02 / 2001
 
Vergessene Opfer – gefeierte Täter: NS-Euthanasie in der Steiermark (II)

Wie im ersten Teil dieser Reportage  dargestellt, wurden mehr als 1500 Kinder und Erwachsene Opfer der NS-Euthanasie in der Steiermark. Nach Kriegsende kam es allerdings zu keiner Aufarbeitung dieser schrecklichen Vorkommnisse. Im Gegenteil: ein in die Kindermorde Involvierter wurde sogar zum Anstaltsdirektor der Heil- und Pflegeanstalt Feldhof in Graz bestellt, andere Verantwortliche noch im Jahre 1974 in einer Festschrift des Landessonderkrankenhauses gewürdigt. Erst die Aufsehen erregende ORF-Dokumentation „Unwertes Leben“ von Peter Nausner brachte 1984 erstmals Licht ins Dunkel dieser verdrängten Periode der steirischen Geschichte. Es ist dem nunmehrigen ärztlichen Direktor der heutigen Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF), Univ. Prof. Dr. Rainer Danzinger, zu verdanken, dass sich die Institution seit einigen Jahren selbst ihrer Vergangenheit stellt. Dennoch: weiterhin fehlt es an einer breiteren öffentlichen Diskussion über die Vorgänge vor und nach 1945 und immer noch gibt es in Graz kein öffentliches Zeichen des Gedenkens an die Opfer der NS-Euthanasie. 

Nach dem Ende der NS-Herrschaft gab es in der Steiermark, aber auch im restlichen Österreich, nur eine kurze Phase, in der eine ernsthafte Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Systems betrieben wurde. 
Gerade im Bereich der NS-Euthansie verhinderten mehrere Faktoren eine Beschäftigung mit dem Geschehenen, etwa die Befürchtung, dass durch das Bekanntwerden der Täterschaft vieler Ärzte das Vertrauen in die Medizin generell leiden könnte. 

Opfer nicht ernst genommen

Zum anderen zählen die meisten Opfer als Personen mit psychischen Handicaps zu einer Gruppe, die bis heute mit großen Vorurteilen zu kämpfen hat. So berichtet der Wiener Historiker Dr. Winfried R. Garscha, dass überlebende ZeugInnen bei Euthanasie-Nachkriegsprozessen von Verteidigern und sogar Gutachtern verhöhnt und als geistig nicht vollwertig abqualifiziert wurden. Aber auch Angehörige der Opfer selbst waren nach 1945 nicht sonderlich an einer öffentlichen Aufarbeitung interessiert. Einerseits, weil manche den Euthanasiemaßnahmen sogar positiv gegenüber standen, andererseits, da sie sich dadurch als Angehörige von „Verrückten“ stigmatisiert fühlten. So berichtet etwa der damalige Feldhof-Arzt Dr. Ernst Arlt in seinem Tagebuch, dass sich anlässlich der einzigen namentlichen Nennung von Hartheim-Opfern in einer steirischen Zeitung im Jahre 1945 viele Angehörige darüber beschwert hätten, „da dadurch der Öffentlichkeit mitgeteilt würde ... dass dieser Mensch geisteskrank war“. Erst heute, ein halbes Jahrhundert später, sind einige bereit, sich dem Schicksal ihrer Verwandten zu stellen, weiß der deutsche Sozialpädagoge Dr. Ernst Klee: „Mein Alltag besteht daraus, dass ich mit Menschen zu tun habe, die sich erst jetzt getrauen, einzugestehen, dass ein Angehöriger Opfer der Euthanasie geworden ist.“

„... lebte als beispielgebender menschenfreundlicher Arzt ...“

Was die strafrechtliche Verfolgung der Täter in der Steiermark betrifft, so gab es mehrere gerichtliche Vorerhebungen, die auch zur Verhängung der Untersuchungshaft führten. Dennoch wurde für die Ereignisse am Feldhof niemand gerichtlich verurteilt. Dr. Oskar Begusch, Anstaltsdirektor seit 1939, war bereits 1944 an den Folgen einer Blinddarmoperation verstorben. So wurde sein Nachfolger als Anstaltsdirektor, Dr. Ernst Sorger zur Hauptfigur der Erhebungen. Gegen Sorger, der auch Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme“ war, wurde wegen Tötung von 13 behinderten Kindern ermittelt. Sorger beging aber vor Abschluss des Verfahrens im August 1945 Selbstmord; dadurch gerieten auch die weiteren Erhebungen ins Stocken. Alle Verantwortung konnte nun den beiden verstorbenen ehemaligen Anstaltsdirektoren angelastet werden, während die übrigen, Zeugen und Verdächtige zugleich, sich gegenseitig entlasteten. 
Aber auch bei Dr. Sorger setzte in der Öffentlichkeit sofort mit seinem Tode die Reinwaschung seiner Person ein. Im Nachruf in der Grazer Tagespost vom 15. August 1945 hieß es unter anderem: „Dr. Sorger lebte als beispielgebender menschenfreundlicher Arzt nur für seine Aufgaben. Als gütiger Mensch und Arzt genoss er die größte Verehrung bei seinen Patienten.“  So mag es wohl nicht verwundern, dass auch noch 1974 in der Festschrift des damaligen Landessonderkrankenhauses Graz keine Rede vom mutmaßlichen Täter Sorger war. Im Gegenteil: ihm wird als „Leiter in der turbulent-chaotischen Zeit des Kriegsschlusses, dessen Opfer (sic!) er letzten Endes wurde“  jener Opferstatus zugebilligt, der den Ermordeten der NS-Euthanasie verwehrt geblieben ist. 

Feldhof: jahrzehntelanges Schweigen

Am Feldhof wurde in den folgenden Jahrzehnten über die Vorkommnisse von 1940-1945 der Mantel des Schweigens gebreitet. Sehr aussagekräftig dafür ist, wie Prof. Dr. Rainer Danzinger, nunmehriger ärztlicher Leiter des LSF betont, die Tatsache, dass mit Dr. Peter Korp in den Jahren 1945 bis 1955 eine Person Direktor des Feldhofs sein konnte, die „massiv in die Ermordung von Kindern am Feldhof involviert gewesen ist.“
Dr. Korp war während des NS-Systems Leiter der dortigen Kinderabteilungen. Zusammen mit seiner Assistentin Dr. Josefine Hermann (der späteren Leiterin der Heilpädagogischen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Feldhof) war er ebenfalls verantwortlich für die ärztliche Betreuung der Außenstellen in Bruck/Mur und Kainbach.
Selbst Dr. Arlt, Anstaltsdirektor von 1954 bis 1959, der sich in seinem Tagebuch selbstkritisch zu den Vorgängen der NS-Euthanasie bekannte, brach sein Schweigen nicht und erlaubte den Behörden keine Einblicke in seine seit 1941 geführten Aufzeichnungen, deren Veröffentlichung er erst 30 Jahre nach seinem Tod wünschte. Erst 1961 folgte mit Dr. Fritz Mayr (nicht zu verwechseln mit Dr. Hans Mayr, dem Leiter der Pflegeabteilung während der Zeit des Nationalsozialismus) der erste historisch unbelastete Direktor des Feldhofs, der – im Unterschied zu allen vorangegangen Direktoren – erst nach 1945 in die Anstalt eingetreten war. 
 

 
Feldhof-Leiter Dr. Oskar Begusch (li), Dr. Ernst Sorger (Mi): Die Euthanasie-Verantwortlichen wurden noch in den 70-er Jahren in einer Festschrift des Landessonderkrankenhauses gefeiert. Dr. Peter Korp (re): Der Leiter des Feldhofs von 1945 bis 1955 war laut Dr. Rainer Danzinger „massiv in die Ermordung von Kindern involviert“ gewesen.

Täter machten Karriere

Nicht nur am Feldhof selbst, auch in anderen öffentlichen Einrichtungen und an den Universitäten kam es bei vielen ehemaligen Aktiven des NS-Systems zu meist nur kurzen Karrierebrüchen. Manche kamen sogar gänzlich ohne Verurteilung davon, wie der Fall von Doz. Dr. Hans Bertha zeigt, Vorstandsmitglied des Deutschen Institutes für Rassenhygiene, Gutachter der so genannten T4-Aktion (der Euthanasie erwachsener PatientInnen im gesamten „Deutschen Reich“) und Mitglied des für Sterilisationen zuständigen Erbgesundheitsgerichtes. Gegen ihn wurde, wie Univ. Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer, Leiter des Österreichischen Dokumentationsarchives, feststellt, nicht einmal ein Verfahren durchgeführt.
Neugebauer: „Im  Volksgerichtsverfahren wegen illegaler Tätigkeit für die NSDAP wurde er 1948 trotz Vorliegen unwiderlegbarer Dokumente freigesprochen. Auch das Grazer Volksgericht schenkte den entlastenden Aussagen der SS-Kameraden von Bertha mehr Glauben als den Dokumenten.“ Bertha wurde 1954 a.o. Professor in Graz und hatte von 1960 bis zu seinem Unfalltod 1963 die Leitung der psychiatrisch-neurologischen Klinik am LKH Graz inne. 

1980er-Jahre: Erste steirische Aufarbeitungsversuche

Eine nennenswerte Aufklärung der Mitwirkung von MedizinerInnen an den Verbrechen der NS-Zeit begann in Österreich überhaupt erst gegen Ende der 1970er-Jahre mit der Anzeige gegen den Wiener Arzt Dr. Heinrich Gross. Erstmals Licht ins Dunkel der Vorgänge rund um die steirische NS-Euthanasie brachten zu Beginn der 1980-er-Jahre die Nachforschungen des damaligen ORF-Mitarbeiters Peter Nausner. Für seine TV-Dokumentation „Unwertes Leben“ erhielt er 1985 den Österreichischen Preis für Volksbildung. 
Außer dem damaligen Direktor des LNKH, Dr. Norbert Geyer, seien ihm alle, so Nausner, mit Schweigen begegnet. Die Beschaffung von Unterlagen erwies sich als äußerst schwierig. Im Steiermärkischen Landesarchiv etwa war es ihm verboten, Kopien anzufertigen. Erst die Bereitschaft deutscher Stellen, ihm Akten steirischer Fälle zu überlassen, ermöglichte Nausner genauere Nachforschungen.
Erst durch die Konfrontation mit diesen Fakten fanden sich auch Augenzeugen, die ihr Schweigen brachen. Nausner: „Es lag über dem Feldhof eine riesige Lüge. Ein Oberpfleger brach beim Interview mehrmals in Weinen aus, so sehr lag auf ihm diese Last der Erinnerung“. Am meisten schockiert habe ihn die Erkenntnis, dass es möglich ist, die Vernichtung einer spezifischen Personengruppe vorzubereiten und diese als bürokratisch verwaltetes Morden auch auszuführen. 

Schattenseiten

Nennenswerte Reaktionen riefen seine Nachforschungen, so Nausner, in der Steiermark kaum hervor. Zwar gab es einige Diskussionen und auch eine Anzeige gegen ihn – die letztendlich wieder zurückgenommen werden musste –, aber bald war das Interesse am Thema wieder versiegt. Erst mit Prof. Dr. Rainer Danzinger begann ab 1996 die kontinuierliche Aufarbeitung der Vorgänge im Feldhof. Inzwischen sind bereits einige Dissertationen zu den Themen T4-Aktion, Sterilisation und Kindereuthanasie im Entstehen. Für März 2001 ist zudem die Veröffentlichung des Buches „Schattenseiten“ geplant. Mit diesem, vom deutschen Experten für NS-Kinderfachabteilungen Thomas Oelschläger und Prof. Danzinger verfassten Werk wird erstmals eine detaillierte Aufarbeitung der Ermordung von Patienten am Feldhof und dessen Filialen sowie der NS-Euthanasie-Aktionen in der Untersteiermark in Buchform vorliegen. 
 

Univ.-Prof. Dr. Rainer Danzinger, Leiter der heutigen Landesnervenklinik Sigmund Freud, bemüht sich intensiv um die Aufarbeitung der Geschichte seines Hauses.
 

Kein Geld für das Gedenken an steirische NS-Opfer?

Es ist zu hoffen, dass mit dieser Publikation auch die Diskussionen über ein öffentliches Gedenken an die steirischen Opfer in Graz neuen Auftrieb erhalten. Im Unterschied zu anderen österreichischen Städten besitzt Graz bis heute noch keine Gedenktafel, geschweige denn ein Mahnmal für die mehr als 1500 steirischen Opfer der NS-Euthanasie. Auf Initiative des Grazer Bürgermeisters Alfred Stingl und des steirischen Gesundheitslandesrates Günther Dörflinger gab es vor Jahren zwar einen ersten Versuch in diese Richtung. Doch, so Prof. Danzinger bedauernd: „Inzwischen ist die Diskussion darum wieder eingeschlafen.“ 
Von KORSO dazu befragt, ist Bürgermeister Stingl nach wie vor dafür: „Ich bin der Ansicht, ein Mahnmal sollte immer dort sein, wo der Ort des Grauens gewesen ist.“ Als Symbol für eine lebendige Erinnerung an die damaligen Geschehnisse könnte er sich daher etwa die Pflanzung eines kleinen Parks am LSF-Gelände vorstellen. Mittels dieser „Lebensbäume“ könnte, so Stingl, eine symbolhafte und doch einprägsame und klare Art des Gedenkens stattfinden. Gleichzeitig stellt er jedoch fest, dass das LSF nicht im Zuständigkeitsbereich der Stadt sondern des Landes Steiermark liegt. Der zuständige Landesrat Günther Dörflinger bekräftigt denn auch seine grundsätzliche Bereitschaft zur Umsetzung eines Mahnmalprojektes. Stolperstein für konkrete Umsetzungspläne seien jedoch, so Dörflinger, die fehlenden Budgetmittel: „Es gibt leider derzeitig eine so knappe Budgetsituation im Gesundheitsbereich, dass für uns die Sicherstellung von Angeboten wie etwa der sozialpsychiatrischen Versorgung Vorrang hat.“
Es bleibt zu hoffen, dass das öffentliche Gedenken an die steirischen Euthanasie-Opfer des NS-Systems nicht aus finanziellen Gründen scheitert. Die in den letzten Jahren erneut geäußerten Vorschläge und Diskussionen über Euthanasie und aktive Sterbehilfe zeigen, wie wichtig Aufklärung und Wissen über die vergangenen Verbrechen ist, um zu verhindern, dass sich diese wiederholen. 

Joachim Hainzl
 

 
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