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„Die große Chance für Reformen haben wir schon versäumt“
Freitag, 16. Oktober 2009
Der Doyen der österreichischen Wirtschaftswissenschaften, Prof. em. Kurt W. Rothschild, feiert im Oktober seinen 95. Geburtstag. Rothschild verkörpert wie wohl kein anderer die Ablösung des dominierenden Einflusses der wirtschaftsliberalen Austrian School of Economics nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Theorie von John Maynard Keynes, die eine Regulierung der Märkte forderte und auf deren Umsetzung das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit mit beruhte.
Ein Gespräch mit Kurt W. Rothschild ist ein intellektueller Genuss: Nach wie vor setzt er sein ungeheures Wissen und seine Erfahrung in Bezug zu den aktuellen politischen und ökonomischen Ereignissen, die er bis ins Detail verfolgt. Und nicht zuletzt verfügt er nach wie vor über einen ungebrochenen Humor, ohne den die Kraft der luziden Analyse heute leicht in Bitterkeit umschlagen könnte.
KORSO-Herausgeber Christian Stenner sprach mit dem Jubilar am 24. September in Wien zum einen über die aktuelle Krise und die Forderungen an die Politik, die sich daraus ableiten; zum anderen über den Wandel von Wirtschaftstheorien und Wirtschaftspolitik in den letzten 70 Jahren. Das hier abgedruckte Interview ist eine gekürzte Version jener Fassung, die im Spätherbst in einem Sammelband mit Gesprächen zur Krise im Wiener Promedia-Verlag erscheinen wird.

Heute beginnt der G-20-Gipfel, wo die Mächtigen dieser Welt die Möglichkeit von Regulierungen der Finanzmärkte diskutieren wollen. Im Augenblick scheint sich die Ansicht durchzusetzen, dass es reicht, bestimmte Spekulationsmöglichkeiten zu unterbinden und die Rating-Agenturen etwas strenger an die Kandare zu nehmen, dann wird der Kapitalismus wieder krisenfest …
Der Kapitalismus war nie krisenfest, die goldene Periode der 60er Jahren war eine Ausnahmeperiode, die nur so erklärbar ist, dass verschiedene günstige Momente zusammengetroffen sind, wie eben auch die große Depression in den 30er-Jahren deswegen so besonders tief war, weil damals auch viele negative Elemente zusammengekommen sind. Aber wenn wir normale Zeiten mit stärkeren Konjunkturbewegungen betrachten, dann war der Kapitalismus ja nie krisenfest.
Was jetzt neu ist, ist nicht die Krise in der Realwirtschaft, sondern diese große Finanzkrise, die darauf beruht, dass sich in der Finanzwirtschaft viel Neues getan hat, daher sind Vergleiche mit der früheren Zeit nur schwer möglich. Der springende Punkt ist daher jetzt tatsächlich, ob man diese neue Finanzkrise in den Griff bekommen kann.

Nun gut – wenn schon der Kapitalismus nie krisenfest werden kann, reichen dann die genannten Maßnahmen, um wenigstens die Finanzkrise einzudämmen?

Kurzfristig handelt es sich bei dem, was bis jetzt getan wurde, um Notoperationen, die notwendig waren und auch tatsächlich geholfen haben, die Krise hat sich abgemildert, längerfristig muss man natürlich eine ganze Reihe von Faktoren ändern, wenn man nicht will, dass eine solche Krise wieder auftritt, denn schließlich hat ja auch eine ganze Reihe von Faktoren zur Krise geführt.

Darf ich Sie bitten, das ein bisschen genauer auszuführen?
Ich will nicht vorspiegeln, dass ich dazu aus dem Stand eine komplette, zusammenhängende Theorie liefern kann. Aber man kann einige wichtige Faktoren aufzählen, vor allem jene, die an erster Stelle zu beseitigen wären – wobei fraglich ist, ob sich das politisch durchsetzen lässt.
Die Behauptung, die Gier sei schuld an der Finanzkrise, ist natürlich zu romantisch, auch wenn sie natürlich eine Rolle spielt. Zunächst muss man einmal davon ausgehen, dass die Finanzkrise deswegen enorm verschärft wurde, weil sich an der Börse einiges Neues getan hat. Spekulation auf der Börse hatte ja ursprünglich eine positive Funktion, solange die Realwirtschaft ihren eigenen Weg gegangen ist; die Börse war nur da, um gewisse Risken abfangen zu können oder um die Allokation von Kapital zu erleichtern. Das waren alles mehr oder minder längerfristige Spekulationen, die sich an der Realwirtschaft orientiert haben. Schon Keynes hat aber erkannt, dass die Spekulation für die Realwirtschaft hilfreich sein kann, solange sie ihr dient. Wenn sie aber die Realwirtschaft beherrscht, dann kommt es zur Katastrophe. Genau das ist eingetreten.
Daran sind die Ökonomen nicht ganz unschuldig, weil sich in der Mainstreamökonomik eine Richtung entwickelt hat, die behauptet hat, sie könne eine verlässliche Theorie hervorbringen, wie man an der Börse spekulieren soll. Sie haben Modelle entworfen, die auf einer Annahme der herrschenden Theorie aufgebaut haben, die eine ganz starke Abstraktion von der Wirklichkeit und gleichzeitig das zentrale Argument für den unregulierten Markt darstellt, nämlich: Jeder sei zu jedem Zeitpunkt in der Lage, die aktuelle Wirtschaftslage richtig zu erkennen, und handele davon ausgehend rational.
Mehrere Ökonomen haben den Nobelpreis dafür bekommen, dass sie davon ausgehend herrliche mathematische Modelle für die Börsenspekulation entwickelt haben. Das war mit ein Grund dafür, dass diese enorm zunahm. Das wiederum hatte aber Rückwirkungen auf die Realwirtschaft, dies umso mehr, als das amerikanische System auch auf Europa übergeschwappt war, dass die Firmen sich an der Börse finanzieren müssen; damit wirken Störungen an der Börse sofort auf die Kreditmöglichkeiten der Firmen zurück. Und gierige Banker haben diese neuen Möglichkeiten sofort in Anspruch genommen, und das eben nicht mit ihrem eigenen Kapital, sondern auch in hohem Maße mit Fremdkapital. Die Banken haben durch ihre Beratungstätigkeit immer mehr Menschen in diese Geschäfte mit Finanzmarktoperationen hineingezogen, ein weiterer Grund dafür, dass der Finanzmarkt stark in die Realwirtschaft hineinwirken konnte.

Diese Entwicklung bedurfte aber auch des entsprechenden politischen Rahmens.
Ja, da kommt aber noch etwas anderes dazu: Die IT-Revolution hat es ermöglicht, internationale Riesenkonzerne zu organisieren; vorher wäre es ja nicht möglich gewesen, die Buchhaltung nach Indien auszulagern oder ein Auto mit Bestandteilen aus 16, 17 Ländern zu bauen. Gleichzeitig ist die Macht dieser Unternehmen gegenüber den Regierungen und Gewerkschaften gewaltig gestiegen, weil sie jederzeit damit drohen können, Betriebsstätten auszulagern. Die Konzerne waren natürlich immer an einer Liberalisierung interessiert und haben es auch geschafft, die neoklassische Theorie zu vulgarisieren. Die war ja eher als Modell denn als Rezept gedacht, noch dazu für eine Welt, in der nur kleine Firmen bestehen, die keine wirkliche Macht ausüben können. Jetzt hat sich diese Macht – die ja früher auch schon existent war – enorm in Richtung der Konzerne verschoben, die durch die Marktgläubigkeit zusätzlich an Einfluss gewonnen haben.
Die Kombination von neuen Störungselementen in der Finanzwirtschaft hat gemeinsam mit der Deregulierung und Globalisierung der Realwirtschaft jenes Klima geschaffen, das die aktuelle Krise so unvorhergesehen hereinbrechen ließ.

Das führt natürlich zur Frage, welche Möglichkeiten der Regulierung es heute noch gibt.
Dafür gibt’s keine generelle Antwort, man kann nur von Fall zu Fall entscheiden, welche Regulierungen möglich sind. Ich glaube übrigens auch gar nicht, dass da die nationalstaatliche Politik völlig machtlos ist; kleine Staaten haben ja zum Teil den Vorteil, dass solche Schritte relativ unbemerkt vor sich gehen können.
In vielen Fällen kann man auch nur Vermutungen äußern, und zum Teil müsste die Politik einfach den Mut haben, das nach dem System Trial and Error auszuprobieren; man kann ja solche Entscheidungen im schlimmsten Fall wieder zurücknehmen. Ob z.B. im Falle der Wiedereinführung von Erbschaftssteuern alle sofort versuchen, ihr Vermögen woanders hinzubringen, kommt darauf an, wie hoch die Steuer ist …

… und um welches Vermögen es sich handelt; Immobilien z.B. lassen sich ja nicht so leicht ins Ausland verlegen.
Natürlich. Aber auch im Fall von beweglichem Vermögen ist anzunehmen, dass diese Bewegungen nicht so groß sind, wie die Leute behaupten, die dagegen sind. Oder nehmen Sie z.B. die Tobinsteuer, da handelt es sich ja nur um 0,5 bis maximal 1%. Da könnte man ohne weiteres riskieren, das zu probieren, das könnte schon etwas bewirken. Ich kann mir übrigens vorstellen, wenn die EU eine solche Steuer einführt, dass dann auch die die Amerikaner diesem Beispiel folgen werden, weil die ja auch Einnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen benötigen werden.
Ich würde sogar noch weiter gehen. Die Globalisierung ist im Großen und Ganzen etwas Positives, aber Länder, für die Vollbeschäftigung Priorität hat, können diese schwer aufrechterhalten, wenn andere sich auf die Preisstabilität konzentrieren. Das war ja auch ein Problem für Keynes, gerade, weil er immer für den Freihandel eintrat. Ich bin nicht dafür, dass man wieder  ein Zollsystem einführt, sehr wohl aber sollten gewisse Schranken in jenen Sektoren möglich sein, wo man starke Erschütterungen erwartet. Die World Trade Organisation sollte nicht auf bedingungslosen Freihandel festgenagelt sein, sondern in einem bestimmten Rahmen auch protektionistische Maßnahmen zulassen. Das betrifft auch die alte Idee der Erziehungszölle: Wenn ein Entwicklungsland eine Industrie begonnen hat, soll es möglich sein, dass diese eine bestimmte Zeitspanne lang nicht der ausländischen Konkurrenz ausgesetzt wird.

Also ein flexibleres Regime …
Ja, Freihandel sollte nicht als Dogma betrachtet werden, sondern als idealer Zustand in einer Welt, in der die Wirtschaftskraft gleichmäßig verteilt ist. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Vor dem Krieg, als wir noch kein geeintes Europa hatten, konnte ein größeres Land eine Lokomotivfunktion übernehmen: Wenn die Regierung eine expansive Politik betrieb, belebte dies zwar auch die anderen Länder, weil natürlich die Importe anstiegen, aber der Multiplikatoreffekt blieb natürlich zum großen Teil im Inland und erfüllte damit, was man erwartet hatte. Jetzt in der EU muss das alles international ausgeschrieben werden, und wenn die öffentlichen Arbeiten dazu führen, dass billige Anbieter aus anderen Ländern hier arbeiten können, dann verpufft die expansive Politik natürlich. Es würde reichen, die Schwelle zu erhöhen, ab welcher international ausgeschrieben werden muss.
Die EU ist politisch gesehen ein hundertprozentiger Erfolg, weil sie Kriege innerhalb Europas faktisch ausschließt – und deshalb liegen alle falsch, die sie aus Prinzip ablehnen. Aber natürlich darf man sie kritisieren, und zwar vor allem wegen eines zentralen Widerspruchs: Wenn Sozialpolitik und Beschäftigungspolitik Aufgabe der einzelnen Länder bleiben, aber Geldpolitik und Fiskalpolitik Aufgabe der EU sind, kommen wir in einen Widerspruch, der die Demokratie gefährdet. Die Menschen wählen eine nationalstaatliche Regierung und verlangen von ihr Vollbeschäftigung, die Politik verspricht sie auch, aber sie kann dieses Versprechen nicht halten. Daraus resultiert die Unzufriedenheit mit den Politikern, die alles versprechen und nichts halten – sie ist quasi in das System eingebaut.

Ich frage Sie jetzt nicht nach Ihrer Prognose für die nächsten Jahre, weil ich weiß, dass Sie ungern Voraussagen machen; was ich Sie aber fragen möchte, ist, welche Bedingungen erfüllt sein müssten, um die aktuelle Krise wirklich zu überwinden.
Da gibt es schon genügend Vorschläge. Die Frage der Rating-Agenturen muss gelöst werden, Hedgefonds müssen stark kontrolliert und eingeschränkt werden, den Banken muss eventuell eine höhere Eigenkapitalquote vorgeschrieben werden. Ein guter Vorschlag ist z.B., dass die Banken von riskanten Finanzinstrumenten, die sie verkaufen, einen bestimmten Prozentsatz selbst behalten müssen, dann werden sie ein bisschen vorsichtiger sein. Spekulation bleibt immer ein Problem – und ganz ohne Spekulation geht es ja auch nicht – aber man muss eben so viele Kontrollmöglichkeiten wie möglich schaffen. Das wollen die Banken aber nicht, wie stark sie das ablehnen, erkennt man daran, wie eifrig sie die Unterstützungen zurückzahlen, um die staatliche Kontrolle wieder rauszubekommen. Da muss man sagen, die große Chance für Reformen haben wir schon versäumt.
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