Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
BORDBUCH
Mittwoch, 11. März 2009

Aufzeichnungen meiner ersten Entdeckungsfahrt nach Amerika
zum Festival Internacional de Poesía in Granada, Nicaragua,
13. bis 21. Februar 2009

Andreas Unterweger

Selbst der Reisende, der Amerika heute aufsucht,
macht Entdeckungen, und sei es nur für sich selbst.
Urs Bitterli, Die Entdeckung Amerikas 

 

WIDMUNG

In Nomine Domini Jhesu Christi 2009,
an die allerhöchste KULTUR SERVICE GESELLSCHAFT STEIERMARK
(insbesondere die erlauchtesten Damen Doña MAG. ANGELIKA VAUTI-SCHEUCHER und Doña KARIN HOFFMAN),
die uns, den poetas Sonja Harter, Andrea Stift und Andreas Unterweger,
die Reise zum Festival Internacional de Poesía in Granada, Nicaragua, ermöglicht hat;
an den mächtigsten Vicegobernador der steirischen Länder und Inseln des Meeres,
den Privatreisenden Don DR. KURT FLECKER,
der uns vor Ort mit Speis und Trank und erbaulichen Gesprächen unterstützt hat;
an die unverwüstlichste Doña ANDREA STIFT,
deren karavellengroße Reiseapotheke und unerschütterlich ausgeglichenes Gemüt
die glückliche Rückkehr in heimatliche Gewässer nie außer Frage stehen ließen,
mit herzlichem Dank und besten Wünschen für die Zukunft,
Euer, zumindest sprachlich, auf den Spuren des Christoph Kolumbus wandelnder
Don Andreas
 

DREI SCHIFFE (British Aerospace 146-300 LH 3637, 13.02.09, 06:54). Die erste Entdeckung: Wie Kolumbus reisen auch wir, Sonja Harter, Andrea Stift und ich, mit drei Schiffen.
Während Kolumbus’ drei Schiffe, die Santa Maria, die Pinta und die Niňa, jedoch den ganzen weiten Weg in die Neue Welt nebeneinander hersegelten, besteigen wir, 517 Jahre später, unsere drei Vehikel hintereinander: die British Aerospace 146-300 LH 3637 bringt uns von Graz nach Frankfurt, die Boeing 747-400 LH 440 von Frankfurt nach Houston, Texas, die Boeing 737-800 CO 1774 schließlich von Houston nach Managua.
Beim Abflug von Graz, um 06.05 Uhr morgens, bilde ich mir noch ein, aus dieser strukturellen Veränderung des Reisens – vom Nebeneinander zum Hintereinander, vom Simultanen zum Sukzessiven – etwas Wesentliches über die Entwicklung der Menschheit seit 1492 ablesen zu können …
Spätestens die ersten Turbulenzen machen dann aber klar, dass es vielleicht doch noch wesentlicher sein mag, dass unsere Schiffe, im Gegensatz zu jenen des Kolumbus,  fliegen.

GOOGLE EARTH (Boeing 747-400 LH 440, 13.02.09, 14:47). Die arktischen Panoramen von Island und Grönland, die sich im Bullauge zu meiner Linken entfalten, sind nicht weniger unwirklich als die Bilder von Google Earth, die Andrea Stifts Sohn David gestern Abend auf den Computerbildschirm gezaubert hat: dieselben nichtssagenden, abstrakten Landschaftsflächen, dieselbe Menschenleere – nur die Zoomfunktion fehlt.
Reisen als Computersimulation – namens, zum Beispiel, Solipsism V. Solange ich hier in der Luft bin, solange ich, 10.000 Meter über dem Meer, Rotwein trinke, Brezeln esse, mir mit Gedankenspielen wie diesem hier die Zeit vertreibe, steht die Welt da unten still, sind unter mir nur ein paar Pixel, ist Mutter Erde wirklich Google Earth … Erst, wenn wir, die Geflügelten, gelandet sind, erwacht das Bodenpersonal wieder zum Leben.

LAND! LAND! (Boeing 747-400 LH 440, 13.02.09, 16:28). Terra firme! Festland! Am 13.02.2009, um 16.28 Uhr (MEZ) entdecke ich, verschlafen aus meinem Bullauge blinzelnd, Amerika.
Als Kolumbus, auf seiner dritten Reise nach Westen (1498), seinerseits das erste Mal auf amerikanisches Festland stieß, war er davon überzeugt, das irdische Paradies erreicht zu haben – jenes Land, dem die vier Hauptflüsse der Erde entsprängen, in welches einzutreten aber nur mit Gottes Erlaubnis möglich sei. (Bitterli)
Tatsächlich drückt uns die Stewardess, kaum dass die verschneiten Wälder Nordamerikas unter uns aufgetaucht sind, die grünen und blauen Einreise- und Zollformulare der Homeland Security in die Hand.
FIRST CONTACT (Flughafen Managua, ca. 22:00 Ortszeit, ca. 05:00 MEZ). Am Flughafen von Managua wird die österreichische Delegation von zwei Landsleuten, Auslandszivildienern, in Empfang genommen. Fünf Österreicher so weit weg von zuhause – das gibt ein großes Hallo: man schüttelt einander die Hände, sagt laut und deutlich seinen Namen, erzählt sich, wie es einem geht.
Die Gruppe überquert die Straße. Angeregt plaudernd gelangt sie zu einem weißen Kombi, an dessen Kofferraum sich ein dunkelhäutiger Mann lehnt. Während die Unterhaltung nahtlos weiterläuft, hält man ihm die Gepäckstücke entgegen. Der Mann lädt schweigend die drei Koffer ein.
Man kommt aus Wien, aus Graz, aus Grafenwörth; man raucht, man lacht. Man spricht über das Wetter dort, das Wetter hier. Der Mann steht stumm im Hintergrund. Man spricht über das Leben hier, Gefahrenzonen, Land und Leute. Der Mann steht stumm im Hintergrund. Man steigt ins Auto ein, lehnt den Kopf gegen die Scheibe, schließt die Augen …
Der Mann setzt sich ans Steuer, und wir fahren los.

NOCHE TRISTE … (Granada, 13.02.09, 23:37). Die ersten Eindrücke von Granada: 1. ein kleiner gelber Hund frisst aus dem Mistkübel gegenüber des Hotels; 2. wenn ich hier weiterhin Leitungswasser trinke, so Zivildiener Josefs Gute Nacht-Geschichte, werden die kleinen Tiere, die in dem Leitungswasser leben, in meinen Darm schwimmen und darin Eier legen … 3. ein Trupp wilder Frauen: als ich vor dem Schlafengehen auf den Balkon meines Zimmers hinaustrete, um mir den Parque Colón anzusehen, nähern sich plötzlich die Frauen von links – „Hola, come by, amor!“ – und 4. zwei Männer von rechts, einer im Rollstuhl, einer mit Hautausschlag, mit ausgestreckten, bittend erhobenen Händen –

… UND NEUE WELT (Granada, sieben oder acht Stunden Schlaf später). Die ersten Eindrücke von Granada: die Stadt feiert ein Fest, nein: die Stadt ist das Fest. Das Fest heißt: ein ganz normaler Samstagmorgen. Es steigt vor dem Fenster, auf der Straße, während ich grade erst die Augen öffne. Da wird gehupt, geklingelt, gepfiffen, gesungen – dazwischen die Schreie unbekannter Vögel, Hufgeklapper, Lautsprecherdurchsagen, Traktoren –
Dann die erste Entdeckung vor Ort: eine Oase. Die Stille im Innenhof des Hotels; der kleine blaue Pool in der Mitte des Hofs; die gelben Wände des Hauses, die roten Bodenfliesen; die Palmen rund um den Pool, die Blumen rund um den Pool, das Rauschen der Palmenblätter im Wind –
Und die zweite Entdeckung: das sonnige Café neben der Casa de los Tres Mundos, dem Basislager des Poesie-Festivals. Hier trinkt man café negro, Frappuccino, freut sich am Rot und Blau der spanischen Fassaden, schreibt –
(Während der Kellner – im Hintergrund – den Mann mit dem Hautausschlag verjagt …)

V FESTIVAL INTERNACIONAL DE POESÍA (16.02.09, 10:03). Heute beginnt das Poesie-Festival: 139 Lyriker aus der ganzen Welt nehmen daran teil. Eine Woche lang findet hier nun alle paar Stunden eine Marathonlesung statt, dazwischen gibt es Buchpräsentationen, Diskussionen, Konzerte, Tänze …
Gelesen wird an den prominentesten Plätzen der Stadt: auf der Plaza de la Independencia, vor dem Palacio Episcopal, im Parque de los Poetas (wo anlässlich des Festivals Jahr für Jahr eine Skulptur des österreichischen Bildhauers Johannes Kranz enthüllt wird) – und im Rahmen eines Karnevalumzugs, von blumengeschmückten Wagen herab!
Andrea Stift und ich treten heute Abend das erste Mal auf, gemeinsam mit anderen jóvenes poetas (jungen Dichtern). Jedes Gedicht wird erst in der Originalsprache gelesen, dann folgt die Übersetzung ins Spanische.
Übermorgen, um neun Uhr früh, präsentiert Sonja Harter Quiero que sepias, den deutsch-spanischen Lyrikband der letztjährigen österreichischen Vertreter Helwig Brunner, Stefan Schmitzer und Sonja Harter. Das Buch wurde auf handgeschöpftem Papier aus der Region gedruckt, das Design stammt vom steirischen Künstler Josef Fürpass.

METAMORPHOSEN (Granada, 17.02.09, 15:14). „Der Bericht über das Poesie-Festival“, berichtet Wolfgang Hunecke, Maler aus Bonn, von der Lektüre der hiesigen Tageszeitung, „war ein Bericht über die Sicherheitsmaßnahmen, die anlässlich des Festivals ergriffen wurden …“
Tatsächlich ist die Stadt Granada – seit Beginn der Veranstaltung – eine andere: von Armut und Hunger (so gut wie) keine Spur mehr, dafür jede Menge Touristen. Und die zerlumpten Gestalten im Parque Colón haben sich allesamt in blau uniformierte Polizisten verwandelt.

POETAS (ein zu kurzer Querschnitt, Granada, 16. – 20.02.09). Ernesto Cardenal (Nicaragua) wettert gegen „el cellular“ (das Handy); Gioconda Belli (Nicaragua) preist die gesteigerte Lustfähigkeit älterer Frauen; Jewgeni Jewtuschenko (Russland) brüllt ins Mikrophon; Anne Waldman (U.S.A.) singt, krächzt, kreischt, haucht: „WOMAN!“; Salah Hassan (Irak) klopft den Rhythmus seiner Verse mit den Fingern mit; Juliannes Okot Biteks (Uganda) Gedicht I Wish It Were Night verdunkelt den Himmel; Hanzel Lacayo (Nicaragua) liest eigene Texte und unzählige Übersetzungen; Udo Kawasser (Wien) tänzelt auf Spanisch um die kubanische „Mango“; Li Min-Yung (Taiwan) intoniert einen Klagegesang; Maruša Krese (Slowenien) tauscht dichtend die Welt aus; Andrea Stifts Vortrag schneidet unter die Haut; Martin Glaz Serup (Dänemark) lässt seine Texte in fünf Sprachen zugleich lesen; Andreas Unterweger schickt eine Liebeserklärung über den Atlantik; Lelawattee Manoo Rahsming (Trinidad/Tobago) bringt Babylon Granada auf den Punkt: „I didn´t understand a word – but I could feel it!“

¡VIVA LA POESÍA! (Granada, 16. – 20.02.09). Und all das vor dem besten Lyrik-Publikum der Welt: Tag für Tag kommt es in Scharen, in allen Alters- und Gesellschaftsstufen, es johlt, es juchzt, es pfeift, es brüllt: „¡Viva la poesía!“
Höhepunkt dieses siebentägigen Festes der Dichtung ist der farbenfrohe Carnaval poético, bei dem Die Täuschung und Die Lüge zu Grabe getragen werden. Einen Nachmittag lang bewegt sich die Schlange aus Tänzern, Musikern und Schaustellern zum See hinunter. Ein Turm auf Rädern dient als Lesepult: dahinter die Kolonne der Dichter – Dichter, die Autogramme geben, Dichter, die interviewt werden, Dichter, die Samba tanzen!
Dass es den Nicaraguanern mit ihrem „¡Viva la poesía!“ jedoch bitterer Ernst ist, und warum, zeigt folgendes Detail: Wenige Schritte hinter den deklamierenden, tanzenden poetas del mundo ist ein Galgen zu sehen. Der Galgen stellt den Staatspräsidenten Daniel Ortega dar – die Puppe hingegen, die (mund-)tot am Strick baumelt, ist Ernesto Cardenal, der Dichter und Volksheld …
Und eine weitere bittere Wahrheit: „Die Leute sind auch deshalb so begeistert von unseren Gedichten, weil sie sonst nichts haben.“ (Esther Dischereith, Deutschland)
EPILOG (18.02.09, während des Carnaval poético). Nach ein, zwei Stunden in der prallen Sonne schere ich aus dem Zug der Dichter aus, lasse die Polizeiabsperrung hinter mir, streife durch schattige Seitenstraßen. Vivan los puetas, steht da auf einer Wand. Während ich mir den Kopf zerbreche, was das nun heißen soll – poetas (Dichter) oder doch putas (Huren) –, steht plötzlich ein Mann hinter mir, ein armer und hungriger Mann offensichtlich, der sich zwar kaum für die paar Dollar, die ich ihm gebe, dafür aber umso mehr für meine Armbanduhr interessiert …
Ich denke an den norwegischen Dichter, der gestern im Parque Colón ausgeraubt wurde, ich denke an die Macheten, denen er sich gegenüber sah, ich denke an mein Leben, das mir lieb ist – und mache mich aus dem Staub. Ich weiß nicht, was der Mann mir nachruft. Verfolgt von Dingen, die ich nicht verstehe, renne ich Richtung Hauptstraße, haste ich Richtung Karneval, bewege ich mich dorthin, wo die Dichtung das Leben verbessern kann, zurück.

festivaldepoesiadegranada.com, c3mundos.org, andreastift.at, einstichspuren.wordpress.com

 

Andreas Unterweger, geb. 1978, lebt in St. Johann/Grafenwörth und Graz. Prosa, Lyrik, Rockmusik. Essays zu Wolfgang Bauer. Preise u. a.: manuskripte Förderpreis 2007. Die EP Morgen in Graz ist erfahr- und erwerbbar auf www.ratlos.at. Der Roman Wie im Siebenten erscheint im Herbst 2009 im Literaturverlag Droschl.

» 2 Kommentare
1"Perspektiven"
am Freitag, 22. Mai 2009 09:58von Udo Kawasser
Lieber Andreas, 
 
ich habe deine Notizen und Beobachtungen mit Genuss gelesen. Der spanisch-renaissantierende Ton der dedicatio hat mir besonders gut gefallen und auch die Beobachtungen vom Himmel herab. Dein Google-Earth-Vergleich hat mich an die lila Kuh von Milka erinnert und sehr amüsiert. In der weiteren Lektüre ist mir aufgefallen, wie unterschiedlich die Perspektiven sein können, wenn man am selben Ereignis teilnimmt. Im Gegensatz zu dir, habe ich mich in Granada nie bedroht gefühlt, aber vielleicht ist das auch nur eine Schlusspointe von dir gewesen. Wenn du Lust hast, kannst du bald meine Nicaraguabetrachtungen in den neuen Lichtungen lesen. Con saludos cordiales Udo
2Kommentar
am Mittwoch, 10. Juni 2009 10:01von Andreas Unterweger
Lieber Udo, 
vielen Dank – freut mich, dass Dir mein unmittelbar nach der Reise niedergeschriebener Bericht gefallen hat! 
Natürlich sind die Perspektiven verschieden, meine wurde eben von einem zunehmenden Unbehagen angesichts der sozialen Verhältnisse, wie ich sie wahrgenommen habe, geprägt. Die offensichtliche Armut der Menschen machte mir Kummer – und zwei, drei Mal leider auch Angst. In der Situation, die ich am Ende schildere, habe ich mich auch "in Wirklichkeit" bedroht gefühlt. (Ich war übrigens nicht der Einzige, der so etwas erlebt hat.) 
Ich bin schon gespannt auf Deinen Text in den Lichtungen! 
Liebe Grüße und bis bald 
Andreas
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