Am 21. März 2003 öffnet die Ausstellung „Berg der Erinnerungen“
im Schlossberg ihre Pforten. Seit Monaten arbeitet das Team von
BISDATO unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Karl Stocker
nun daran, die rund 20.000 Erinnerungsstücke mit den Lehrmeinungen
der Geschichtswissenschaften zu verbinden. An die 1.000 Erinnerungsstücke
werden dabei vom Gestaltungsteam unter der Leitung von Erika
Thümmel spektakulär in Szene gesetzt. Stocker: „Für die meisten
GrazerInnen, die uns ihre Erinnerungen brachten, waren der 2. Weltkrieg
und die Nachkriegsjahre die letzten ‚echten’ historischen ‚Ereignisse’,
an denen heute noch Lebende teilhatten.“ Der konstruktivistische
Projektansatz, nach dem Geschichtsschreibung nur in den Köpfen der
Menschen entsteht, scheint, so Stocker, nur schwer annehmbar zu
sein.
Begleitend zur Ausstellung führt der Verein CLIO ein Rahmenprogramm
mit Diskussionen und Stadtwanderungen durch. Unter Einbindung von
ZeitzeugInnen und ehemaligen AktivistInnen wird Grazer Geschichte
direkt an „Originalschauplätzen“ nacherlebt und diskutiert. Der
Termin am 28. Juni 2003 widmet sich der 68er-Bewegung. Als ehemalige
Aktivisten führen dabei der ehemalige Kulturstadtrat Helmut Strobl
und der langjährige Betriebsratsobmann Franz Puschnigg durch
ihr Graz der 60er- und 70er Jahre.
Franz Puschnigg und Helmut Strobl: Zwei Alt-Achtundsechziger
treffen sich am „Tatort“ >
Für KORSO führte Joachim Hainzl ein Gespräch mit den beiden
ehemaligen Aktivisten, die aus verschiedenen politischen Lagern
kamen und deren Biografien sich 1968 kreuzten.
Auseinandersetzung mit Neonazis und der NS-Vergangenheit
Begann die Protestbewegung in Graz erst im Jahre 1968?
Puschnigg: In Graz waren Mitte der 60er-Jahre Neonazis
aktiv. Die Proteste dagegen waren der Auslöser. Daran haben sich
nicht nur Studierende beteiligt, sondern auch Honoratioren wie der
damalige Direktor Göbhardt des Gymnasiums am Hasnerplatz oder der
Soziologe Karl A. Kubinzky.
Strobl: Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit Graz
als „Stadt der Volkserhebung“. Unsere Elterngeneration hatte uns
ja verschwiegen, dass es in Graz sehr wohl auch einen Widerstand
gegen den Nationalsozialismus gegeben hatte. Man muss sagen, dass
in Österreich die sanftere Ausgabe der Studentenbewegung stattgefunden
hat. Es gab 1968 sicher am meisten Bewegte und Aktive. Es herrschte
eine globale Aufbruchstimmung und die Studentenbewegung führte später
zur Ausbildung einer Umwelt- und Frauenbewegung.
Liberaler Flügel hatte Mehrheit in Graz
Wie war Ihr biografischer Zugang?
Strobl: Ich komme aus einem bürgerlichen Haus, meine Eltern
waren bis 1945 Nationalsozialisten. Ich gehörte zum nicht-marxistischen,
liberalen Flügel. Bei uns waren viele, die aus dem katholischen
Bereich kamen, wie etwa Gerfried Sperl, Harry Baloch oder Christian
Brünner. Sperl hat sich vom ÖVP-nahen Wahlblock abgespalten und
in Graz die Studentenfraktion „Aktion“ gegründet. Diese hat in Graz
an der ÖH die Mehrheit gehabt. Das hatte damit zu tun, dass wir
stark mit der Kulturszene verbunden waren. Ich war fast fünf Jahre
Obmann der Studentenfraktion „Aktion“, bis sie sich 1970 aufgelöst
hat.
Herr Puschnigg, Sie hatten einen gänzlich anderen Zugang.
Puschnigg: Ja, ich kam von der KPÖ. Diese hat damals das
Entstehen der Protestbewegungen mit Misstrauen beobachtet. Wir,
ca. 30 Berufstätige und linke Studierende, die alle aus der KPÖ
ausgetreten bzw. ausgeschlossen waren, waren als „Freie Österreichische
Jugend (FÖJ)“ aktiv.
Vietnam und Prager Frühling als bestimmende Themen
Damals wie heute waren die globalen Themen bestimmend für die
Politisierung …
Puschnigg: Der Vietnamkrieg und der Prager Frühling waren
sicher bestimmend. Es gab in jener Zeit in Graz auch sehr viele
Studierende aus dem Iran und aus Griechenland und die haben auch
für eine besondere Stimmung gesorgt.
Strobl: Man kann sogar sagen, dass Graz ein wichtiges Widerstandszentrum
gegen die Militärdiktatur in Griechenland gewesen ist.
Es gab aber auch lokale Themen, die eine wichtige Rolle spielten
– wie etwa 1970 eine Aktion gegen die Erhöhung der GVB-Tarife
am Jakominiplatz, in deren Zuge Sie beide in U-Haft gekommen sind.
Strobl: Wir haben uns entschlossen, Demos dagegen zu organisieren.
Doch inzwischen war eine neue Generation dazu gekommen und plötzlich
war der Jakominiplatz voll mit SchülerInnen. Die wollten Action.
Sie haben sich schnell auf die Gleise gesetzt. Es waren nur zwei
Polizisten anwesend, als plötzlich die Straßenbahnen nicht mehr
fahren konnten. Insgesamt wurden mehr als 30 Personen verhaftet.
Fünf von uns, darunter ich als Verantwortlicher und Franz Puschnigg,
waren ein paar Tage in U-Haft.
Puschnigg: Ich bin erst später zur Demo gekommen. Dort hat
mich der Einsatzleiter Konrad Goldberger gesehen. Er hat mich zu
sich gewunken und zu mir gesagt: „Sie sind verhaftet.“
Strobl und Puschnigg in U-Haft wegen „Aufruhr“
Wie war die Situation in der Untersuchungshaft?
Puschnigg: Es war unangenehm. Sie haben unsere Fingerabdrücke
abgenommen und wir sind fotografiert worden für die Verbrecherkartei.
Strobl: Wir wurden der „Aufruhr“ angeklagt, was damals ein
schweres Vergehen war. Wir waren in den Zellen zusammen mit „Kriminellen“
untergebracht. Die haben mich als „Politischen“ willkommen geheißen
und ich hatte gleich einige Vorrechte, etwa den „Horch“ zu benutzen.
Das ist ein speziell verbogener Löffel. Zusammen mit einer Diode
konnte man damit Radiohören. Das Bettgestell, an das man beides
hielt, diente dabei als Antenne.
Warum wurden Sie dann entlassen?
Strobl: Wie wir später erfahren haben, hat der damalige
Landeshauptmann Krainer senior beim Staatsanwalt für uns interveniert.
Nächtelange Strategiediskussionen
Wie erklären Sie sich das harte Vorgehen der Polizei?
Puschnigg: In der Grazer Polizei hätten es einige gerne
gesehen, wenn es bei unserer Bewegung einen militärischen Flügel
gegeben hätte. Da es einen solchen nicht gab, war die Besetzung
der Gleise ein willkommener Anlass für ein hartes Durchgreifen.
Gab es eigentlich Diskussionen, ob man Gewalt einsetzen sollte?
Strobl: Anlässlich des Bundesheer-Volksbegehrens, das wir
führend mitgetragen haben, gab es unter uns nächtelange Strategiediskussionen.
Aber es gab nur sehr wenige, die nach dem Vorbild der deutschen
RAF für Gewaltbereitschaft waren und in den Untergrund gehen wollten.
Hatte der Protest gegen die Erhöhung der GVB-Tarife eigentlich
Erfolg?
Strobl: Nein. Man muss aber sagen, dass unser Protest bei
der Bevölkerung auf Sympathie gestoßen ist. Bei einer Diskussion
zur Grazer Verkehrspolitik mit mir und SPÖ-Langzeitbürgermeister
Scherbaum schrieb danach die Kleine Zeitung, dass die Ikone Scherbaum
dort das erste Mal gewackelt habe. Er hat nicht gemerkt, dass sein
autoritärer Stil nicht mehr funktionierte.
1968er-Bewegung führte zum Entstehen von BürgerInneninitiativen
Hat die Solidarisierung mit der Arbeiterschaft in Graz 1968
funktioniert?
Puschnigg: Nein. Ich war Betriebsrat und da haben sich
auch nur wenige mit der Studentenbewegung solidarisiert.
Strobl: Am weitesten hat das in Frankreich funktioniert,
da hätte es, als es bei den Renault-Werken zu Streiks kam, fast
geklappt. Aber die 1968er-Bewegung in Österreich bzw. Graz war hauptsächlich
eine der Intellektuellen.
Also blieb die Studentenbewegung meist auf den Bereich der
Universitäten beschränkt?
Puschnigg: Sie kam dann auch raus aus der Uni. Das gelang
jedoch nur durch die Umweltschutzbewegung. Als Bürgermeister Scherbaum
1972 die Pyhrn-Autobahn durch Graz bauen lassen wollte, kam es zur
Bildung der ersten Bürgerinitiative in Graz und es gelang, viele
Leute zu mobilisieren. Wir haben ein Volksbegehren dagegen initiiert,
das ergeben hat, dass die Mehrheit der Grazer Bevölkerung gegen
den Bau war.
Strobl: Man konnte so tatsächlich Leute quer durch alle Lager
ansprechen. Bald gab es an die hundert Bürgerinitiativen.
Gibt es rückblickend etwas, wo sie sagen, das würden Sie nicht
mehr machen?
Puschnigg: Nein. Meine politische Überzeugung hat sich nicht
verändert. Ich würde nur einige aktionistische Happenings weglassen,
da sie mir heute kindisch vorkommen.
Strobl: Ich würde lediglich im privaten Bereich einige Tabubrüche
vermeiden. An der damaligen Einstellung, dass alles in Frage gestellt
werden kann, ist meine erste Ehe in die Brüche gegangen. Ansons-ten
bin ich immer noch ein überzeugter Pazifist und hänge der Idee „Eine
Welt ohne Krieg!“ immer noch an.
Danke für das Gespräch
Helmut Strobl, Jg. 1943, war von 1985-2001 ÖVP-Kulturstadtrat
in Graz und ist seit 2001 aus gesundheitlichen Gründen in Pension.
Derzeit im Rahmen von Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas ehrenamtlich
tätig.
Franz Puschnigg, Jg. 1941, war langjähriger Betriebsratsobmann
bei Odörfer in Graz, Aktivist der GE (Gewerkschaftliche Einheit,
später AUGE: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen) und ist
ebenfalls seit 2001 in Pension. Die ungekürzte Wiedergabe des Gesprächs
finden Sie unter www.korso.at!
Berg der Erinnerungen. Ausstellung im Grazer Schlossberg.
Eröffnung: 21. März 2003
Ausstellungsdauer: 22. März bis 28. September 2003 | Öffnungszeiten:
Mo - Mi, Fr - So: 10.00 bis 18.00 Uhr, Do 10.00 - 21.00 Uhr
Weitere Informationen: Tel. 2003-2003 | Mail: info@graz03.at
| www.berg03.at
| www.graz03.at
|