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„Breite gesellschaftliche
Kooperation“ für Grundbildungsprogramme gefordert
Bis zu 300.000 Menschen in unserem Land leiden unter Grundbildungsdefiziten
– sie haben gravierende Probleme beim Erfassen einfacher Texte, beim Schreiben
und bei simplen Rechenoperationen. Die Auswirkungen dieser Bildungsmängel
auf die Berufschancen der Betroffenen sind desaströs. Bei einer Fachtagung
Ende Oktober, veranstaltet von den Vereinen PASCH und ISOP mit hauptsächlicher
Unterstützung durch das AMS, wurde versucht, den Schleier des Tabus
zu lüften, der nach wie vor über sekundärem Analphabetismus
und ähnlichen Defiziten liegt.
„Defizite bei der Basisbildung sind diskriminierend – ohne diese Kulturfertigkeiten
ist eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt nicht möglich“,
konstatierte Mag. Karl-Heinz Snobe vom Arbeitsmarktservice Steiermark
in seiner Einleitung, und AK-Vize Fritz Ploner betonte, dass „eine
gute Sozialpolitik nicht ohne eine durchdachte Bildungspolitik auskommt.“
Zwei FachreferentInnen aus Deutschland gingen in ihren ausführlichen
Statements Fragen der Diagnose und der Kompensation der Bildungsmängel
nach.
Qualitätsmanagement für Schulen
Prof Dr. Dr. Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität
Berlin berichtete über eine 1995 durchgeführte OECD-Studie, bei
der allein in Deutschland die Grundbildungs-Kompetenzen von 2000 Personen
zwischen 16 und 65 Jahren getestet wurden: Abgefragt wurde das Verständnis
eines simplen Zeitungstextes, eine einfache Addition und das Verständnis
eines Diagrammes. Das Ergebnis: Deutschland liegt im internationalen Vergleich
zwar deutlich besser als etwa die USA und Großbritannien, die Ergebnisse
haben sich aber seit 1940 verschlechtert: Die 16- bis 24-Jährigen
schneiden deutlich schlechter ab als die 40- bis 49-Jährigen. Detail
am Rande. Auch unter Uni-AbsolventInnen und StudentInnen gibt es einen
kleinen Prozentsatz von Personen, die Schwierigkeiten bei Additionen und
beim Lesen von Diagrammen haben …
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Der Aktualität des Themas entsprechend besuchten
an die 150 TeilnehmerInnen die von den Vereinen ISOP und PASCH veranstaltete
Tagung |
Drei Konsequenzen seien aus diesen Ergebnissen zu ziehen, fordert Lehmann:
Die allgemein bildenden Schulen müssten qualitativ besser werden –
„der Kompetenzstand der SchülerInnen ist nicht so, wie er gemäß
den Lehrplänen sein sollte“, in allen Bildungsinstitutionen müssten
Maßnahmen des Qualitätsmanagements eingeführt werden und
schließlich müssten „jene PädagogInnen, die an der Verbesserung
des Schulsystems arbeiten“ intensiver mit jenen kooperieren, die sich vor
Ort für einen besseren Unterricht einsetzen.
Dr. Monika Tröster vom deutschen Institut für Erwachsenenbildung
betonte, dass Grundbildung heute weit mehr bedeute als Lesen, Schreiben
und Rechnen: „PC-Kenntnisse, Selbstorganisation, Teamfähigkeit, Selbsteinschätzungsfähigkeiten,
Grundkenntnisse des Englischen … all dies ist heute unerlässlich.“
Gemeinsam mit KollegInnen hat Tröster ein erfolgreiches Modell zur
Kompensation von Grundbildungsdefiziten bei Lehrlingen erarbeitet, das
in enger Zusammenarbeit zwischen Berufsschule und Betrieb umgesetzt wird.
Eine neue Unterklasse?
Eine scharfsichtige Diagnose der Rahmenbedingungen, unter welchen Grundbildungsdefizite
entstehen, stellte schließlich der Grazer Sozialwissenschafter Dr.
Hans Georg Zilian. Eine Politik, die vordergründige Chancengleichheit
predige, aber keine egalitäre Grundhaltung mehr vertrete, müsse
notgedrungen gesellschaftliche Ungleichheit hervorbringen, die sich eben
auch im Bildungsniveau ausdrücke. „Die Grundbildung wird von der Schule
an die Familie relegiert, die diese Funktion oft aus sozialen Gründen
nicht erfüllen kann.“ Zilians Fazit: „Falls der Befund wirklich stimmt,
dass der funktionale Analphabetismus zunimmt, ist dies der Indikator für
die Herausbildung einer neuen Unterklasse.“
Für die Veranstalter – Hannes Körbler von PASCH und
Mag. Otto Rath von ISOP – steht jedenfalls fest: „Nicht alle Jugendlichen
gewinnen Lehrlingsolympiaden, das andere, dunklere Ende des Spektrums zu
betrachten ist nicht nur um des sozialen Friedens willen notwendig, sondern
rechnet sich auch volkswirtschaftlich.“ Für entsprechende kompensatorische
Programme müssen finanzielle Mittel zur Verfügung stehen: „Eine
breite gesellschaftliche Kooperation in der Entwicklung und Durchführung
von langfristigen Bildungsprogrammen braucht nicht nur helle Köpfe
aus dem Bildungs- und Sozialbereich, sondern auch die Wirtschaft und Unternehmer
als Partner in der Finanzierung.“
cs
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