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„Die Inhalte sind
irrelevant geworden”
Bei der Tagung „Wie viel Bildung braucht der
Markt – wie viel Markt verträgt die Bildung?” der Akademie Graz Mitte
September hielt die Frankfurter Erziehungswissenschafterin Ingrid Lisop
ein viel beachtetes Referat zum Thema „Selbstverstümmelung und andere
Scheinrealitäten bildungspolitischer Trends”. Christian Stenner führte
mit der Wirtschaftspädagogin, die auch als Bildungspolitik-Beraterin
und Unternehmensberaterin tätig ist, im Anschluss an das Symposium
das folgende Gespräch.
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Univ.Prof. Dr Ingrid Lisop: „Bildungs-
und Fortbildungsangebote werden nur mehr nach formalen Kriterien evaluiert.” |
Zurzeit herrscht starker Druck auf alle Arbeitnehmer
zur permanenten flexiblen Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarktes
– auch, was den dauernden Erwerb neuer Qualifikationen betrifft. Erreicht
dieser Druck wirklich, was er bezweckt?
Anpassungen an den technisch-ökonomischen
Wandel sind erforderlich, einerseits, damit die Menschen nicht unglücklich
werden, und aus ökonomischer Sicht, damit die Qualität stimmt.
Aber: Damit diese Anpassung erfolgreich vor sich geht, muss man nicht nur
umstellungsfähig sein, sondern sich auch auf das Geforderte
einlassen können. Ich glaube, dass diese Wechselwirkung von Sich-einlassen-Können,
Qualifikation-Haben, Identität-Haben und dem Wechsel-gewachsen-Sein
aus dem Blick verloren wird. Dann erreicht man nicht mehr das, was man
erreichen will, es entsteht eine Oberflächlichkeit, die nur noch über
alles hinweghuscht, und die ist nicht mit Wandlungsfähigkeit, mit
Flexibilität gleichzusetzen.
Es scheint derzeit unbestritten, dass
auch Bildung und Ausbildung Marktkriterien genügen müssen, rational
im Sinne des Marktes sein müssen …
Also: Ich halte Markt nicht für etwas Rationales
– diese Behauptung ist pure Ideologie. Im Gegenteil: Die Zielstellung,
die ja für rationales Vorgehen erforderlich ist, gerät aus dem
Blick und wird beliebig, weil der Verkauf gegen Geld im Vordergrund steht
– und der Verkauf gegen Geld ist an sich nicht sinnstiftend. Das gilt auch
für Bildungs- und Fortbildungsangebote, die um des Geldes willen verkauft
werden; ob die wirklich etwas bringen, wird nur mehr nach rein formalen
Kriterien evaluiert. Darum haben wir ja im Bildungswesen einen Methoden-Boom,
während die kritische Frage nach den Inhalten tabu ist.
Sie haben in ihrem Referat eine Bürgerbewegung
in Sachen Bildung eingefordert – wer könnte eine solche Bewegung tragen
und was müsste ihre Stoßrichtung sein?
Im Augenblick ist die Schmerzgrenze offenbar
noch nicht erreicht, die eine solche Bewegung spontan entstehen ließe
– das hat vermutlich mit der Informationstechnologie zu tun: Man hofft,
dass der Fetisch Lernsoftware es „schon richten wird”. Ich befürchte
aber, dass es eher zu einer gesellschaftlichen Spaltung als zu einer breiten
demokratischen Bewegung kommt: Wenn die Situation unerträglich wird,
werden die Wohlhabenden eben ihren Kindern den Privatschul- und Privatuni-Besuch
finanzieren.
Damit wäre einer möglichen Bewegung
gleichzeitig die Spitze abgebrochen …
Ja, das ist eher meine Befürchtung. Das
Kontraproduktive an den jetzigen Trends in der Bildungspolitik ist ja,
dass alles, was man als fortschrittlich, rational, innovativ und entwicklungsbezogen
ausgibt, letztlich kontraproduktiv wirkt und Qualität, Demokratie,
Partizipation, aber auch ökonomische Produktivität tendenziell
eher beschädigt als nützt. Seit dem Scheitern der Curriculum-Reform,
also seit 1975, spätestens 1980, sind die Inhalte irrelevant geworden,
und es kommt nur mehr drauf an, sich fesch präsentieren zu können.
In diesem Punkt treffen sich linke und konservative
KritikerInnen des Bildungswesens.
In der Tat gibt es diesen Punkt, wo sich konservative
und linksliberale und linke Kräfte im Grunde immer getroffen haben,
und zwar bei der Notwendigkeit der Schaffung der geistigen Voraussetzungen
für innovatives produktives Schaffen und bei der Notwendigkeit des
Trainings dieser Voraussetzungen. Darin sind sie sich immer einig gewesen.
In den Inhalten haben sie differiert und sie haben darin differiert, wie
viel Abweichungs- und Autonomiespielräume man Kindern und Jugendlichen
und Lernenden zugestehen kann – das war die Differenz. Aber in der Schulung,
im Training der geistigen Voraussetzungen waren sie sich immer näher
als das je jemand geglaubt hat.
Der aktuelle bildungspolitische Trend mit einer
Betonung der kurzfristigen Marktorientierung schafft also langfristig ein
Defizit mit unabsehbaren gesellschaftlichen Auswirkungen …
Ich würde es so formulieren: Diese geistigen
Voraussetzungen, eben das, was man kognitive Flexibilität nennt –
also das, was man an Inhalten lernt, wie die Psychologie sagt, ,in unterschiedliche
Repräsentationssysteme‘ bringen zu können, die Dinge von unterschiedlichen
Seiten betrachten, sie drehen und wenden zu können – das ist eine
Fähigkeit, die nicht nur für Demokratie und Partizipation ganz
unverzichtbar ist, sondern auch bei der Bewältigung traumatischer
politischer Verhältnisse, wie wir sie im Moment haben. Ohne Flexibilität
und die Fähigkeit, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, wird die
Zukunft desaströs, das ist meine Überzeugung. |