Die Polizei ist in Alarmbereitschaft. Rund um den staubigen Platz
in einem der ärmsten Viertel Istanbuls hat sie behelmt und
schwer bewaffnet in einem engen Cordon Stellung bezogen. Doch weder
dieses martialische Bild noch der eiskalte Wind können an diesem
Sonntag, dem 20. März, die kurdische Bevölkerung der Bosporus-Metropole
davon abhalten, ihr Frühlingsfest Newroz gemeinsam zu begehen.
Zehntausende der etwa drei Millionen in dieser Stadt lebenden KurdInnen
strömen herbei und geben ein kraftvolles politisches Lebenszeichen
von sich. Transparente werden geschwungen und immer wieder sein
Name skandiert, sein Foto gezeigt: Öcalan, der inhaftierte
Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Überschäumende Freude beim kurdischen Newroz-Fest
in Istanbul,
das erst seit wenigen Jahren öffentlich gefeiert werden darf
(Foto: Puschnigg)
Und mittendrin wir, eine Grazer Reisegruppe, die einzigen AusländerInnen
am ganzen Gelände. Groß ist die Freude der Anwesenden.
Spontan werden die Männer unter uns umarmt und geküsst,
wir werden zum Tee eingeladen, Fernsehkameras und Mikrophone tauchen
auf. EU-BürgerInnen bei einem politischen Event, der in den
letzten Jahren meist blutig geendet hat – wenn das kein Aufbruchssignal
in eine bessere Zukunft ist!
Spagat zwischen Nationalismus und Menschenrechten
Tatsächlich geht das Istanbuler Newroz in diesem Jahr gewaltlos
wie kaum je zuvor zu Ende. Denn die Regierung in Ankara kann sich
nicht noch ein Debakel leisten wie die gewalttätigen Ausschreitungen
gegen Demonstrantinnen am Weltfrauentag Anfang März. Die Fernsehbilder
von Polizisten, die am Boden liegenden Frauen ins Gesicht treten,
haben international für Aufsehen gesorgt. Nun muss die Türkei
als Anwärterin auf die EU-Mitgliedschaft glaubhaft demonstrieren,
dass sie ihre Menschenrechtsbilanz verbessern möchte.
Der Spagat zwischen diesem Anspruch und der jahrelang praktizierten
nationalistischen Unterdrückung von Minderheiten ist Neuland
für die Regierenden und nimmt manchmal groteske Züge an.
Ein Vertreter der größten legalen kurdischen Partei in
der Türkei DEHAP, die Mitglied der sozialistischen Internationale
ist, berichtet von den Schikanen, mit denen im Vorfeld die Abhaltung
der Newroz-Feierlichkeiten unterbunden werden sollten: In einigen
türkischen Städten wurden Plakate und Flugzettel mit der
Begründung verboten, dass Newroz mit „w“ geschrieben
wird – einem Buchstaben, den es im Türkischen nicht gibt.
Laut Parteiengesetz ist es nämlich verboten, in der politischen
Werbung eine andere Sprache zu verwenden. Dies widerspricht allerdings
der Verfassung, in der die Verwendung des Kurdischen ausdrücklich
erlaubt ist.
Der DEHAP-Vertreter erhofft sich vom EU-Beitritt einen Demokratisierungsprozess.
Wie mühsam dieser Weg in einem Land ist, dessen Bevölkerung
jahrzehntelang vom „Vater der Nation“ Kemal Atatürk
zu stolzen TürkInnen erzogen wurde, zeigt eine Szene am Rande
des Newroz: Ein Lausbubenstreich von Halbwüchsigen, die eine
türkische Fahne auf den Boden werfen, hat landesweite Folgen.
Nicht nur der Zeitung „Hürriyet“ ist dieses „Verbrechen“
ein Aufmacher auf der Titelseite mit großem Foto wert, auch
andere Medien sehen sich zu einer chauvinistischen Kampagne genötigt.
Präsident Erdogan distanziert sich in einer Ansprache von der
Tat. Als wir am nächsten Tag durch Istanbuls Straßen
gehen, wehen an fast allen Hauswänden türkische Fahnen
…
Rückschritte und kleine Erfolge mit großer Wirkung
Hier soll sich eine Anwalts-Kanzlei befinden? Wir zögern beim
Eintritt in das Haus, das sich zwar gleich neben dem Galata-Turm
im bürgerlichen Beyoglu-Viertel in bester Lage befindet, aber
abbruchreif wirkt. Zweifelnd steigen wir die staubigen Stiegen mit
dem desolaten Geländer empor. Doch wir sind richtig. Ugür
Olca, Rechtsanwalt und Gründer des türkischen
Menschenrechtsvereins, begrüßt uns herzlich in dem alten
griechischen Haus, das er kürzlich erworben hat und nun langsam
renovieren möchte. „Früher gab es Hunderttausende
Griechen in dieser Stadt. Heute sind es nur mehr 1600“, stellt
er einleitend den Bezug des Hauses zu seiner Tätigkeit als
Anwalt für benachteiligte Gruppen her. 1923 wurde die griechische
Bevölkerung nach Griechenland zwangsumgesiedelt, für den
endgültigen Exodus der Minderheit sorgten Pogrome Mitte der
50er Jahre.
Menschenrechts-Anwalt Ugür Olca >
Übersetzerin: Beitrittsoption hat vorsichtige Demokratisierung
bewirkt, Terrorparanoia verursacht Rückschritte
(Foto: Posch)
„Die Türkei konnte sich nie zu einem Rechtsstaat entwickeln,
denn hier gab es keine bürgerlich-demokratische Revolution“,
stellt Olca fest. 1950 geboren, musste er drei Militärputsche
miterleben, die alle gegen die linke Opposition gerichtet waren.
Seit Jahrzehnten kämpft er für mehr Demokratie und Meinungsfreiheit
in der Türkei. Seine Bilanz ist zwiespältig: Das neue
Strafgesetzbuch, das am 1. April in Kraft getreten ist, beinhaltet
teilweise Verschlechterungen für Minderheiten und die Pressefreiheit.
Äußerungen gegen offizielle Positionen – wie etwa
die Leugnung des Armenier-Genozids 1915 – können nun
strafbar werden. Die Öffentlichkeit hält still, denn in
alter totalitärer Manier wurden diese Gesetze durchgepeitscht,
ohne der Opposition die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen.
Undemokratische Vorgangsweisen wie diese sind leichter möglich
seit es die internationale Sicherheits- und Terrordiskussion gibt.
„Diese Terrorparanoia ist Butter auf dem Brot der Reaktionäre“,
so der Anwalt.
Von mancher „kosmetischen Retusche in Liebe zur EU“
spricht Olca, ohne großen Errungenschaften der letzten fünf
Jahre wie der Abschaffung der Todesstrafe, Gesetze zur Verhinderung
von Folter oder der Anerkennung der kurdischen Sprache ihre Bedeutung
nehmen zu wollen. Im öffentlichen Fernsehen werden nun täglich
15 Minuten in kurdischer Sprache gesendet. „Das ist nicht
viel, aber es ist ein ganz wichtiger Tabubruch“, erläutert
Ugür Olca diesen kleinen Erfolg mit großer Wirkung. Die
Übersetzerin, eine ehemalige ZDF-Redakteurin: „Ich wollte
in diesem Land mit seinen Repressionen nicht mehr leben. Aber seit
es die Öffnung aufgrund der Beitrittsoption gibt, lohnt es
sich wieder zu kämpfen.“
Im neuen Strafgesetzbuch werden die Ökologie und auch die Frauenrechte
gestärkt. Bis diese rechtlichen Bestimmungen in den Köpfen
der Exekutive ihren Platz gefunden haben, wird es allerdings noch
dauern. Die Brutalität der Polizei bei der Frauendemonstration
erklärt Olca mit einem Reflex gegen kurdische und linke Frauen:
„Unbewusst stellen sich die Polizisten die Frage: Haben die
protestierenden Frauen überhaupt die Erlaubnis ihrer Männer
eingeholt? Bei Frauen mit Kopftuch ist so etwas noch nie vorgekommen.“
Frauenrechte: Mit einer Nadel einen Brunnen ausgraben
Das Engagement von Frauen für ihre Besserstellung ist so facettenreich
wie die Frau in der Türkei selbst. Wir sind zu klassischer
türkischer Musik und einem Mittagessen bei der islamischen
Frauenplattform „Gikap Nedir“, die aus 43 Organisationen
besteht, eingeladen. Finanziert wird sie durch Spenden, Mitgliedsbeiträge,
Immobilienbesitz und die Abhaltung von Handwerks-Bazaren. In gediegenem
Ambiente, das Wohlstand signalisiert, werden wir via Power-Point-Präsentation
über Inhalt und Ziele der Plattform aufgeklärt: Besonders
wichtig sind Gesundheit und Kindererziehung, eine gute Ausbildung
für Frauen und weibliche Präsenz in politischen Entscheidungsgremien.
Doch diese Frauen sind kein Stachel im Fleisch der Mächtigen.
In ihren Statuten sind unter anderem die Paradigmen gegen Modernismus
und Gleichheit und gegen die Schwächung der Frauen als Mütter
festgeschrieben. Die anwesenden Frauen sind zu einem guten Teil
Akademikerinnen, stammen aus dem bürgerlichen Milieu und präsentieren
uns den Islam von einer relativ offenen, liberalen Seite. Tatsächlich
scheint die Sorge um das Eindringen fundamentalistischer islamischer
Strömungen in die EU durch die Türkei obsolet. Die Hälfte
der anwesenden Frauen trägt kein Kopftuch. Sie hoffen auf einen
EU-Beitritt für ihre frauenpolitischen Forderungen, für
Reisefreiheit und eine bessere Völkerverständigung.
Journalistin, Schriftstellerin, Feministin Ayse Düzkan
(re)
Kritische Position gegenüber dem Beitritt
„Die islamischen Frauenorganisationen werden für die
Gleichstellung der Frauen nicht viel bewirken“, analysiert
Ayse Düzkan. Sie arbeitet seit 1983 als Journalistin,
Schriftstellerin und musste als linke Aktivistin Gefängnis
und Folter über sich ergehen lassen. Ihr Engagement als Frauenrechtlerin
sieht sie nüchtern: „Es ist als ob man mit einer Nadel
einen Brunnen ausgraben wollte“, zitiert sie ein türkisches
Sprichwort. Immer noch werden Männer, die ihre Töchter
und Schwestern für die „Familienehre“ töten,
vor Gericht milder behandelt als andere Mörder. Immer noch
werden Hochzeiten arrangiert und ist Gewalt gegen Frauen in der
Familie ein Tabu.
Demokratie: frühestens in fünfzehn Jahren möglich
Ayse Düzkan ist unter unseren GesprächspartnerInnen die
einzige, die gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist. Selbstbewusst
erklärt sie: „Die Türkei braucht die EU nicht. Die
EU braucht die Türkei als großen Markt mit Investitionsmöglichkeiten.“
Sie befürchtet, dass durch einen Rückgang der Landwirtschaft
die Arbeitslosigkeit, besonders unter Frauen, explodieren könnte.
„Die Türkei wird sich als EU-Mitglied nicht mehr selbst
ernähren können“, prognostiziert die Journalistin.
Diese Sorge teilt Gabriele Michalitsch, Ökonomin
und Politologin an der Wirtschaftsuniversität Wien, nicht:
„Die Türkei ist schon lange kein Selbstversorger mehr.
Seit zehn Jahren gibt es mehr landwirtschaftliche Importe als Exporte.“
Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung seien ohnehin äußerst
unsicher. Viel mehr als die bei uns am häufigsten kolportierten
ökonomischen Bedenken wiegt der menschenrechtliche Aspekt.
„Für den EU-Beitritt zu sein ist in der Türkei der
Codename für Demokratie“, stellt Murat Belge
fest. Der Literaturwissenschaftler und Journalist gilt als einer
der bekanntesten kritischen Intellektuellen im Land. Die dominante
Rolle des Militärs und der starke Nationalismus sind für
ihn Frankensteinsche Monster, über die erst wieder die Kontrolle
erlangt werden müsse. Sein Resümee: „Frühestens
in 15 Jahren ist Demokratie in der Türkei möglich. So
lange wird es dauern, bis die Altlasten abgebaut sind.“ Die
EU-Perspektive wird ein wichtiger Motor dafür sein.
– Eva Reithofer-Haidacher –
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„Es gibt keinen Kampf der Kulturen.“ Darin waren sich
die beiden Journalisten und Autoren Aydin Cubukcu (Türkei)
und Robert Misik (D/Ö) einig. Dennoch herrschte bei der vom
Grazer Verein Jukus im Rahmen der türkisch- kurdischen Büchertage
organisierten Podiumsdiskussion nicht viel Übereinstimmung
hinsichtlich der Bedeutung von Kultur und Ökonomie.
Kampf gegen Despotismus: Universalistische Position oder
bloße Strategie?
Der Überzeugung Cubukcus „Der Anschlag vom 11. 9. 2001
hatte nur deshalb so weit reichende Folgen, weil er den USA half
ihre wirtschaftlichen Interessen zu legitimieren“, hält
Misik entgegen, dass „ein Angriff auf den Hegemon der westlichen
Welt mit über 3000 Toten zu jeder Zeit und unter jeder Regierung
eine Schockwelle ausgelöst hätte.“
Aydin
Cubukcu ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Evrensel
Kültür und Buchautor, Robert Misik ist Kolumnist und Autor
von taz, profil und Falter und Buchautor.
Während Cubukcu in seinem Vortrag die Vorherrschaft der Ökonomie
über die Kultur historisch erklärt und so zu dem Schluss
kommt, dass Diskussionen über kulturelle Gegensätze immer
nur die ökonomischen Interessen der Herrschenden verschleiern,
versucht Misik den Kulturbegriff zu dekonstruieren. „Man muss
auseinander halten, was überhaupt als Kultur bezeichnet wird.
Einerseits gibt es den partikulären Kulturbegriff im allgemeinen
Diskurs, mit dem lokale Spezifika gemeint sind. Und andererseits
eine schwierige fachgerechte Definition.“
Von Cubukcu wurde in der Diskussion betont, dass gerade der Gegensatz
zwischen Demokratie und Despotismus (als Teil eines Kulturgegensatzes)
für die USA immer nur dann zum Thema gemacht werden, wenn sie
lokale ökonomische Interessen haben. Wie zum Beispiel im Irak,
wo Sadam Hussein jahrelang unterstützt wurde, um dann plötzlich
als Despot gebrandmarkt zu werden. Dem gegenüber steht Misiks
Kritik an multikulturalistischer Theorie und sein „Plädoyer
für eine Wiedergewinnung einer linken universalistischen Position“.
Eine solche Position geht von universellen Menschenrechten aus –
und davon, dass despotische Herrschaft nie und in keiner Kultur
zu akzeptieren ist.
Ein stabiles demokratisches Land?
Bei der Einschätzung der Beziehungen zwischen der EU und der
Türkei wurden die Gegensätze zwischen den Diskutanten
noch einmal deutlich.
Während der türkische Redner die Interessen der EU hauptsächlich
in der Bereitstellung legaler billiger Arbeitskräfte sah, zeichnete
Misik ein idealisiertes Bild der Türkei. „Die Türkei
ist seit eineinhalb Jahrzehnten ein stabiles demokratisches Land,
und dieser Modellcharakter der Türkei für andere islamische
Länder ist wichtig. Mit Hilfe der Türkei als islamischem
Land in der EU kann diese zeigen, dass sie nicht nur ein christliches
Projekt ist.“ Misik widerspricht auch der Annahme, dass die
türkischen Arbeiter einen hohen Preis für den EU-Beitritt
bezahlen werden.
– Johanna Muckenhuber –
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