07 / 2000
  Mit der Stoa gegen die „produktivistische Hölle“

Im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark organisiert der Grazer Univ.-Dozent Dr. Hans Georg Zilian „Denkwerkstätten“ zum Thema „Steuerungsebenen der Arbeitsmarktpolitik“ – und scheut sich nicht, dieses Thema sehr grundsätzlich anzugehen. Mit Christian Arnsperger von der Katholischen Universität Leuwen hatte er am 29. Juni einen jungen Intellektuellen zu Gast, der eine existenzielle Analyse des „Turbo-Kapitalismus“ unternahm und zu überraschenden Lösungsvorschlägen gelangte.

„Wer wird in der produktivistischen Hölle die Surfer ernähren?“ war die einleitende provokante rhetorische Frage Arnspergers. Denn, so sei zu konstatieren: Trotz zunehmender Produktivität – immer weniger Arbeitsstunden genügen für immer rasanteres materielles Wachstum – lässt die Macht der neoliberalen Restauration alle Bestrebungen zur Entkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit unrealisierbar erscheinen. Die neoliberale Ideologie hält es für einen „Mangel an Tugend“, kein Einkommen zu haben – die Betroffenen hätten einfach die Verantwortung nicht wahrgenommen, etwas aus ihren Anlagen zu machen. Aber auch die klassische Sozialdemokratie steht ebenso wie die Anhänger des „blairistischen“ „dritten Weges“ der Idee eines Grundeinkommens negativ gegenüber: Erstere, so Arnsperger, wolle Ungleichheiten „im Namen der Solidarität“ aufrecht erhalten, damit die Anreize zu sozial optimaler Anlage des Kapitals nicht verloren gehen; letztere gestehen  Solidarität nur gegenüber jenen Mitgliedern der Gesellschaft zu, die sich ihrerseits solidarisch gegenüber der Gesellschaft verhalten und bereit sind, ihnen zugewiesene Arbeiten zu erledigen.
 

Arnsperger: Grundeinkommen plus 
Beschäftigung mit Philosophie als Rezept gegen die Spaltung der Gesellschaft?

Der „dritte Weg“: bloß eine Variante der neoliberalen Ideologie? 
Letztere Konzeption unterzog Arnsperger einer herben Kritik: „Ich habe das Gefühl, dass die so genannte ,soziale Nützlichkeit’  dieser angeblich ,nicht marktorientierten’  Tätigkeiten sich darauf beschränkt, den sozial-moralischen Rahmen der Marktwirtschaft zu pflegen“ … der herrschende Diskurs der „social inclusion“ verlangt von den Menschen, die keine „normale“ Arbeit finden, dass sie statt dessen steuergeldfinanziert Aktivitäten verrichten, die den Akteuren des weltmarktorientierten Sektors ins Bild passen“. Hinter dem „dritten Weg“ verberge sich, so der studierte Volkswirt, letztendlich der Versuch, einer bestimmten Ideologie zur Vorherrschaft zu verhelfen: „Durch moralische Forderungen und durch die realen Möglichkeiten des Kapitals, sich der Besteuerung zu entziehen, soll der Pluralismus der Auffassungen vom ,guten Leben’ so begrenzt werden, dass der individuelle Übergang zwischen Markt und ,Teilnahme’“ – (der Verrichtung so genannter „nicht  marktfähiger“ Tätigkeiten) – „sich in die gewinnbringende Akkumulation und die dauernde Suche nach Profitmöglichkeiten nahtlos einfügt“. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft werde damit ebenso wenig überwunden wie durch originär neoliberale oder klassisch sozialdemokratische Konzepte.

„Arbeit an sich selbst“ statt materieller Akkumulation
Im Verhältnis zur Radikalität der Analyse erschienen letztendlich die von Arnsperger präsentierten Lösungsvorschläge disproportional milde – und gleichwohl angesichts der Hegemonie der neoliberalen Ideologie kaum realisierbar:  Soziale Gerechtigkeit könne nur erreicht werden, wenn die „existenziellen Fundamente“ der Gesellschaft verschoben würden. Unter  kapitalistischen Bedingungen sei die fortwährende Akkumulation die einzige Möglichkeit, der existenziellen Unsicherheit zu entgehen, im Sinne Thomas Hobbes’ „den Tod hinauszuschieben“; der Besitz von Kapital unabdingbar dafür, sich die Arbeit anderer zu diesem Zweck anzueignen. Existenzielle Sicherheit könne aber auch durch nicht materielle Mittel erreicht werden – durch „Arbeit an sich selbst“. Neben ein Grundeinkommen zur Absicherung der materiellen Bedürfnisse – finanziert etwa durch eine Tobin-Steuer auf spekulative  Transaktionen – müsse daher, so Arnsperger, die Finanzierung charakterbildender Aktivitäten (etwa „die Lektüre von stoischen, buddhistischen, christlichen, islamischen und anderen Texten unter der Leitung nicht-klerikaler Lehrer“) zum Zweck der „Befreiung vom Akkumulationsdrang“ treten. Arnspergers Vision: „Mit der Zeit würde jeder einsehen, dass Arbeit an die Suche nach existenzieller Sicherheit für sich und die anderen gekoppelt werden sollte und dass Besitz und Einkommen keinen authentischen Schutz gegen Leiden und Tod bieten.“

 
Christian Stenner

 
JULI AUSGABE WIRTSCHAFT UND ARBEIT