Ärztepräsident Routil:
„Die Krankenkassen haben nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern auch ein Leistungsdefizit.“
Selbstbehalte müssen Wegweiser sein

Der steirische Ärztekammerpräsident Wolfgang Routil kann sich Selbstbehalte als Signale zur Stärkung der Gesundheitsvorsorge vorstellen. Für die Basisfinanzierung der Krankenkassen hält er Beitragserhöhungen und steuerliche Maßnahmen für sinnvoller.

Die Ärzteschaft scheint recht uneins in der Selbstbehalt-Frage?
Wir Ärzte behandeln die Frage des Selbstbehalts auf der Sachebene und nicht als Parteipolitiker. Es gibt gute Argumente dagegen und dafür – die Schwarz-Weiß-Malerei in der öffentlichen Diskussion bewegt sich auf sehr bescheidenem Niveau und lässt kaum Raum für eine ausgewogene Diskussion.

Also diskutieren wir ausgewogen. Was spricht dafür, was dagegen?
Wäre ein transparentes Selbstbehaltsystem grundsätzlich unsozial, müsste sich der Hauptverband (der Sozialversicherungsträger, Anm. d. Red.) den Vorwurf gefallen lassen, mehr als 700.000 Eisenbahner, öffentlich Bedienstete und Gewerbetreibende über Jahre nicht sozial behandelt zu haben.
Die Ideologiekeule hat in dieser Debatte auch deswegen nichts verloren, weil die Gebietskrankenkassen ihre Versicherten zwar nicht so offensichtlich, aber durchaus kräftig zur Kasse bitten. Vor allem Heilbehelfe sind hier oft weit teurer als bei den Kassen mit offenen Selbstbehalten.
Selbstbehalte, die keine Zugangsbarrieren für notwendige ärztliche Leistungen sind, sondern Wegweiser für die Versicherten, könnten durchaus Sinn machen – manche Selbstbehalte sind aus meiner Sicht das komplett falsche Signal, z. B. 70 bis 85 Prozent Zuzahlung bei der FSME-Impfung, die auch den GKK-Versicherten zugemutet wird …

Heißt das, Sie wollen weniger Selbstbehalte …
Als Finanzierungsinstrument gegen die Kassendefizite ist der Selbstbehalt sicher nicht optimal. Sozial und gesundheitspolitisch intelligent eingesetzt, könnten mit seiner Hilfe Signale zur Stärkung der Vorsorge gesetzt werden und er könnte zu mehr Transparenz führen, weil dann endlich auch ASVG-Versicherte die Information bekommen, was die Kasse für sie tut und was es kostet.

Investitionen in das österreichische Gesundheitswesen unterentwickelt?

Als Finanzierungsinstrument würde der Selbstbehalt damit entfallen?
Er ist nicht geeignet, Löcher im Kassenbudget zu stopfen. Er könnte aber helfen, jene Leistungen zu finanzieren, auf die GKK-Versicherte derzeit überhaupt keinen Anspruch haben – außer sie zahlen es aus der eigenen Tasche.
Den hohen Anteil, der bereits jetzt privat für Gesundheit ausgegeben wird, verschweigen die Kassenvertreter gerne: Er beträgt immerhin schon ein Drittel der öffentlichen Ausgaben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt.
Wir haben der steirischen GKK bereits Mitte des Vorjahres eine Liste von rund 40 Leistungen vor allem im Bereich der Früherkennung von Krankheiten vorgelegt, deren Einführung aus ärztlicher Sicht sinnvoll ist. Die könnten über moderate, gestaffelte Selbstbehalte finanziert werden. Den Selbstbehalt aber für die generelle Finanzierung einzusetzen, würde bedeuten, ihn als Steuerungsmechanismus zu verlieren.

Also kein Einwand gegen eine generelle Beitragserhöhung, wie sie die Krankenkassen präferieren?
Die Investitionen in die österreichische Gesundheitsversorgung sind unterentwickelt. Sie liegen im volkswirtschaftlichen Vergleich um einen zweistelligen Milliardenbetrag unter denen von Deutschland. Dass die Lebenserwartung der Österreicherinnen und Österreicher seit 1970 um mehr als sieben Jahre gestiegen ist, fand im sozialen Krankenversicherungssystem bisher keinen nennenswerten Niederschlag.
Das hat dazu geführt, dass es im sozialen Krankenversicherungssystem nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern auch ein erhebliches Leistungsdefizit gibt.Deswegen ist ein Investitionsschub über die Beiträge oder Steuern gerechtfertigt.
Eine Finanzierung der Gesundheitserhaltung über Alkohol- und Tabaksteuer oder auch risikoreiche Freizeitbeschäftigungen scheint mir sozial verträglich und würde auch dem Verursacherprinzip entsprechen. Das würde, glaube ich, eine große Mehrheit in Österreich als gerecht empfinden.

Letzte Frage: Sie haben sich für eine Versicherungspflicht statt des Pflichtversicherungssystems ausgesprochen …
Hätten wir diese, entfiele die Selbstbehaltdiskussion. Die Kunden würden dann entscheiden, ob sie eine Kasse mit mehr Leistungen und mehr Selbstbehalten oder geringeren Leistungen und weniger Selbstbehalten bevorzugen. Ich sehe aber Anzeichen, dass über eine grundlegende Reform des sozialen Krankenversicherungssystems offener diskutiert wird als in der Vergangenheit.
 


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