit ein Verhandlungsfriede überhaupt wieder
angedacht werden kann?
Bunzl: Es gibt keine allzu großen Unterschiede zwischen der Politik
der Arbeiterpartei und jener Sharons in Bezug auf die inhaltlichen
Ziele der Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Der wesentliche
Unterschied besteht allerdings darin, dass Sharon mit dem Argument,
es gäbe auf der anderen Seite keinen Gesprächspartner jeden Dialog
verhindert. Die Arbeiterpartei suchte einen Verhandlungsfrieden
auf Kosten der PalästinenserInnen. Sharon sucht lediglich deren
Kapitulation.
Wie sehen Sie die Rolle Europas? Inwiefern könnte die EU zugunsten
des Friedens eine stärkere Rolle spielen.
Bunzl: Ein massives Interesse der EU an einer Befriedung ist aber
sowohl aufgrund der sicherheitspolitischen Nachbarschaft zur Region
als auch aufgrund Ihrer wirtschaftlichen Interessen logisch. Die
EU ist ein ökonomischer Riese, aber ein politischer Zwerg. Hinzu
kommt, dass Israel die EU als einseitig pro-palästinensisch ablehnt.
Das bedeutet, dass die EU die USA in ihrer Gesamtverantwortung niemals
ersetzen kann, sehr wohl aber in Teilbereichen. Initiativen wie
jene des EU-Verantwortlichen für eine gemeinsame Sicherheits- und
Außenpolitik, Javier Solana, sind aber immer zu begrüßen, auch wenn
sie scheitern.
Es gibt naturgemäß eine enge Verknüpfung der Politik mit dem
Diaspora-Judentum. Liegt hier nicht eine Verantwortung der jüdischen
Gemeinden in Europa der Israelischen Politik und Gesellschaft
mehr Außensicht widerzuspiegeln und Ihnen ein Stück weit aus der
"Wagenburg-Mentalität" zu helfen?
Bunzl: Das ist eine schwierige Sache, weil Israel für die Juden
in aller Welt ein wichtiger Pfeiler ihrer Identität ist und letztlich
als gelungener Lösungsversuch der Probleme gesehen wird. Und dabei
ist man natürlich auch nicht frei von Überidentifikation, Mystifikation
und Tabuisierungen. Es gibt überall auf der Welt aufgrund der Geschichte
des Judentums in Europa eine grundsätzliche Solidarität der jüdischen
Gemeinden mit dem Projekt Israel. Das gilt vor allem für die kleinen
jüdischen Gemeinden hierzulande. In den großen jüdischen Gemeinschaften
Westeuropas, vor allem in Frankreich, fragt man sich aber doch zunehmend
besorgt, ob der Rolle Israels nicht unnotwendigerweise wesentlich
beiträgt zur Verschärfung der Auseinandersetzungen mit dem Islam.
Es gibt jedenfalls zunehmende Diskussionen in diesem Sinne. Nach
außen treten aber nur kleine Gruppen auf, wie etwa die Vereinigung
"European Jews for a Justice Peace". Das übrige spielt sich auf
der Ebene der stillen Diplomatie ab. Im Grunde sind die hier gegebenen
Mentalitäten vergleichbar mit jenen, die vor 1989 bei den alten
kommunistischen Parteien Westeuropas gegenüber Moskau gegeben waren.
Interview mit George Nicola: "Bush ging in die Falle Bin Ladens"
<
George Nicola: „Die Rechte der 1948 Vertriebenen sind eine der Kernfragen
einer Friedenslösung“
Zur Person: Dr. George Nicola, geb. 1945 in Jerusalem, Besuch
einer deutschen Schule in Bethlehem; seit 1968 in Wien; Studium
der Medizin; Facharzt für Anästhesie; betreibt eine Praxis für Schmerztherapie
und Alternativmedizin in Wien; Vizepräsident der Palästinensischen
Gemeinde in Österreich
Wie beurteilen Sie 1 ½ Jahre nach dem 2. Irakkrieg dessen
Auswirkungen auf den Konflikt Israel-Palästina?
Nicola: Man muss dabei unterscheiden: Einerseits bekam Sharon von
den USA freie Hand nach Belieben vorzugehen. Der Druck auf die Palästinenser
hat sich verstärkt. Die in Oslo angedachte 50:50-Lösung ist endgültig
tot. Langfristig aber haben sich die USA in ein großes Dilemma begeben.
Der Irak ist ein für die arabische Welt sehr wichtiges Land. Und
der Widerstand im Irak ist wesentlich größer als die USA erwartet
haben. Wenn man so will, haben sie sich in die Falle Osama Bin Ladens
begeben. Al Kaida hat im Irak Fuß gefasst, der Terrorismus ist gestärkt.
Diese Fehlkalkulation könnte längerfristig auch zu einer Schwächung
der USA und damit natürlich auch Israels führen.
Die bedingungslose Machtpolitik der Regierung Sharon hat innerhalb
der palästinensischen Gesellschaft zu einem Erstarken religiös-fundamentalistischer
Mentalitäten geführt und die eher laiizistisch orientierte Politik
Arafats in ein Dilemma gebracht. Welche Rolle kann die Person
Arafats für eine zukünftige Lösung des Konflikts überhaupt noch
spielen?
Nicola: Arafat zahlt den Preis dafür, das Diktat der USA in Camp
David nicht akzeptiert zu haben. Für die Breite und Stabilität der
Fatah spielt das aber keine Rolle. Gewiss, Hamas und Dschihad sind
stärker geworden, weil diese religiös motivierten Gruppen den Menschen
konkrete Hilfe boten bei der Lösung jener großen sozialen Probleme,
die in den letzten Jahren durch die Verschärfung des israelischen
Besatzungsregimes entstanden sind. Aber diese Gruppen sind Teil
der Fatah und stellen keine Gefährdung der innerpalästinensischen
Demokratie dar.
Wie beurteilen Sie die Politik der EU im Hinblick auf eine
mögliche Lösung des Konflikts?
Nicola: Die Europäer fühlen sich aufgrund ihrer Geschichte in einer
Schuld gegenüber Israel und zeigen sich daher in ihrer Politik gehemmt.
Andererseits sind sie unsere Nachbarn und haben als solche natürlich
ein großes Interesse am Frieden in Palästina. Die EU hat große Möglichkeiten
und sie macht auch schon sehr viel in Bezug auf einzelne Projekte.
Beispielsweise bin ich jetzt in Verhandlungen über ein von den Grünen
initiiertes Projekt des Baus einer Entsalzungsanlage. Wichtig wäre
aber, dass die EU nicht immer nach der Haltung der USA schielt,
sondern dass sie eine starke eigenständige Politik macht und von
Israel und den USA die Einhaltung des internationalen Rechts massiv
einfordert.
Wie beurteilen Sie den Mauerbau in seiner Auswirkung auf beide
Konfliktparteien?
Nicola: Die Mauer ist ein Symbol der rassistischen Idee, wonach
den Juden jedenfalls eine Mehrheit gesichert werden muss. Demgegenüber
vertrete ich die Gegenposition eines demokratischen Palästina zweier
Völker. Für die arabische Bevölkerung Palästinas bedeutet die Mauer
eine weitere Beschwernis ihres Alltagslebens. Für Wege, für die
man normalerweise 10 Minuten brauchen würde, braucht man plötzlich
Stunden. Mit der Mauer betreibt man auch weitergehenden Landraub.
Das Bearbeiten von Feldern jenseits der Mauer wird unmöglich gemacht.
Nach einem israelischen Gesetz gehört einem aber ein drei Jahre
unbenutztes Land nicht mehr.
Im Vorfeld der heutigen Diskussion in Graz wurde gegen Sie
in verschiedenen E-Mails der Vorwurf erhoben, Sie seien Antisemit.
Was sagen Sie dazu?
Nikola: Ich kenne diese Vorwürfe. Sie wurden teilweise aus einem
Interview in der Zeitschrift Falter abgeleitet. Das ist natürlich
schon deshalb Unsinn, weil ja Araber und Juden semitische Völker
sind. Ich bin auch kein Antijudaist. Aber ich bin Antirassist und
daher auch Antizionist.
Die Interviews führte Franz Sölkner
|