Der rasante, von Krieg und unglaublichen Grausamkeiten begleitete
Zerfall Jugoslawiens hat – unter anderem weil er mitten in
einem sich vereinigenden Europa stattfand – ein großes
Vakuum an Ratlosigkeit hinterlassen, das zum Teil durch Mythen aufgefüllt
wurde. Anlässlich der Erscheinung des Buches „Jugoslawien
– politische Ökonomie einer Desintegration“ lud
KORSO in Kooperation mit der Zeitschrift Ost-West-Gegeninformationen
und der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte
der Universität Graz dessen Autor, den Wirtschaftshistoriker
Rudy Weißenbacher, zu einer Präsentation
seines Werkes an die Uni Graz ein.
Vor zahlreich erschienenem, interessiertem Publikum entwickelte
Weißenbacher seine Thesen: Das sozialistische Jugoslawien
stand als peripheres Land in Abhängigkeit von den ökonomisch
entwickelten kapitalistischen Staaten, die Folgen der Verschuldung
verschärften diese Abhängigkeit. Nach zunächst fulminanten
Wachstumsraten in den fünfziger und sechziger Jahren wurden
Mitte der sechziger Jahre angesichts einer drohenden Rezession im
Rahmen so genannter „marktsozialistischer“ Reformen
wichtige Instrumente staatlicher Wirtschaftspolitik (Ressourcenallokation,
Finanzpolitik, Implementierung und Koordination der Wirtschaftspläne)
demontiert, und ökonomische Entscheidungen regionalisiert und
damit politisiert.
Die Verfassung von 1974 stärkte die Republiken und autonomen
Provinzen in einem Ausmaß, dass sie sich wie autonome Volkswirtschaften
zu verhalten begannen, auf Bundesebene waren nur mehr Konsensentscheidungen
möglich. Die Schere zwischen den reichen nördlichen und
den ärmeren südlichen Republiken öffnete sich zusehends,
gleichzeitig wuchs die Gesamtverschuldung: Das Wirtschaftswachstum
war im Wesentlichen durch das große internationale Kreditangebot
der 70er Jahre finanziert. Die Wende kam, als die internationalen
Banken anfingen, Kredite nur mehr zu variablen Zinssätzen zu
vergeben, die in der Folge rasch anstiegen. Wie alle anderen Schuldnerländer
wurde auch Jugoslawien den strengen Stabilisierungsprogrammen des
IWF unterworfen. Das Ergebnis: Verlangsamte Produktion, sinkender
Lebensstandard der Bevölkerung und eine scharfe Reduktion der
allgemeinen Investitionsaktivitäten und der Importe. In dieser
Situation – in der andere Schuldnerländer wie Argentinien
mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgingen –
setzten sich die Partikulärinteressen der einzelnen Republiks-Eliten
durch, die versuchten, ihre jeweils „eigene“ Bevölkerung
zu befrieden.
Weißenbacher: „Der IWF hatte Jugoslawien in der Pflicht,
aber die Republiken und Provinzen fühlten sich Jugoslawien
nicht mehr verpflichtet.“ Das ging bis zum Steuerboykott und
zur Umsetzung einer inflationären Geldpolitik, indem die Banken
auf Republikebene ihre Reserven für Lohnzahlungen einsetzten;
das gemeinsame monetäre System zerbrach, der Bundeshaushalt
1991 wurde vom jugoslawischen Parlament nicht mehr bewilligt. Im
November 1990 warnte die CIA vor dem Zerfall Jugoslawiens innerhalb
von 18 Monaten, dieser würde „wahrscheinlich von ethnischer
Gewalt und Unruhen begleitet sein, die in einen Bürgerkrieg
münden könnten“.
Weißenbacher stellte abschließend klar, dass die ökonomische
Erklärung für den Zerfall Jugoslawiens natürlich
nicht die einzige sei – vor allem müsse sie im Sinne
der politischen Ökonomie begriffen werden, die wirtschaftliche
Vorgänge in Verbindung mit politischen Entscheidungen analysiert,
die ihnen zugrunde liegen. Einwänden, dass andere periphere
Länder ebenso vor der Verschuldungsproblematik gestanden seien,
ohne dass sich daraus Bürgerkrieg und Sezession entwickelt
hätten, wurde in der Diskussion unter anderem mit dem Hinweis
begegnet, dass Versuche, den Zerfall des Vielvölkerstaates
auf den angeblichen historischen Hass zwischen seinen Nationalitäten
zurückzuführen, sehr viel mehr Fragezeichen übrig
ließen – schließlich hatten diese Völker
unter besseren ökonomischen Bedingungen Jahrzehnte lang friedlich
zusammengelebt.
– cs –
Rudy Weißenbacher: Jugoslawien. Politische Ökonomie einer
Desintegration. Wien: Promedia 2005, 496 Seiten, EUR 39,90
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