Ein Meer von Gesichtern: Anberaumt war das diesjährige World Social
Forum für die Tage vom 26. bis 31. Jänner. Den Auftakt bildete eine
Demonstration durch die Stadt, an der laut den OrganisatorInnen
200.000 Menschen aus 135 Ländern teilnahmen. Es gibt wohl niemanden,
der sich von einer solchen Menge, die die Straßen von Porto Alegre
füllte, unbeeindruckt zeigen kann, und nicht wenige stellten sich
wahrscheinlich die Frage, wie es denn sein kann, dass wir noch immer
in einer Welt der Armut, des Krieges und der Ausbeutung leben, wo
doch so viele in Opposition zu diesen Verhältnissen stehen …
Soziale Bewegungen, Globalisierungskritiker, „Promis“ wie Venezuelas
Präsident Chavez …
die ganze Breite der Hoffnungsträger für eine Welt ohne Ausbeutung
und Krieg traf sich in Porto Alegre
Zahlenmäßig dominiert wurde die Demonstration dem Ort entsprechend
von Gruppen aus Lateinamerika, und hier im Besonderen von solchen
aus Brasilien. Letztere setzten mit ihren Sprechchören und ihren
Transparenten ein Thema auf die Agenda, das in den darauf folgenden
Tagen immer wieder – in teils lautstarken Auseinandersetzungen –
zur Diskussion stand: Die Reformpolitik des brasilianischen Präsidenten
Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Er war der viel umjubelte Star
der vergangenen Jahre, seine Partido dos Trabalhadores (PT; „Arbeiterpartei“)
und ihre partizipatorische Verwaltung in Porto Alegre, der Hauptstadt
des Bundesstaates Rio Grande do Sul, hatten die globalen sozialen
Bewegungen überhaupt erst hierher gebracht. Aber die Zeiten haben
sich geändert. Stadt und Staat haben mittlerweile eine konservative
Verwaltung, Lulas PT scheint sich dem Druck des Internationalen
Währungsfonds und der Welthandelsorganisation zu beugen und die
mit Hoffnung erwarteten Reformen beschränken sich auf Aktionen wie
„Zero Fame!” (Kein Hunger!). Viele sehen darin jedoch nur eine populistische
Antwort auf den Druck, der seitens der Basis der PT entsteht, und
auf den Druck, den die WählerInnen ausüben, von denen sich immer
mehr enttäuscht von Lula abwenden. Ein weiteres sehr präsentes Thema
in den Straßen von Porto Alegre war der Protest gegen den Krieg
im Irak und die US-amerikanische Außenpolitik insgesamt. Nicht selten
solidarisierte man sich dabei jedoch völlig vorbehaltlos mit dem
irakischen Widerstand, ohne danach zu fragen, von welchen Kräften
dieser zumindest zum Teil getragen wird.
Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen
Nach diesem „Warm Up“ am ersten Tag begannen die Diskussionen, Workshops
und Vorträge. Allein im offiziellen Programm waren unglaubliche
2.000 Veranstaltungen angekündigt, die in elf thematische Felder
aufgeteilt waren. Diese elf Bereiche spannten den Bogen von „Frieden
und Demilitarisierung“ über „Kunst und Kultur des Widerstands“ bis
zu „Sozialen Kämpfen und demokratische Alternativen“. Daneben gab
es noch unzählige Veranstaltungen und Aktionen, die außerhalb des
offiziellen Programms vonstatten gingen. Dabei wurde auch deutlich,
dass die Kritik, die im Vorfeld an den OrganisatorInnen geübt wurde,
nämlich dass Entscheidungen im WSF intransparent seien und sich
hier neue Hierarchien bilden, sicherlich berechtigt ist, aber in
der Realität ins Leere läuft, weil sich vor Ort eine Dynamik entwickelt,
die jede inhaltliche Kontrolle und Beeinflussung von oben unmöglich
macht. Statt dessen öffnet sich ein Raum, in dem sich bestehende
Kontakte und Netzwerke festigen und neue entstehen können. In den
inhaltlichen Veranstaltungen wurde allerdings überaus deutlich,
dass die Unterschiede in den Bewegungen größer nicht sein könnten,
da sich die Beiträge in der Breite von Kampagnen wie dem „Global
Call to Action Against Poverty”, die doch eher als nette Bitte an
die Staatschefs daherkommt, sie mögen die Armut in den Griff bekommen,
bis hin zu Gruppen wie den Arbeitslosenbewegungen aus Argentinien
bewegte, die sich auf ihre Projekte der Autonomie konzentrieren
und den Glauben, staatliche Institutionen wären ein Teil der Lösung,
nach Jahren der Militärdiktatur und der neoliberalen Regierungen
unter Menem längst aufgegeben haben. Sehr umtriebig unterstützt
wurden sie in darin auch von John Holloway, einem neomarxistischen
Theoretiker, der mit seiner Aufforderung und dem gleichnamigen Buch
„Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ immer wieder für
Begeisterung sorgte. Diese Tage der Auseinandersetzung waren auch
insofern notwendig, als viele Themen reflektierter behandelt werden
konnten. So wurde beispielsweise der plumpe Anti-Amerikanismus der
Eröffnungsdemo von Gruppen aus Afrika konterkariert: Für sie stellt
die expansive Außenpolitik der Europäischen Union das Hauptproblem
dar, und sie haben vielmehr darunter zu leiden, dass es europäische
Konzerne sind, welche die Privatisierungspolitik am afrikanischen
Kontinent vorantreiben.
„Ole, ole Chavez“
Ganz ohne Stars konnte das WSF aber auch dieses Jahr nicht auskommen.
Lula hatte sich zu sehr diskreditiert, dafür war ein anderes Staatsoberhaupt
gekommen: Hugo Chavez, Präsident der Bolivarianischen Republik
Venezuela, war zum für ihn „wichtigsten politischen Ereignis des
Jahres“ angereist und lud in das bis auf den letzten Platz gefüllte
Gigantinho-Stadion. Die Menge musste lange auf „ihren“ Präsidenten
warten, doch die aus dem Fußballstadion bekannte Welle und Gesänge
wie „Ole, ole, Chavez” sorgten für Kurzweil. Ignacio Ramonet,
Herausgeber der „Le Monde diplomatique“ und Mitbegründer der globalisierungskritischen
Bewegung von Attac, bediente die Menge mit einer überschwänglichen
Lobesrede auf seinen guten Freund, den Präsidenten, und der Aufzählung
von sechs Gründen, warum dieser einen Politiker neuen Typs verkörpere.
Chavez, der unter tobendem Applaus die Bühne betrat, bewies in der
Folge, dass er eine überaus charismatische Persönlichkeit ist, der
die ZuhörerInnen durch seinen Witz und seine Beschwörungen eines
starken und unabhängigen Lateinamerikas begeistern konnte. Aber
trotz seiner schauspielerischen Qualitäten und vieler inhaltlich
treffender Aussagen wurde man das Gefühl nicht los, dass Porto Alegre
eigentlich der Ort sein sollte, wo man sich eher mit dem „bolivarianischen
Prozess“ und den sozialen Bewegungen in Venezuela beschäftigen als
sich Hoffnungen in neue Führerfiguren hingeben sollte. In Porto
Alegre wurden schließlich auch wichtige Entscheidungen über die
Zukunft des WSF getroffen. Im kommenden Jahr soll es nicht an einem
Ort stattfinden, sondern dezentral auf allen Kontinenten. 2007 wird
das WSF schließlich in Afrika stattfinden.
Leo Kühberger
Mag. Leo Kühberger ist Historiker und besuchte für KORSO und
„Radio Helsinki 92,6 MHZ” das World Social Forum in Porto Alegre.
www.forumsocialmundial.org.br/
Eine Stimme für jene, die sonst nicht gehört werden.
Nach einer einjährigen Unterbrechung, in der das „World Social Forum“
(WSF) in Mumbai/Indien abgehalten wurde, kehrte es 2005 wieder dorthin
zurück, wo alles vor mittlerweile fünf Jahren begonnen hatte, in
den Süden Brasiliens, nach Porto Alegre. Damals beim ersten Forum
im Jahr 2001, das mit 25.000 TeilnehmerInnnen noch in einem viel
kleineren Rahmen stattfand, hätten wohl die wenigsten erwartet,
welche Dimensionen die Sozialforen annehmen würden, die sich mittlerweile
über den gesamten Globus ausgebreitet haben; neben dem weltweiten
Treffen sind unzählige regionale und lokale Initiativen und Treffen
entstanden. Eine andere Welt, die in den Köpfen und im Leben der
Beteiligten jedoch sehr unterschiedlich aussehen kann, aber sich
auf alle Fälle von jener Welt unterscheidet, die sich die selbst
ernannten „global leaders“ beim zeitgleich stattfindenden „World
Economic Forum“ (WEF) in Davos vorstellen. Das WEF versinnbildlichte
für viele die neue Weltordnung am besten und eindringlichsten, weil
hier versucht wird VertreterInnen aus Politik, Wirtschaft, Medien
und Wissenschaft an einen Ort zu bekommen, um deren Politik aufeinander
abzustimmen und Entscheidungen, die dann anderswo umgesetzt werden,
vorzubereiten. Porto Alegre sollte wiederum jene versammeln, die
von dieser Politik betroffen sind und dagegen kämpfen; jene, die
üblicherweise nicht gehört werden, wollten sich durch das Forum
eine Stimme verschaffen.
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Sie waren schon 2002 und 2003 beim World Social Forum. Wie hat
es sich in Ihren Augen in den letzten Jahren verändert?
Es gibt zwei Dinge, die dieses Jahr anders sind, und beide halte
ich für positiv. Das eine ist, dass man sich dieses Jahr weniger
auf die prominenten RednerInnen konzentriert, weil es in Porto Alegre
sehr oft der Fall war, dass es die ganz großen prominent besetzten
Veranstaltungen gab und niemand ging zu den kleinen Workshops. Das
zweite ist die Tatsache, dass man thematische Bereiche organisiert
hat wie jenen über „soziale Kämpfe“. Dadurch ist die Chance viel
höher mit anderen Leuten zusammenzukommen, die in ähnlichen Bereichen
arbeiten.
In Ihrem und Negris jüngstem Buch „Multitude“*) wird behauptet,
dass die Frage nicht darin besteht, was die Multitude ist, sondern
was die Multitude werden kann. Wie ist da Ihr Eindruck vor Ort?
Man sieht einerseits viele neue Bewegungen und neue Formen der
Politik, aber genauso gibt es sehr vieles an traditioneller Organisierung,
so wie zum Beispiel hier viele Parteien vertreten sind.
Ja, und dann gibt es noch viele Parteien, die sich als Bewegungen
verkleiden! Ich denke, dass man in Porto Alegre, bei den regionalen
Sozialforen und auch in den Bewegungen selbst eine Idee davon bekommen
kann, was die Multitude werden könnte. Aber es wäre wiederum falsch,
und das meine ich durchaus auch selbstkritisch, dem zu viel Gewicht
zu geben, denn wenn wir uns darum bemühen globale Alternativen zu
schaffen, dann passiert das in einem viel größeren Umfang. Da geht
es dann um die Praxis des Alltags und nicht nur um diese kleinen
Gruppen aus der ganzen Welt, die hier zusammen kommen. Für Toni
Negri und mich ist es sehr wichtig den Schwerpunkt auf die Arbeit
zu legen, darauf, was die Menschen in ihrem Arbeitsalltag tun und
wie die neue Qualität der Arbeit und die neuen Fähigkeiten, die
in der Arbeit geschaffen werden, diese neuen Verbindungen, diese
neuen Formen der politischen Subjektivität und der Organisierung
erst möglich machen.
Beim Lesen von „Multitude“ hatte ich den Eindruck, dass es
unter dem Eindruck des Protestes gegen den G-8-Gipfel in Genua
oder der Revolte in Argentinien im Jahr 2001 geschrieben wurde.
Nach Genua ging es aber mit den Bewegungen wieder bergab …
Wir befinden uns jetzt in einer anderen Situation.
Aber in welcher Situation befinden wir uns jetzt?
Jetzt? We are fucked! Aber gehen wir noch mal zurück. Das eine
ist mal Genua. Schon damals hatten Toni Negri und ich sehr viel
über das Thema Krieg, neue Formen des Kriegs und des Bürgerkrieges
nachgedacht, aber nach dem 11. September, der Invasion in Afghanistan
und dem Krieg gegen den Irak wurde der Krieg immer präsenter, als
eine unvermeidbare Realität, der wir uns stellen müssen. Eine schreckliche
Realität, die uns zwingt uns auf den Kampf gegen den Krieg zu konzentrieren;
damit werden andere wichtige politische Themen in den Hintergrund
gerückt. In den USA war das sicher noch schlimmer als in Europa.
Im Moment scheint mir sehr produktiv zu sein, was in Europa passiert,
etwa die Bewegungen, die sich gegen prekäre Arbeit wenden, wie die
„intermittents“ in Frankreich oder die Planungen für einen MayDay
der prekarisierten ArbeiterInnen. Das scheint mir alles sehr viel
versprechend zu sein. Auch weil man sich damit in einem so schwierigen
Moment auf etwas sehr Praktisches konzentriert. Im Moment befinden
wir uns ja zweifellos nicht in einer Zeit des großen Enthusiasmus
und der Hoffnung.
Zur Situation in den USA: Für mich war es etwas überraschend,
dass sich bei der letzten Wahl die Frage so sehr auf „Kerry oder
Bush“ zuspitzen konnte. Mir wäre auch Kerry lieber gewesen, aber
es war doch keine Wahl zwischen zwei wirklichen Alternativen.
Das ging bis zu Slogans wie „Vote or Die!“.
Ich hab’ das auch überraschend gefunden. Ich würde nicht sagen,
und ich habe das auch nicht vor der Wahl gesagt, dass es egal wäre
und keinen Unterschied machen würde. Wir wären in den USA und vor
allem auch außerhalb der USA mit Kerry besser dran. Jetzt hingegen
sind wir mit einer idio-tischen und repressiven Macht konfrontiert.
Aber es stimmt schon, dass auch radikalere Teile der Bewegungen
von dieser falschen Alternative eingenommen wurden.
Abschließend würde ich noch gern wissen, ob Sie trotz allem
noch immer so optimistisch sind wie es in den Büchern von Hardt/Negri
zum Ausdruck kommt?
Ja sicher. Ist es nicht so, wenn man in die Geschichte blickt:
Immer, wenn es ein neues Regime gab, fanden Menschen einen Weg,
Widerstand zu leisten. Es gibt wirklich keinen Grund zu glauben,
dass sich das heute geändert hätte und wir keine neuen Formen des
Widerstands finden würden. Ich denke, dass wir dort weitermachen
werden, wo wir stehen geblieben sind, wo wir in Seattle, in Genua
oder am 15.2.2003 standen. Wir werden nicht dahinter zurückfallen,
sondern wir befinden uns bloß in einer Phase zwischen zwei Schritten
nach vorne. Man kann das Optimismus nennen, für mich ist es bloß
Realismus.
*) Unter Multitude verstehen Hardt und Negri die – vielgestaltigen
– Massen der Weltbevölkerung, die im Gegensatz zum Regime der Profiteure
der Globalisierung stehen.
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