07 / 2000
  30 Jahre „Südosteuropäische Geschichte“: „Kein Zurücklehnen im Lehrstuhl!“

Die Abteilung für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz feierte ihr 30-jähriges Bestehen mit einem internationalen Workshop. Südosteuropa-Experten diskutierten unter anderem darüber, wie ihre Forschungsergebnisse für die Öffentlichkeit besser nutzbar gemacht werden können.

Mit zehn wissenschaftlichen MitarbeiterInnen zählt die in das Institut für Geschichte integrierte Abteilung für Südosteuropäische Geschichte nicht gerade zu den Giganten des Universitätsbetriebes. Die vielfältigen Aktivitäten der Grazer Südosteuropa-Experten, die weit über das Angebot von Lehrveranstaltungen hinausgehen, garantieren aber trotz der im Gange befindlichen Umorganisation des österreichischen Universitätssektors das Weiterbestehen der relativ kleinen Abteilung, deren Spezialgebiet die historisch-anthropologische Balkanforschung (insbesondere Familienforschung) ist. „Das Thema Südosteuropa soll sogar in den Rang eines von vier gesamtuniversitären Forschungsschwerpunkten erhoben werden“, freut sich Prof. Karl Kaser, der die Abteilung seit 1996 leitet.
Darüber hinaus fungiert Kaser auch als Direktor des universitären Center for the Study of Balkan Societies and Cultures (CSBSC), das sich momentan – im Rahmen des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa – mit dem Erstellen von zusätzlichen (nichtnationalistischen) Materialien für den Geschichteunterricht in der Region beschäftigt.

Leistungsbilanz
Auch wenn die Abteilung eher unter Insidern bekannt ist, arbeitet sie auch für die Allgemeinheit: So war sie zur Zeit der Bosnien- und Kosovokrise Anlaufstelle für Journalisten und Flüchtlings-Beauftragte und stellt häufig Referenten bei Diskussionsveranstaltungen.
Im Rahmen des anlässlich des Jubiläums veranstalteten Workshops zum Thema Die Zukunft einer historischen Südosteuropaforschung galt ebenfalls ein Schwerpunkt dem Nutzen der akademischen Südosteuropa-Forschung für die Öffentlichkeit. 
 

Univ.-Prof. Dr. Karl Kaser, Leiter der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte (l.): Engagement für eine öffentlichkeitswirksame Geschichtswissenschaft; Univ.-Prof. Dr. Konrad Clewing, München (M.): „Geschichtswissenschaft darf sich nicht instrumentalisieren lassen“;  Univ.-Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Freiburg (r.):  Perspektivenwechsel durch Beschäftigung mit Geschichte

Der Münchener Historiker Konrad Clewing zog eine Leistungsbilanz über den Umgang der Wissenschafter mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. Er lobte die kritische Grundhaltung der Experten gegenüber der verbreiteten Instrumentalisierung der Geschichte. „In manchen Medienberichten wurde ja eine Art Balkanmassaker-Tradition konstruiert!“, so Clewing. Aber auch mit Kritik an den Kollegen sparte er nicht: So sei der Bosnienkrieg von den Historikern regelrecht verschlafen worden, und insgesamt hätten die Experten während der Balkankrisen zu wenig öffentlichkeitstaugliche Informationen geliefert. Auch die Zusammenarbeit westlicher Historiker mit Kollegen aus den betroffenen Regionen sei verbesserungswürdig.

Perspektivenwechsel
Clewings Fachkollege Joachim von Puttkamer berichtete von Erfolgen auf kleinerer Ebene: An der Universität von Freiburg im Breisgau wurde ein Intensivseminar für Hörer aller Fakultäten (wobei ein Drittel der Studenten aus Südosteuropa stammte) abgehalten, das über die geschichtlichen Hintergründe der aktuellen Balkankrisen aufklären sollte. „Innerhalb von drei Wochen intensiver Beschäftigung mit dem Thema ist schon ein Perspektivenwechsel möglich“, resümiert Puttkamer. Ein wesentlicher Teil des Seminars war übrigens der osmanischen Periode gewidmet, „um zu zeigen, dass die Balkanregion auch über eine Tradition der Stabilität verfügt“.
Den Abschluss des Expertenworkshops bildete eine frei zugängliche Diskussion zum Thema Forschen für die Öffentlichkeit, zu der die angesprochene Öffentlichkeit leider nicht sehr zahlreich erschienen ist. Heftig diskutiert wurde dabei der Antagonismus zwischen Wissenschaft und Journalismus.
Die Verbreitung von Forschungsergebnissen innerhalb der akademischen Gemeinschaft ist auch dem Leiter der Grazer Südosteuropäischen Geschichte entschieden zu wenig: „Für mich gibt es kein gemütliches Zurücklehnen im Lehrstuhl!“, so Kaser. 
Ujs

 

 
JULI AUSGABE WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG