04 / 2001
 
Was ist soziale Gerechtigkeit?

Bei einem Versorgungsgrad von 99% der Bevölkerung wendet Österreich 8 % seines Bruttoinlandsprodukts für die Gesundheitsversorgung auf, in den USA kostet das Gesundheitssystem 14%, in seinen Genuss geraten jedoch nur 60% der US-BürgerInnen. 
In der Reihe „Stiftingtaler Gespräche“ diskutierte Mitte März eine Gruppe von ExpertInnen auf Einladung von Otto-Möbes-Akademie-Leiter Albert Kaufmann eine Re-Definition des Sozialstaates in der Phase seiner politischen Demontage. 

Eine Debatte gegen den unter  gegenwärtigen politischen Programmen forcierten gesellschaftlichen Entsolidarisierungsprozess  ist dringend einzuleiten, so Heidrun Silhavy, steirische SP-Nationalratsabgeordnete und -Sozialsprecherin. Dass Frauen 75% des BIP erwirtschaften, Frausein aber auch unter neoliberalen Bedingungen die  Armutsfalle Nr. 1 darstellt, gehört auch in die Kategorie ungelebter Solidarität.
 

OMAK-Leiter Mag. Albert Kaufmann

Solidarität ist ein vieldimensionales Gebilde und verträgt sich nicht mit dem kapitalistischen Prinzip der „fortgesetzten Vorteilnahme aneinander“, betont Caritas-Präsident Franz Küberl. „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“, fragt Kain den Herrn, nachdem dieser sich nach dem Verbleib Abels erkundigt hat. Solidarität als elementares Baugesetz der Gesellschaft ist auch die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen. Über die Einsicht, dass im System prinzipiell jeder sowohl „Dienstleister“ als auch „Konsument“ ist, wäre eine Basis neuer Verständigung und Vereinbarung und eine Auflösung des Gegensatzpaares „gerechter Lohn gegen kostengünstigster Erwerb“ möglich.
 

Sozialexperten im „Stiftingtaler Gespräch“(v. l.): Dr. Gerhard Wohlfahrt, 
Fritz Schösser, Franz Küberl, Heidrun Silhavy

Solidarität in globaler Dimension bedeutet etwa politische Konsequenz zu ziehen aus Tatbeständen wie diesem, dass ein männlicher Single und Bürger eines Industriestaates alleine mehr Energie verbraucht als ein afrikanisches Dorf. 

Aufholmöglichkeit für Benachteiligte
Gut dokumentierte Möglichkeiten zur Selbstbeschränkung und einer „Benachteiligung bisher Bevorteilter“ will Küberl entsprechend einer als dynamisch zu verstehenden Solidarität in den politischen Programmen wiederfinden. 
Der Vorsitzende des DGB-Bayern, Fritz Schösser, kritisiert, dass „die Politik immer dann die Eigenverantwortung der Bürger einfordert, wenn sie selbst nicht mehr weiter weiß.“ Das Aufkommen der so genannten Ersatzkassen in den 70er-Jahren in Deutschland ist als Beginn einer Aushöhlung bewährter Solidarsysteme zu sehen: Schon damals konnte man sich hier für zwei bis drei Prozent Ersparnis aus dem Pflichtversicherungssystem ausklinken. Die Installierung eines Krankenversicherungssystems „nur für Kranke“ ist nicht denkbar. Den Gewerkschaften rät Schösser zu mehr Mut zur Debatte auf allen Ebenen. Wenn wissenschaftlicher Fortschritt und höhere Lebenserwartung gesellschaftlichen  Konsens darstellt, muss es auch ein dafür geeignetes Sozialsystem geben! Zahlreiche Übereinkünfte sind zu überdenken, beispielsweise die der Bedeutung von Teilzeitbeschäftigung: Diese hat sich in der Praxis oft als karrierehinderlich herausgestellt und wird fast ausschließlich von den unteren Einkommensschichten, nicht aber von Angehörigen der Managerebene in Anspruch genommen.

Zukunftsaufgaben
Als eine der Zukunftsaufgaben für die Gewerkschaft kann sich Schösser den Bereich „gemeinnütziger Arbeitnehmerverleih“ vorstellen. Die Arbeitnehmervertretungen in den modernen Industriestaaten seien die geeignetsten Institutionen, Qualifizierung, moderne, gemeinnützige Arbeitskräfteüberlassung und Job-Sharing in einem System zu organisieren.

„Chronische Leiden“
Für den Grazer Volkswirtschaftler Gerhard Wohlfahrt sind Verteilungskonflikte in Österreich jahrelang unter den Teppich gekehrt worden. Die Mär von der Bestrafung für Besitzende hält sich wie eine unheilbare Krankheit, während die Besteuerung von Vermögen in Österreich bei 1,3%, in den bei uns als „kapitalistisch“ verteufelten USA bei 10,7% liegt.  Nach Ansicht von Wohlfahrt arbeitet die jetzige österreichische Regierung – trotz erklärtem Erneuerungswillen – wenig bis gar nicht an der Behandlung solch chronischer Leiden des Sozialsystems. Das betrifft beispielsweise auch die Tendenz, Schwarzarbeiterbeschäftigung als Kavaliersdelikt anzusehen, das Annehmen von Schwarzarbeiten dagegen mit drastischem Entzug von Arbeitslosengeld zu bestrafen.
 

AK-Rotschädl: Ohne Solidarität keine 
moderne, humane Gesellschaft!

AK-Präsident Walter Rotschädl kritisierte die gedeckelte Höchstbemessungsgrundlage für  Sozialbeiträge in Österreich als massive Aushöhlung des Solidarprinzips. Solidarität und soziale Gerechtigkeit seien  jene unverzichtbare Eckpfeiler, ohne die keine moderne Gesellschaft auskommen könne.
 


 
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