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Bourdieu-Mitarbeiter
Franz Schultheis zu Gast in Graz
„Wir verteidigen den gesellschaftlichen
Menschen“
In Frankreich setzen gut organisierte soziale Bewegungen – von der
Arbeitslosenbewegung bis hin zu den „Sans Papiers“, den so genannten „illegalen“
Einwanderern – der gesellschaftszerstörenden Wirkung neoliberaler
Politik kräftigen Widerstand entgegen. Eine wichtige Stütze dieser
„Mouvements“ sind kritische Intellektuelle. Diese haben sich im Gefolge
des Soziologen Pierre Bourdieu – europaweit vor allem durch sein Werk „La
Misère du Monde“ („Das Elend der Welt“) bekannt – in „Raisons d’agir“-
(frei übersetzt mit „Handlungsbedarf“) Gruppen organisiert und stellen
den Bewegungen ihr Expertenwissen zur Verfügung.
Auf Einladung des Vereins ISOP und der Grünen Akademie weilte
jüngst einer der engsten Mitarbeiter Pierre Bourdieus in Graz: Der
Soziologe Franz Schultheis ist Universitätsprofessor in Neuchatel
und Direktor des Zentrums für Europäische Gesellschaftsforschung
in Konstanz.
Mit Franz Schultheis sprach Christian Stenner über die Perspektiven
einer „eingreifenden Wissenschaft“ in der Phase der „neoliberalen Invasion“
(Bourdieu).
Welche Motivation steckt dahinter, wenn Mitglieder der „scientific
community“ aus ihren Elfenbeintürmen ausbrechen und sich in den gesellschaftlichen
Prozess einmischen?
Wenn man eine bestimmte Art Gesellschaftsforschung betreibt, wie sie
etwa in den Tiefeninterviews mit Arbeitslosen im „Elend der Welt“ zum Ausdruck
kommt, dann bleibt einem kaum eine Alternative dazu, aus all diesen Zeugnissen
des Elends und der Entfremdung Konsequenzen zu ziehen. Ab einem bestimmten
Punkt muss man einfach reagieren, vor allem, wenn man immer wieder auf
die gleichen Konfigurationen stößt – wie etwa auf die Tatsache,
dass unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen immer wieder in bestimmte
Stadtviertel abgeschoben werden, wo dann Probleme wie Arbeitslosigkeit,
Alkoholismus, Schulversagen und Ausländerhass besonders massiv auftreten.
Dass es soweit kommt, hängt letztendlich zumeist mit dem Rückzug
des Staates zusammen …
... der ja gefordert und allgemein positiv beurteilt wird …
Wir sehen den Rückzug des Staates negativ. Wir teilen auch die
Ansicht der klassischen Linken nicht, die den Staat zum Absterben bringen
will; wir sehen den Wohlfahrtsstaat als ein zentrales Element unserer Zivilisation.
Er garantiert soziale Bindung, Verteilungsgerechtigkeit, ermöglicht
das Zusammenleben von Menschen, den Generationenvertrag – er bringt tausend
Dinge auf einen institutionellen Nenner. Würden wir den Wohlfahrtsstaat
vom Kapitalismus abziehen, wie von den Neoliberalen gefordert, so bliebe
wirklich nur Manchesterkapitalismus übrig – jeder gegen jeden.
Der Wohlfahrtsstaat war in Österreich lange Zeit unbestritten –
Keynesianismus auf der ökonomischen, die Eingliederung breiterer Schichten
in das politische Leben auf der politischen Seite. Dennoch ist es innerhalb
kürzester Zeit gelungen, dieses Koordinatensystem umzustürzen
– lässt das nicht den Schluss zu, dass das Wohlfahrtsstaat-Konzept
doch überholt ist?
Aus dem, was ich über Österreich weiß, könnte
man den Schluss ziehen, dass hier der Wohlfahrtsstaat zu einem Klientenstaat
pervertiert wurde. Da haben es dann die Neoliberalen natürlich leicht,
wenn sie fordern: Weg mit dem Ganzen, wir brauchen mehr Marktfähigkeit.
Nur: Was da weggefegt wird, ist ein historischer Kompromiss, der den sozialen
Frieden gewährleistet hat. Das zu vermitteln ist ein wichtiges Ziel
der eingreifenden Wissenschaft, die letztendlich am Projekt der Aufklärung
anknüpft.
Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatten die Vision einer bürgerlichen
Gesellschaft als Gegenbild zur Feudalgesellschaft … Hat die neue Aufklärung
auch eine neue gesellschaftliche Vision?
Seit dem Niedergang der fälschlicherweise als sozialistisch etikettierten
Gesellschaften 1989 leiden viele Vertreter der alten Linken daran, dass
sie ihr Koordinatensystem verloren haben. Die Werte der Aufklärung
– Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind aber weiterhin gesellschaftsfähig,
auch bestimmte Vorstellungen von Revolution. Nur: Die Freiheit wird von
falschen Aposteln hochgehalten, die sie sich sogar in ihr Parteienetikett
‘reinkleben, die Gleichheit wird nur als formalrechtliche Gleichheit der
Marktindividuen anerkannt, und die Brüderlichkeit ist für das
Private. Wir nehmen den Wunsch nach Gleichheit – der ja seit Rousseau gute
europäische Tradition darstellt – sehr ernst. Wenn ich als Soziologe
erkenne, dass sich seit 1985/90 die Einkommensschere überall auftut,
dass es immer mehr schlecht bezahlte Teilzeitjobs mit unsicherer sozialrechtlicher
Absicherung und immer mehr working poor gibt, dann kann ich doch nicht
einfach verschweigen, dass sich in unseren neoliberalen Zeitgeistgesellschaften
Armut und Ungleichheit verschärfen. Unsere Gegenutopie ist eine Gesellschaft,
in der Gleichheit großgeschrieben wird.
Nun hat der Neoliberalismus aber einen ganz konkreten Interessenhintergrund:
Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die von neoliberaler Politik profitieren
und andere, die davon zumindest ein paar Brösel abbekommen – wie bringt
man die Hegemonie der Interessen dieser Gruppen unter Kontrolle?
Zunächst auf dem parlamentarischen Weg – etwa durch die Einführung
einer Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen. Die Tobin-Steuer könnte
innerhalb kürzester Zeit in allen Ländern eingeführt werden;
sie würde spekulative Transaktionen einbremsen, ohne produktive zu
behindern.
Ebenso notwendig ist aber die Schaffung einer außerparlamentarischen
Gegenöffentlichkeit,
wie etwa in Frankreich in der Streikbewegung von 1995, die der sich selbst
abhalfternden Sozialdemokratie auf die Sprünge hilft. Zur Not brauchen
wir eine außerparlamentarische Linke, die zum schlechten Gewissen
der etablierten Linken wird. Wenn die Leute auf der Straße in Paris
fragen, Lionel [Jospin, Anm. d. Red.], was hast du aus unserem Sieg gemacht?
dann manifestiert sich darin genau jenes Phänomen, das man so hochtrabend
„Aufbruch der Zivilgesellschaft“ nennt: Die Leute verlassen sich einfach
nicht mehr auf die offiziellen Sprachrohre, sondern wollen wieder direkte
Demokratie. Und das ist eine zweite Utopie neben der Gleichheit: Es geht
darum, die Beteiligung des Citoyen am Gemeinwesen zu stärken. Daraus
resultiert im Übrigen auch ein anderes Verständnis des öffentlichen
Dienstes, dessen Funktionäre ja in in Frankreich ein viel besseres
Image als bei uns in der Deutschschweiz oder in Österreich haben.
Dahinter stecken verschiedene politische Kulturen: „service public“ impliziert,
dass es bestimmte Güter gibt, die nicht einfach nur marktwirtschaftlichen
Charakter haben. Wenn diese Idee über Bord geht, dann gibt es nur
noch den homo economicus. Wir verteidigen letztendlich den gesellschaftlichen
Menschen und weisen darauf hin, dass die Wirtschaft ein Mittel der Gesellschaft
ist und nicht umgekehrt.
„Raisons d’agir“-Gruppen werden zur Zeit überall in Europa gegründet,
auch in Österreich …
Man sieht an diesem Workshop hier in Graz, dass es ein großes
Echo auf unsere Aktivitäten gibt. In Berlin haben etwa am Pfingstsamstag
bei wunderschönem Wetter 1200 Leute zum Teil stehend drei Stunden
lang bei der von uns organisierten Debatte mit Pierre Bourdieu zugebracht.
Auch in Zürich war es so, und ich bin sicher, in Wien wird es auch
wieder ein Erfolg. Das ist für mich ein Indikator für eine Malaise
in der Gesellschaft, die auch auf die intellektuellen Zirkel ausstrahlt.
Wir Intellektuelle haben ein bisschen den Kompass verloren und unterliegen
zum Teil einer Selbstzensur, wir sagen uns selbst: „Herrschaft ist doch
kein schönes Wort, sag doch irgendetwas anderes“ – und wir reden vor
allem nicht mehr von Klassen. Diese Form der Selbstbeschneidung ist wahrscheinlich
unausweichlich, man muss heute auch marktgerecht argumentieren, aber sie
ist auch sehr gefährlich, weil wir dadurch die gemeinsame Sprache
verlieren. In dieser Situation bietet Bourdieu vielen durch seine Popularität
und das Gewicht seines wissenschaftlichen Werkes eine neue Orientierung.
Die Augen der Herrschenden
In Politik, Arbeitswelt & Alltag an Alternativen
arbeiten
Unter den Vorzeichen neoliberaler Herrschaft
übt die Ökonomie eine bislang nicht dagewesene Vorherrschaft
über die Politik aus. Als Alternative zum Neoliberalismus fordert
Pierre Bourdieu in der neuen Ausgabe der ISOTOPIA des Vereins ISOP-Innovative
Sozialprojekte die Bildung einer europäischen Sozialbewegung. In weiteren
Beiträgen werden ethnische und neoliberale Diskriminierungsformen
sowie mögliche Auswege beleuchtet.
ISOTOPIA 2000/24:
Die Augen der Herrschenden
In Politik, Arbeitswelt & Alltag an Alternativen
arbeiten
228 Seiten
Zu bestellen bei: Verein ISOP, Tel.: 0316/764646,
e-mail: isotopia@isop.at,
zum Preis von öS 60,--. 5 Exemplare
des Bandes gibt’s beim Kulturquiz zu
gewinnen!
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