korso Global Corner
Das Informationsmagazin 
der Steiermark
 
04/2005
.................................................................................................................................................
    EU-Beitritt der Türkei: Codewort für Demokratie
Die EU-Reife der Türkei wird hierzulande heftig diskutiert. Wie aber sehen die Menschen in dem betroffenen Land ihre Situation? Eine Grazer Gruppe politisch Interessierter machte sich, organisiert von der Grünen Akademie, nach Istanbul auf, um dieser Frage nachzugehen.


Die Polizei ist in Alarmbereitschaft. Rund um den staubigen Platz in einem der ärmsten Viertel Istanbuls hat sie behelmt und schwer bewaffnet in einem engen Cordon Stellung bezogen. Doch weder dieses martialische Bild noch der eiskalte Wind können an diesem Sonntag, dem 20. März, die kurdische Bevölkerung der Bosporus-Metropole davon abhalten, ihr Frühlingsfest Newroz gemeinsam zu begehen. Zehntausende der etwa drei Millionen in dieser Stadt lebenden KurdInnen strömen herbei und geben ein kraftvolles politisches Lebenszeichen von sich. Transparente werden geschwungen und immer wieder sein Name skandiert, sein Foto gezeigt: Öcalan, der inhaftierte Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Überschäumende Freude beim kurdischen Newroz-Fest in Istanbul, das erst seit wenigen Jahren öffentlich gefeiert werden darf (Foto: Puschnigg)

Und mittendrin wir, eine Grazer Reisegruppe, die einzigen AusländerInnen am ganzen Gelände. Groß ist die Freude der Anwesenden. Spontan werden die Männer unter uns umarmt und geküsst, wir werden zum Tee eingeladen, Fernsehkameras und Mikrophone tauchen auf. EU-BürgerInnen bei einem politischen Event, der in den letzten Jahren meist blutig geendet hat – wenn das kein Aufbruchssignal in eine bessere Zukunft ist!

Spagat zwischen Nationalismus und Menschenrechten
Tatsächlich geht das Istanbuler Newroz in diesem Jahr gewaltlos wie kaum je zuvor zu Ende. Denn die Regierung in Ankara kann sich nicht noch ein Debakel leisten wie die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Demonstrantinnen am Weltfrauentag Anfang März. Die Fernsehbilder von Polizisten, die am Boden liegenden Frauen ins Gesicht treten, haben international für Aufsehen gesorgt. Nun muss die Türkei als Anwärterin auf die EU-Mitgliedschaft glaubhaft demonstrieren, dass sie ihre Menschenrechtsbilanz verbessern möchte.
Der Spagat zwischen diesem Anspruch und der jahrelang praktizierten nationalistischen Unterdrückung von Minderheiten ist Neuland für die Regierenden und nimmt manchmal groteske Züge an. Ein Vertreter der größten legalen kurdischen Partei in der Türkei DEHAP, die Mitglied der sozialistischen Internationale ist, berichtet von den Schikanen, mit denen im Vorfeld die Abhaltung der Newroz-Feierlichkeiten unterbunden werden sollten: In einigen türkischen Städten wurden Plakate und Flugzettel mit der Begründung verboten, dass Newroz mit „w“ geschrieben wird – einem Buchstaben, den es im Türkischen nicht gibt. Laut Parteiengesetz ist es nämlich verboten, in der politischen Werbung eine andere Sprache zu verwenden. Dies widerspricht allerdings der Verfassung, in der die Verwendung des Kurdischen ausdrücklich erlaubt ist.
Der DEHAP-Vertreter erhofft sich vom EU-Beitritt einen Demokratisierungsprozess. Wie mühsam dieser Weg in einem Land ist, dessen Bevölkerung jahrzehntelang vom „Vater der Nation“ Kemal Atatürk zu stolzen TürkInnen erzogen wurde, zeigt eine Szene am Rande des Newroz: Ein Lausbubenstreich von Halbwüchsigen, die eine türkische Fahne auf den Boden werfen, hat landesweite Folgen. Nicht nur der Zeitung „Hürriyet“ ist dieses „Verbrechen“ ein Aufmacher auf der Titelseite mit großem Foto wert, auch andere Medien sehen sich zu einer chauvinistischen Kampagne genötigt. Präsident Erdogan distanziert sich in einer Ansprache von der Tat. Als wir am nächsten Tag durch Istanbuls Straßen gehen, wehen an fast allen Hauswänden türkische Fahnen …

Rückschritte und kleine Erfolge mit großer Wirkung
Hier soll sich eine Anwalts-Kanzlei befinden? Wir zögern beim Eintritt in das Haus, das sich zwar gleich neben dem Galata-Turm im bürgerlichen Beyoglu-Viertel in bester Lage befindet, aber abbruchreif wirkt. Zweifelnd steigen wir die staubigen Stiegen mit dem desolaten Geländer empor. Doch wir sind richtig. Ugür Olca, Rechtsanwalt und Gründer des türkischen Menschenrechtsvereins, begrüßt uns herzlich in dem alten griechischen Haus, das er kürzlich erworben hat und nun langsam renovieren möchte. „Früher gab es Hunderttausende Griechen in dieser Stadt. Heute sind es nur mehr 1600“, stellt er einleitend den Bezug des Hauses zu seiner Tätigkeit als Anwalt für benachteiligte Gruppen her. 1923 wurde die griechische Bevölkerung nach Griechenland zwangsumgesiedelt, für den endgültigen Exodus der Minderheit sorgten Pogrome Mitte der 50er Jahre.

Menschenrechts-Anwalt Ugür Olca > Übersetzerin: Beitrittsoption hat vorsichtige Demokratisierung bewirkt, Terrorparanoia verursacht Rückschritte (Foto: Posch)

„Die Türkei konnte sich nie zu einem Rechtsstaat entwickeln, denn hier gab es keine bürgerlich-demokratische Revolution“, stellt Olca fest. 1950 geboren, musste er drei Militärputsche miterleben, die alle gegen die linke Opposition gerichtet waren. Seit Jahrzehnten kämpft er für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei. Seine Bilanz ist zwiespältig: Das neue Strafgesetzbuch, das am 1. April in Kraft getreten ist, beinhaltet teilweise Verschlechterungen für Minderheiten und die Pressefreiheit. Äußerungen gegen offizielle Positionen – wie etwa die Leugnung des Armenier-Genozids 1915 – können nun strafbar werden. Die Öffentlichkeit hält still, denn in alter totalitärer Manier wurden diese Gesetze durchgepeitscht, ohne der Opposition die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen. Undemokratische Vorgangsweisen wie diese sind leichter möglich seit es die internationale Sicherheits- und Terrordiskussion gibt. „Diese Terrorparanoia ist Butter auf dem Brot der Reaktionäre“, so der Anwalt.

Von mancher „kosmetischen Retusche in Liebe zur EU“ spricht Olca, ohne großen Errungenschaften der letzten fünf Jahre wie der Abschaffung der Todesstrafe, Gesetze zur Verhinderung von Folter oder der Anerkennung der kurdischen Sprache ihre Bedeutung nehmen zu wollen. Im öffentlichen Fernsehen werden nun täglich 15 Minuten in kurdischer Sprache gesendet. „Das ist nicht viel, aber es ist ein ganz wichtiger Tabubruch“, erläutert Ugür Olca diesen kleinen Erfolg mit großer Wirkung. Die Übersetzerin, eine ehemalige ZDF-Redakteurin: „Ich wollte in diesem Land mit seinen Repressionen nicht mehr leben. Aber seit es die Öffnung aufgrund der Beitrittsoption gibt, lohnt es sich wieder zu kämpfen.“
Im neuen Strafgesetzbuch werden die Ökologie und auch die Frauenrechte gestärkt. Bis diese rechtlichen Bestimmungen in den Köpfen der Exekutive ihren Platz gefunden haben, wird es allerdings noch dauern. Die Brutalität der Polizei bei der Frauendemonstration erklärt Olca mit einem Reflex gegen kurdische und linke Frauen: „Unbewusst stellen sich die Polizisten die Frage: Haben die protestierenden Frauen überhaupt die Erlaubnis ihrer Männer eingeholt? Bei Frauen mit Kopftuch ist so etwas noch nie vorgekommen.“

Frauenrechte: Mit einer Nadel einen Brunnen ausgraben
Das Engagement von Frauen für ihre Besserstellung ist so facettenreich wie die Frau in der Türkei selbst. Wir sind zu klassischer türkischer Musik und einem Mittagessen bei der islamischen Frauenplattform „Gikap Nedir“, die aus 43 Organisationen besteht, eingeladen. Finanziert wird sie durch Spenden, Mitgliedsbeiträge, Immobilienbesitz und die Abhaltung von Handwerks-Bazaren. In gediegenem Ambiente, das Wohlstand signalisiert, werden wir via Power-Point-Präsentation über Inhalt und Ziele der Plattform aufgeklärt: Besonders wichtig sind Gesundheit und Kindererziehung, eine gute Ausbildung für Frauen und weibliche Präsenz in politischen Entscheidungsgremien. Doch diese Frauen sind kein Stachel im Fleisch der Mächtigen. In ihren Statuten sind unter anderem die Paradigmen gegen Modernismus und Gleichheit und gegen die Schwächung der Frauen als Mütter festgeschrieben. Die anwesenden Frauen sind zu einem guten Teil Akademikerinnen, stammen aus dem bürgerlichen Milieu und präsentieren uns den Islam von einer relativ offenen, liberalen Seite. Tatsächlich scheint die Sorge um das Eindringen fundamentalistischer islamischer Strömungen in die EU durch die Türkei obsolet. Die Hälfte der anwesenden Frauen trägt kein Kopftuch. Sie hoffen auf einen EU-Beitritt für ihre frauenpolitischen Forderungen, für Reisefreiheit und eine bessere Völkerverständigung.

Journalistin, Schriftstellerin, Feministin Ayse Düzkan (re) Kritische Position gegenüber dem Beitritt

„Die islamischen Frauenorganisationen werden für die Gleichstellung der Frauen nicht viel bewirken“, analysiert Ayse Düzkan. Sie arbeitet seit 1983 als Journalistin, Schriftstellerin und musste als linke Aktivistin Gefängnis und Folter über sich ergehen lassen. Ihr Engagement als Frauenrechtlerin sieht sie nüchtern: „Es ist als ob man mit einer Nadel einen Brunnen ausgraben wollte“, zitiert sie ein türkisches Sprichwort. Immer noch werden Männer, die ihre Töchter und Schwestern für die „Familienehre“ töten, vor Gericht milder behandelt als andere Mörder. Immer noch werden Hochzeiten arrangiert und ist Gewalt gegen Frauen in der Familie ein Tabu.

Demokratie: frühestens in fünfzehn Jahren möglich
Ayse Düzkan ist unter unseren GesprächspartnerInnen die einzige, die gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist. Selbstbewusst erklärt sie: „Die Türkei braucht die EU nicht. Die EU braucht die Türkei als großen Markt mit Investitionsmöglichkeiten.“ Sie befürchtet, dass durch einen Rückgang der Landwirtschaft die Arbeitslosigkeit, besonders unter Frauen, explodieren könnte. „Die Türkei wird sich als EU-Mitglied nicht mehr selbst ernähren können“, prognostiziert die Journalistin.

Diese Sorge teilt Gabriele Michalitsch, Ökonomin und Politologin an der Wirtschaftsuniversität Wien, nicht: „Die Türkei ist schon lange kein Selbstversorger mehr. Seit zehn Jahren gibt es mehr landwirtschaftliche Importe als Exporte.“ Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung seien ohnehin äußerst unsicher. Viel mehr als die bei uns am häufigsten kolportierten ökonomischen Bedenken wiegt der menschenrechtliche Aspekt. „Für den EU-Beitritt zu sein ist in der Türkei der Codename für Demokratie“, stellt Murat Belge fest. Der Literaturwissenschaftler und Journalist gilt als einer der bekanntesten kritischen Intellektuellen im Land. Die dominante Rolle des Militärs und der starke Nationalismus sind für ihn Frankensteinsche Monster, über die erst wieder die Kontrolle erlangt werden müsse. Sein Resümee: „Frühestens in 15 Jahren ist Demokratie in der Türkei möglich. So lange wird es dauern, bis die Altlasten abgebaut sind.“ Die EU-Perspektive wird ein wichtiger Motor dafür sein.

– Eva Reithofer-Haidacher –

 

 

  Kampf der Kulturen: Den gibt es nicht! Eine Begriffsdefinition zwischen „Verschleierung ökonomischer Interessensgegensätze“ und „überspitzter Darstellung kulturalisierter Konflikte“


„Es gibt keinen Kampf der Kulturen.“ Darin waren sich die beiden Journalisten und Autoren Aydin Cubukcu (Türkei) und Robert Misik (D/Ö) einig. Dennoch herrschte bei der vom Grazer Verein Jukus im Rahmen der türkisch- kurdischen Büchertage organisierten Podiumsdiskussion nicht viel Übereinstimmung hinsichtlich der Bedeutung von Kultur und Ökonomie.

Kampf gegen Despotismus: Universalistische Position oder bloße Strategie?
Der Überzeugung Cubukcus „Der Anschlag vom 11. 9. 2001 hatte nur deshalb so weit reichende Folgen, weil er den USA half ihre wirtschaftlichen Interessen zu legitimieren“, hält Misik entgegen, dass „ein Angriff auf den Hegemon der westlichen Welt mit über 3000 Toten zu jeder Zeit und unter jeder Regierung eine Schockwelle ausgelöst hätte.“

Aydin Cubukcu ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Evrensel Kültür und Buchautor, Robert Misik ist Kolumnist und Autor von taz, profil und Falter und Buchautor.

Während Cubukcu in seinem Vortrag die Vorherrschaft der Ökonomie über die Kultur historisch erklärt und so zu dem Schluss kommt, dass Diskussionen über kulturelle Gegensätze immer nur die ökonomischen Interessen der Herrschenden verschleiern, versucht Misik den Kulturbegriff zu dekonstruieren. „Man muss auseinander halten, was überhaupt als Kultur bezeichnet wird. Einerseits gibt es den partikulären Kulturbegriff im allgemeinen Diskurs, mit dem lokale Spezifika gemeint sind. Und andererseits eine schwierige fachgerechte Definition.“

Von Cubukcu wurde in der Diskussion betont, dass gerade der Gegensatz zwischen Demokratie und Despotismus (als Teil eines Kulturgegensatzes) für die USA immer nur dann zum Thema gemacht werden, wenn sie lokale ökonomische Interessen haben. Wie zum Beispiel im Irak, wo Sadam Hussein jahrelang unterstützt wurde, um dann plötzlich als Despot gebrandmarkt zu werden. Dem gegenüber steht Misiks Kritik an multikulturalistischer Theorie und sein „Plädoyer für eine Wiedergewinnung einer linken universalistischen Position“. Eine solche Position geht von universellen Menschenrechten aus – und davon, dass despotische Herrschaft nie und in keiner Kultur zu akzeptieren ist.

Ein stabiles demokratisches Land?
Bei der Einschätzung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei wurden die Gegensätze zwischen den Diskutanten noch einmal deutlich.
Während der türkische Redner die Interessen der EU hauptsächlich in der Bereitstellung legaler billiger Arbeitskräfte sah, zeichnete Misik ein idealisiertes Bild der Türkei. „Die Türkei ist seit eineinhalb Jahrzehnten ein stabiles demokratisches Land, und dieser Modellcharakter der Türkei für andere islamische Länder ist wichtig. Mit Hilfe der Türkei als islamischem Land in der EU kann diese zeigen, dass sie nicht nur ein christliches Projekt ist.“ Misik widerspricht auch der Annahme, dass die türkischen Arbeiter einen hohen Preis für den EU-Beitritt bezahlen werden.

– Johanna Muckenhuber –

 

 

  Vortrag und Diashow: „Versöhnung und Zukunft“


Friedensarbeit in Chiapas (Mexiko) zwischen Weltwirtschaft und indigener Autonomie (mit Heike Kammer)

18. April (Mo), 19.30, Café Stockwerk, Jakominiplatz 18/II
Veranstalter: Libertad, Landesjugendreferat, Friedensbüro Graz, Grüne Akademie

Der jahrelange „Krieg niederer Intensität“, den die mexikanische Regierung im Dienst des Neoliberalismus gegen die indigenen Gemeinden führt, hat oft tiefe Gräben und erbitterte Feindschaft in den Dörfern hinterlassen. Heike Kammer versucht mit SIPAZ (Internationaler Friedensdienst) zwischen den Betroffenen zu vermitteln und über Methoden gewaltfreier Konfliktlösung eine Grundlage für Versöhnung und eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.

Mehr Infos: www.chiapas.at