10/2000
   „Jedenfalls muss auch diese Wahrheit unter das Volk kommen“
Wie ein Grazer Kellner die Welt über den Pogrom in Graz 1938 informieren wollte
 
  „Sehr geehrter Herr Chefportier! Bitte sind Sie so lieb und schicken Sie diesen Brief auf irgendeine Weise zu der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.” Mit diesem Vermerk war ein Brief an den Chefportier des Hotel Commodor in Paris versehen, den die deutsche Grenzüberwachungsstelle im November 1938 abfing. Was sie darin fand, sollte dem Schreiber dieser Zeilen, dem Grazer Pförtner Adolf Stengl, zum Verhängnis werden.

Der 1885 geborene Adolf Stengl war durch viele Jahre hindurch in verschiedenen europäischen Ländern als Kellner tätig gewesen, ehe er sich 1924 in Graz niederließ, wo er im „Grand Hotel Elefant” (heute ÖGB-Haus am Südtirolerplatz) als Zimmerkellner bzw. als Hausdiener wirkte. Als nach dem „Anschluss” Österreichs im August die Wehrmacht das Hotel übernahm und in ihr die Wehrersatz-Inspektion einrichtete, wurde Stengl mit niedrigerem Gehalt als Pförtner behalten. Stengl, der bis zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei ihrer Gewerkschaft angehört hatte, war ob dieser Schlechterstellung so erbost, dass er mehrere Protestbriefe – u.a. an die Deutsche Arbeitsfront nach München, an Reichskommissar Bürckel und die Nationalzeitung – schrieb. Unterschrieben hatte er diese mit den Pseudonymen A. Kowatsch, Ed. Planner und Rob. Bruckner.

„Einige Zeilen aus Graz in der Steiermark”
Mit Rob. Bruckner war auch der Brief nach Paris gezeichnet. 
Diesen Brief hatte Stengl am 10. November 1938 geschrieben, als die nationalsozialistische Presse unter dem Titel „Brand im Grazer Judentempel” folgenden Bericht erstattete: 
„Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten von Rath haben sich im ganzen Reich spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. Die tiefe Empörung des Volkes machte sich dabei auch vielfach in starken antijüdischen Aktionen Luft. Auch in Graz ist die Erbitterung zur Siedehitze gestiegen und in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ist diese Empörung zur Explosion geraten. Das israelitische Bethaus am Grieskai, kurz der Judentempel, wurde von empörten Menschenmassen gestürmt und ging dann in Flammen auf. Die Kuppel des Tempels ist eingestürzt, was sich im Tempel befunden hat, ist verbrannt. Auch das Haus der israelitischen Kultusgemeinde und das anliegende jüdische Schulhaus wurden beschädigt und am Donnerstag musste die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof der Erbitterung der Massen weichen.”
 

Auch die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof blieb 
am 9. November nicht vor der Zerstörungswut 
der Nazis verschont

Empörung über diese Schandtat veranlasste unmittelbar nach dem 10. November unabhängig voneinander einige Grazer bzw. Grazerinnen zur Schreibmaschine zu greifen. So schrieb am 11. November der Grazer Theologe Johannes Ude einen Brief an den Gauleiter Uiberreither, in dem er seiner Empörung Ausdruck gab und „die banditenartigen, im gesamten Deutschen Reich, wie es scheint, wohlorganisierten, in einer einzigen Nacht verübten Überfälle auf die jüdischen Synagogen, auf die jüdischen Zeremonienhallen und auf die jüdischen Geschäfte” auf das Schärfste verurteilte. 

Auf einem Flugblatt der KPÖ konnte man wiederum im November 1938 lesen: „Wollen wir das? Dass der innere Friede in Deutschland so aussieht, dass im Auftrage der braunen Unterdrücker Menschen grauenvoll misshandelt und Kulturstätten niedergebrannt werden, nachdem man sie vorher beraubt hat? Dass die deutsche Kultur Formen annimmt, deren man sich im Mittelalter geschämt hätte? Wollen wir das?”

Und Adolf Stengl alias Rob. Bruckner versuchte zwischen dem 10. und 26. November vier Briefe nach Paris, London und Moskau zu schicken, die alle mehr oder weniger den gleichen Inhalt hatten und alle abgefangen wurden. Darin hieß es: „Erlaube mir einige Zeilen aus Graz in der Steiermark zu senden. Als am 9. November im Reich und in Österreich ein großer Umzug war, sind am Abend die SS und SA beeidet worden. Weil die einen beeidet wurden, haben die Hitlerjugend den jüdischen Tempel angezündet und haben jüdische Geschäfte geplündert und jüdische Wohnungen ausgeraubt. Sogar den Tempel am Friedhof haben die Hitlerjugend angezündet. So etwas schreiben die Deutschen Zeitungen nicht. Das sind ja Einbrecher, und solche Leute straft man nicht. Was wird da das Ausland dazu sagen. Es sind in Graz Juden, die schon 30, 40, 60 und 70 Jahre am Platz sind. Auch diesen Juden hat man die Wohnungen und Geschäfte ausgeraubt am Tage des neunten November in der Nacht. Man muss sich als anständiger Bürger schämen, dass man Österreicher ist (und jetzt natürlich Deutscher). So etwas hat es im alten Österreich nicht gegeben. Jedenfalls muss auch diese Wahrheit unter das Volk kommen, damit die Fremden wissen, was wir jetzt für eine Jugend haben. Der Tempel ist ebenso ein Gotteshaus wie die Katholische Kirche. Und so etwas tut man nicht. Aber die Deutschen machen es doch. Hoffentlich geben sie das im Radio bekannt, wie wir jetzt in Österreich aussehen.”

Sechs Jahre Haft für die Verbreitung der Wahrheit
Obwohl oder weil er das Pseudonym Rob Bruckner verwendete kam man ihm rasch auf die Schliche. Bereits am 2. Dezember wurde er verhaftet und vom Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof angeklagt. Aufwändige Schriftenvergleiche der Schreibmaschinen, Übereinstimmungen bei Nachtdienstzeiten Stengls und damit der ungehinderten Zugangsmöglichkeit zur Schreibmaschine der Wehrersatz-Inspektion und dem jeweiligen Aufgabedatum der Briefe und die Verwendung des Pseudonyms, dass er auch schon in seinen Protestbriefen verwendet hat, überführten ihn schließlich. 

Als er am 2. April 1940 vor dem Volksgerichtshof stand, war der Theologe Johannes Ude bereits aus der Steiermark verbannt. Nachdem nämlich sein Brief an Uiberreither auch in der Pariser Zeitschrift „Nouvelles d‘Autriche” im Februar 1939 erschienen war, wurde Ude zur Gestapo vorgeladen und zur Strafe nach Oberösterreich versetzt. Die Schreiberin des KP-Flugblattes wartete auf ihre Verhandlung wegen Vorbereitung zum Hochverrat, wo sie nur wenige Tage nach dem Urteilsspruch gegen Stengl zu zwei Jahre und zwei Monaten Haft verurteilt wurde.

Adolf Stengl, der bis zuletzt leugnete, wurde wegen „versuchten Volksverrates” zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Damit verliert sich seine Spur. Ob er die Haft überlebt hat, ist ungewiss. 
 

 
Heimo Halbreiner
 
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