10 / 2000
  Verelendung und politisches Programm
Stiftingtaler Gespräch in der Otto-Möbes Akademie zum Thema Arbeit & Gesundheit 

Als die Weltgesundheitsorganisation vor 20 Jahren in der berühmt gewordenen Ottawa-Charta ihren Gesundheits-Begriff formulierte, zählten die  Erkenntnisse aus der sozialmedizinischen Forschung zumindest hierzulande zur Grundausstattung des Handlungsinstrumentariums von PolitikerInnen aller Coleurs. Der sozial- und arbeitsmedizinische Wissenshintergrund hat sich seither verfeinert, nahezu verschwunden ist aber das Interesse der Politik, sich dieses Wissens zu bedienen und es ihrem Handeln einzuverleiben. Im „Stiftingtaler Gespräch“ vom 3. Oktober 2000 in der Otto Möbes Akademie unternahmen die Steirische Arbeiterkammer und der ÖGB eine Bestandsaufnahme dessen, was unter der neuen Regierung von diesem Wissen bzw. von dessen Umsetzung erhalten geblieben ist.

Für GPA-Chef Hans Sallmutter sind  die geplanten und bereits vollzogenen Ausgabenkürzungen im Bereich Arbeitsmedizin / Unfallprävention zur Erreichung des „Staatszieles Nr. 1: Null-Verschuldung“ inakzeptabel und selbst der herrschenden (Regierungs-)  Ideologie widersprechend: Bei 32 Mrd Schilling an gegenwärtigen Jahres-Kosten zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit nach Unfall (und durchschnittlichen 27.000 Schilling an Aufwendungen pro Arbeitsunfall in Österreich) sei der Beweis dafür, dass Gesundheit ein „Produktivitätskapital“ sei, eigentlich schon erbracht. Gut bewährte Regeln der Arbeitsmedizin als „arbeitsplatzfeindlich“ einzustufen, stelle selbst unter nach neoliberalen Grundsätzen ausgerichteten Machtverhältnissen eine kontraproduktive Starrhaltung gegen die proklamierten Interessen dar.
Sallmutter, der sich in der politischen  Auseinandersetzung um eine Krankengeldfortzahlung über die 52. Woche hinaus stark machte, referierte im Stiftingtal auch die Position des politischen Gegners, nämlich die Forderung nach Fortzahlung nur im Falle von unheilbarer Erkrankung zum Tode.
Das definiert womöglich gegenwärtig den entscheidenden „Wesensunterschied“ in  den politischen Programmen.
Dr. Rainer Possert, Allgemeinmediziner und Psychotherapeut, tätig im – von ihm vor 20 Jahren mitbegründeten – „Sozialmedizinischen Zentrum Graz-Liebenau“ (SMZ), führt die Ära Thatcher in Großbritannien als Beispiel und „Sammelmappe“ von empirischem Beweismaterial für Verelendungspolitik vor: Zur Stützung dieser Politik, deren negative soziale und sozialpsychologische Auswirkungen noch für lange Zeit nachweisbar bleiben werden, wurde die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zum Thema „Gesundheit und Klassenzugehörigkeit“ nachgewiesenermaßen unterbunden.
 

Gewerkschafter Sallmutter, Czeskleba: 
Reduktion der „Einsatzzeiten“ der Arbeitsmedizin 
ist  immer auch betriebswirtschaftlicher Schaden

Emanzipation bedeutet Angleich der Gesundheits-Standards
In der Ottawa-Erklärung der WHO, wonach Gesundheit ein Angleichen der unterschiedlichen Gesundheits-Levels bedeutet, sieht Possert eine erste hinreichende Definition: Emanzipation bedeutet  Angleich der Gesundheits-Standards zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten. Die Bereitstellung politischer Programme kann Emanzipation fördern, wenn sie Information bereitstellt, die Menschen befähigt, zu jedem Zeitpunkt krank machende Faktoren selbst erkennen zu können (Possert).

„Patient Arbeitsplatz“
Mag. Renate Czeskleba, zuständig für die Bereiche Humanisierung, Technologie, Umwelt im ÖGB, sieht den Unterschied zwischen „alter“ und „neuer“ Arbeitsmedizin in der Bedeutungsminderung von Sicherheitstechnik und kurativen Aspekten einerseits und der Notwendigkeit des Erfassens neuer, unter die Schlagworte „Automation, Globalisierung, Outsourcing und Downsizing“ subsummierbarer Phänomene andererseits. Arbeitnehmerschutz bzw. Arbeitsmedizin darf keinesfalls ausschließlich „nicht gemachte Arbeit des Hausarztes“ sein, sondern muss den Arbeitsplatz selbst ins Visier nehmen.

Betriebsklima-Wettbewerb
Arbeiterkammer-Präsident Walter Rotschädl referierte die aus Untersuchungen gewonnene Erkenntnis einer zunehmenden Gefährdung der Arbeitsplatz-Wellness. AK-gestützte Aktivitäten sollen die Steigerung  des Betriebsklimas in Unternehmen fördern. Mit einer Aktion „Betriebsklima-Wettbewerb“ will die AK entsprechende Mängel aufdecken und beseitigen.
 

AK-Walter Rotschädl: Maßnahmen gegen Gefährdung der Arbeitsplatz-Wellness
 

 
OKTOBER-AUSGABE WIRTSCHAFT UND ARBEIT