11 / 2000
  Symposion in Graz befasste sich mit den Problemen der „verwirrten alten Menschen“
Der Patient ist nicht für's Heim da

Jeder Vierte über 80 gilt als dement. Das heißt: Er hat Ausfallserscheinungen, die von Alzheimer bis zur totalen Verwirrtheit reichen. Da die Gesellschaft rapid altert – in der Steiermark steigt bis 2030 der Anteil der Über-60-Jährigen auf ein Bevölkerungsdrittel! – kommen noch massive Probleme auf uns zu, deren wir uns nur unzureichend bewusst sind. „Der verwirrte Mensch“, ein Symposion im Grazer Meerscheinschlössl, zeigte die Pobleme auf und stellte erfolgreiche Modelle aus dem Ausland vor.
 

In den vergangenen Jahren änderte sich das Bild der „Neueintritte“ in die Alten- und Pflegeheime: Sie kommen in einem immer späteren Stadium der Demenz, die Hälfte stirbt bereits im ersten Jahr. Das stellt an das Personal der Heime Anforderungen, mit denen es bislang weniger konfrontiert war: Dass es neben der Pflege auch Sterbebegleitung leisten muss.
Oft sind es Kleinigkeiten, welche die Befindlichkeit in den Heimen drastisch verbessern. So berichtete Heimleiter Michael Schmieder aus dem Schweizerischen Wetzikon, dass die Medikation der Bewohner zur Gänze abgesetzt werden konnte, seit die Patienten in strombetriebenen „Wiegebetten“ schlafen. Sonst herrscht ja die Praxis, sie mit schwerer und teurer Chemie „ruhig zu stellen“. Es gilt auch, den Bedürfnissen der Patienten entgegenzukommen und mit baulichen Maßnahmen darauf zu reagieren: Der bei Dementen üblichen „Gehflüchtigkei“ begegnete man in Wetzikon nicht damit, sie in Gitterbetten zu stecken oder zu fesseln. Man baute einen stufenlosen „Rundgang“– bei dem die wanderlustigen Alten sich nicht verirren können und immer zum Ausgangspunkt zurückkehren. Diese Maßnahme führte laut Schmieder dazu, dass die sonst häufigen Konflikte zwischen Bewohnern und Personal um 80 Prozent sanken.

Das Heim ist für den Patienten da – und nicht umgekehrt!
Auch versucht man, einen besonders „sinnes- und erlebnisorientierten“ Alltag zu ermöglichen und dem altersüblichen Verlust der sozialen Funktionen entgegenzuwirken: Zum gemeinsamen Wohnen kommen auch gemeinsames Kochen und Essen. Dabei ist es übrigens nicht verpönt, mit den Fingern zu essen. Das sieht vielleicht ungewohnt aus, aber dafür spricht es die Sinne an und fördert das Wohlbefinden.
Geradezu anarchisch mutet für gelernte Österreicher an: Der Patient ist nicht für das Heim da, sondern umgekehrt. Der Dienstplan des Personals richtet sich nach den Bedürfnissen der Bewohner! Die Erfahrung aus diesem Usus: alle Beteiligten profitieren davon, denn Stimmung und Kommunikation zwischen Personal, Bewohnern und Angehörigen verbesserten sich deutlich.

Wohlbefinden und Lebensqualität steigen
Die wichtigste Frage beim Symposion für Angehörige, Pflege-, medizinisches und Verwaltungspersonal: Was kostet das? Der soziale Kahlschlag ermöglicht bei uns keine aufwändigen Investitionen und wird noch viele gute Initiativen im Keim ersticken. In summa, so der Schweizer Experte, sei sein Modell nicht teurer als andere Einrichtungen. Das Wichtigste jedoch: Wohlbefinden und Lebensqualität steigen enorm. Gefragt seien derzeit Kreativität und Courage, denn manchmal müsse man sich auch über praxisferne Vorschriften hinwegsetzen, die das Gute verhindern.
Was beim Symposion (vom Sozialen Zentrum Graz-Nord mit der Lehranstalt für Sozialberufe der Caritas, Arge Steirischer Heimleiter und der Uni Graz ausgerichtet) besonders auffiel: Wir alle, seien wir Angehörige, Pfleger, Verwalter, Mediziner oder nur Steuerzahler, brauchen viel mehr Information. Von Tipps im alltäglichen Umgang mit Alten bis hin zu rechtlichen Fragen. Dieser Artikel sei ein Beitrag dazu. 
cg

 

 
NOVEMBER-AUSGABE
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG