10 / 2001
  „Die Inhalte sind irrelevant geworden”

Bei der Tagung „Wie viel Bildung braucht der Markt – wie viel Markt verträgt die Bildung?” der Akademie Graz Mitte September hielt die Frankfurter Erziehungswissenschafterin Ingrid Lisop ein viel beachtetes Referat zum Thema „Selbstverstümmelung und andere Scheinrealitäten bildungspolitischer Trends”. Christian Stenner führte mit der Wirtschaftspädagogin, die auch als Bildungspolitik-Beraterin und Unternehmensberaterin tätig ist,  im Anschluss an das Symposium das folgende Gespräch.
 
Univ.Prof. Dr Ingrid Lisop: „Bildungs- und Fortbildungsangebote werden nur mehr nach formalen Kriterien evaluiert.” 

Zurzeit herrscht starker Druck auf alle Arbeitnehmer zur permanenten flexiblen Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarktes – auch, was den dauernden Erwerb neuer Qualifikationen betrifft. Erreicht dieser Druck wirklich, was er bezweckt?
Anpassungen an den technisch-ökonomischen Wandel sind erforderlich, einerseits, damit die Menschen nicht unglücklich werden, und aus ökonomischer Sicht, damit die Qualität stimmt. Aber: Damit diese Anpassung erfolgreich vor sich geht, muss man nicht nur umstellungsfähig sein, sondern sich auch auf das Geforderte  einlassen können. Ich glaube, dass diese Wechselwirkung von Sich-einlassen-Können, Qualifikation-Haben, Identität-Haben und dem Wechsel-gewachsen-Sein aus dem Blick verloren wird. Dann erreicht man nicht mehr das, was man erreichen will, es entsteht eine Oberflächlichkeit, die nur noch über alles hinweghuscht, und die ist nicht mit Wandlungsfähigkeit, mit Flexibilität gleichzusetzen. 

Es scheint derzeit  unbestritten, dass auch Bildung und Ausbildung Marktkriterien genügen müssen, rational im Sinne des Marktes sein müssen …
Also: Ich halte Markt nicht für etwas Rationales – diese Behauptung ist pure Ideologie. Im Gegenteil: Die Zielstellung, die ja für rationales Vorgehen erforderlich ist, gerät aus dem Blick und wird beliebig, weil der Verkauf gegen Geld im Vordergrund steht – und der Verkauf gegen Geld ist an sich nicht sinnstiftend. Das gilt auch für Bildungs- und Fortbildungsangebote, die um des Geldes willen verkauft werden; ob die wirklich etwas bringen, wird nur mehr nach rein formalen Kriterien evaluiert. Darum haben wir ja im Bildungswesen einen Methoden-Boom, während die kritische Frage nach den Inhalten tabu ist.

Sie haben in ihrem Referat eine Bürgerbewegung in Sachen Bildung eingefordert – wer könnte eine solche Bewegung tragen und was müsste ihre Stoßrichtung sein?
Im Augenblick ist die Schmerzgrenze offenbar noch nicht erreicht, die eine solche Bewegung spontan entstehen ließe – das hat vermutlich mit der Informationstechnologie zu tun: Man hofft, dass der Fetisch Lernsoftware es „schon richten wird”. Ich befürchte aber, dass es eher zu einer gesellschaftlichen Spaltung als zu einer breiten demokratischen Bewegung kommt: Wenn die Situation unerträglich wird, werden die Wohlhabenden eben ihren Kindern den Privatschul- und Privatuni-Besuch finanzieren.

Damit wäre einer möglichen Bewegung gleichzeitig die Spitze abgebrochen …
Ja, das ist eher meine Befürchtung. Das Kontraproduktive an den jetzigen Trends in der Bildungspolitik ist ja, dass alles, was man als fortschrittlich, rational, innovativ und entwicklungsbezogen ausgibt, letztlich kontraproduktiv wirkt und Qualität, Demokratie, Partizipation, aber auch ökonomische Produktivität tendenziell eher beschädigt als nützt. Seit dem Scheitern der Curriculum-Reform, also seit 1975, spätestens 1980, sind die Inhalte irrelevant geworden, und es kommt nur mehr drauf an, sich fesch präsentieren zu können.

In diesem Punkt treffen sich linke und konservative KritikerInnen des Bildungswesens.
In der Tat gibt es diesen Punkt, wo sich konservative und linksliberale und linke Kräfte im Grunde immer getroffen haben, und zwar bei der Notwendigkeit der Schaffung der geistigen Voraussetzungen für innovatives produktives Schaffen und bei der Notwendigkeit des Trainings dieser Voraussetzungen. Darin sind sie sich immer einig gewesen. In den Inhalten haben sie differiert und sie haben darin differiert, wie viel Abweichungs- und Autonomiespielräume man Kindern und Jugendlichen und Lernenden zugestehen kann – das war die Differenz. Aber in der Schulung, im Training der geistigen Voraussetzungen waren sie sich immer näher als das je jemand geglaubt hat.

Der aktuelle bildungspolitische Trend mit einer Betonung der kurzfristigen Marktorientierung schafft also langfristig ein Defizit mit unabsehbaren gesellschaftlichen Auswirkungen …
Ich würde es so formulieren: Diese geistigen Voraussetzungen, eben das, was man kognitive Flexibilität nennt – also das, was man an Inhalten lernt, wie die Psychologie sagt, ,in unterschiedliche Repräsentationssysteme‘ bringen zu können, die Dinge von unterschiedlichen Seiten betrachten, sie drehen und wenden zu können – das ist eine Fähigkeit, die nicht nur für Demokratie und Partizipation ganz unverzichtbar ist, sondern auch bei der Bewältigung traumatischer politischer Verhältnisse, wie wir sie im Moment haben. Ohne Flexibilität und die Fähigkeit, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, wird die Zukunft desaströs, das ist meine Überzeugung. 


 
OKTOBER-AUSGABE
WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG