05 / 2001
  Erlesenes und Ungelesenes

Über 150 Verlage präsentierten Ende April auf der Österreichischen Buchmesse wieder Klassiker und Neuerscheinungen aus ihren Programmen – keine Rede von einer Krise des gedruckten Wortes. Aber: Die Zukunft steht zweifellos im Zeichen des Miteinander von gedruckten und elektronischen Medien. Erstmals waren im Rahmen der Buchmesse daher europäische Online-Publizisten und Dokumentare zu Gast in Graz, um mögliche Entwicklungen und Zukunftsszenarien zu diskutieren.

Highlights der Buchmesse waren diesmal allerdings nicht die vielen zu lesenden Bücher, sondern die … ungelesenen. Julius Deutschbauer, Gründer und Bibliothekar der Bibliothek ungelesener Bücher, interviewte zwei Nachmittage lang Grazer und Grazerinnen zu Büchern, die sie zwar besitzen aber nicht gelesen haben. Deutschbauers Interesse gilt vornehmlich den Erzählungen, die sich hinter den ungelesenen Büchern verbergen und die er den „Nicht-Lesern“ durch vielfach überraschende Fragen zu entlocken versucht – wie etwa: „Wie oft haben Sie Ihr Buch nicht gelesen?“ Die Antworten reichen von „Noch nie!“ (Franz Morak) über „3 Mal“ (Werner Schandor) bis hin zu komplizierteste Live-Berechnungen, wie oft man das Buch noch nicht gelesen haben könnte.
 

Camera-Austria-Herausgeberin Christine Frisinghelli im Gespräch mit Julius Deutschbauer.

Zuweilen kommt aber auch Deutschbauer selbst aus dem Konzept. Auf die Frage „Welches Wetter haben wir heute?“ antwortete die Schriftstellerin Monika Wogrolly: „Ihre Bierfahne irritiert mich, Herr Deutschbauer.“ Ein eilig gelutschtes Frischebonbon konnte rasch Abhilfe schaffen. 
Welche Gründe gibt es eigentlich, Bücher nicht zu lesen? In Frage kommen Zeitmangel, Analphabetismus und Unlust, zuweilen aber auch der Inhalt. Ex-Rektor Helmut Konrad hat die Lektüre von Don DeLillos „Unterwelt“ verweigert, denn: „Ein Buch, in dem über 40 Seiten beschrieben wird, wie ein Baseball fliegt, kann man wirklich nicht lesen.“ 
Seit 1997 hat Deutschbauer seine mittlerweile 450 Interviews und folglich fast ebenso viele Bücher umfassende Bibliothek der ungelesenen Bücher zusammengetragen. Häufigstes ungelesenes Buch ist die Bibel (15 Nennungen), auf den Plätzen liegen Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust und Musils Mann ohne Eigenschaften, den etwa H.C. Artmann nicht gelesen hat („Da lese ich ja lieber Micky Maus.“). Zur Zeit ist die Bibliothek im Wiener Freud Museum untergebracht.

Informationen:
www.basis-wien.at/cgi-bin/o/2132
www.buchmesse.at
 

 
MAI-AUSGABE KUNST UND KULTUR