11 / 2000
  Bourdieu-Mitarbeiter Franz Schultheis zu Gast in Graz
„Wir verteidigen den gesellschaftlichen Menschen“
 

In Frankreich setzen gut organisierte soziale Bewegungen – von der Arbeitslosenbewegung bis hin zu den „Sans Papiers“, den so genannten „illegalen“ Einwanderern – der gesellschaftszerstörenden Wirkung neoliberaler Politik kräftigen Widerstand entgegen. Eine wichtige Stütze dieser „Mouvements“ sind kritische Intellektuelle. Diese haben sich im Gefolge des Soziologen Pierre Bourdieu – europaweit vor allem durch sein Werk „La Misère du Monde“ („Das Elend der Welt“) bekannt – in „Raisons d’agir“- (frei übersetzt mit „Handlungsbedarf“) Gruppen organisiert und stellen den Bewegungen ihr Expertenwissen zur Verfügung.
Auf Einladung des Vereins ISOP und der Grünen Akademie weilte jüngst einer der engsten Mitarbeiter Pierre Bourdieus in Graz: Der Soziologe Franz Schultheis ist Universitätsprofessor in Neuchatel und Direktor des Zentrums für Europäische Gesellschaftsforschung in Konstanz.
Mit Franz Schultheis sprach Christian Stenner über die Perspektiven einer „eingreifenden Wissenschaft“ in der Phase der „neoliberalen Invasion“ (Bourdieu).
 

Welche Motivation steckt dahinter, wenn Mitglieder der „scientific community“ aus ihren Elfenbeintürmen ausbrechen und sich in den gesellschaftlichen Prozess einmischen?
Wenn man eine bestimmte Art Gesellschaftsforschung betreibt, wie sie etwa in den Tiefeninterviews mit Arbeitslosen im „Elend der Welt“ zum Ausdruck kommt, dann bleibt einem kaum eine Alternative dazu, aus all diesen Zeugnissen des Elends und der Entfremdung Konsequenzen zu ziehen. Ab einem bestimmten Punkt muss man einfach reagieren, vor allem, wenn man immer wieder auf die gleichen Konfigurationen stößt – wie etwa auf die Tatsache, dass unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen immer wieder in bestimmte Stadtviertel abgeschoben werden, wo dann Probleme wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Schulversagen und Ausländerhass besonders massiv auftreten. Dass es soweit kommt, hängt letztendlich zumeist mit dem Rückzug des Staates zusammen …

... der ja gefordert und allgemein positiv beurteilt wird …
Wir sehen den Rückzug des Staates negativ. Wir teilen auch die Ansicht der klassischen Linken nicht, die den Staat zum Absterben bringen will; wir sehen den Wohlfahrtsstaat als ein zentrales Element unserer Zivilisation. Er garantiert soziale Bindung, Verteilungsgerechtigkeit, ermöglicht das Zusammenleben von Menschen, den Generationenvertrag – er bringt tausend Dinge auf einen institutionellen Nenner. Würden wir den Wohlfahrtsstaat vom Kapitalismus abziehen, wie von den Neoliberalen gefordert, so bliebe wirklich nur Manchesterkapitalismus übrig – jeder gegen jeden.

Der Wohlfahrtsstaat war in Österreich lange Zeit unbestritten – Keynesianismus auf der ökonomischen, die Eingliederung breiterer Schichten in das politische Leben auf der politischen Seite. Dennoch ist es innerhalb kürzester Zeit gelungen, dieses Koordinatensystem umzustürzen – lässt das nicht den Schluss zu, dass das Wohlfahrtsstaat-Konzept doch  überholt ist?
Aus dem, was ich über Österreich weiß, könnte man den Schluss ziehen, dass hier der Wohlfahrtsstaat zu einem Klientenstaat pervertiert wurde. Da haben es dann die Neoliberalen natürlich leicht, wenn sie fordern: Weg mit dem Ganzen, wir brauchen mehr Marktfähigkeit. Nur: Was da weggefegt wird, ist ein historischer Kompromiss, der den sozialen Frieden gewährleistet hat. Das zu vermitteln ist ein wichtiges Ziel der eingreifenden Wissenschaft, die letztendlich am Projekt der Aufklärung anknüpft.

Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatten die Vision einer bürgerlichen Gesellschaft als Gegenbild zur Feudalgesellschaft … Hat die neue Aufklärung auch eine neue gesellschaftliche Vision?
Seit dem Niedergang der fälschlicherweise als sozialistisch etikettierten Gesellschaften 1989 leiden viele Vertreter der alten Linken daran, dass sie ihr Koordinatensystem verloren haben. Die Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind aber weiterhin gesellschaftsfähig, auch bestimmte Vorstellungen von Revolution. Nur: Die Freiheit wird von falschen Aposteln hochgehalten, die sie sich sogar in ihr Parteienetikett ‘reinkleben, die Gleichheit wird nur als formalrechtliche Gleichheit der Marktindividuen anerkannt, und die Brüderlichkeit ist für das Private. Wir nehmen den Wunsch nach Gleichheit – der ja seit Rousseau gute europäische Tradition darstellt – sehr ernst. Wenn ich als Soziologe erkenne, dass sich seit 1985/90 die Einkommensschere überall auftut, dass es immer mehr schlecht bezahlte Teilzeitjobs mit unsicherer sozialrechtlicher Absicherung und immer mehr working poor gibt, dann kann ich doch nicht einfach verschweigen, dass sich in unseren neoliberalen Zeitgeistgesellschaften Armut und Ungleichheit verschärfen. Unsere Gegenutopie ist eine Gesellschaft, in der Gleichheit großgeschrieben wird.

Nun hat der Neoliberalismus aber einen ganz konkreten Interessenhintergrund: Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die von neoliberaler Politik profitieren und andere, die davon zumindest ein paar Brösel abbekommen – wie bringt  man die Hegemonie der Interessen dieser Gruppen unter Kontrolle?
Zunächst auf dem parlamentarischen Weg – etwa durch die Einführung einer Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen. Die Tobin-Steuer könnte innerhalb kürzester Zeit in allen Ländern eingeführt werden; sie würde spekulative Transaktionen einbremsen, ohne produktive zu behindern.
Ebenso notwendig ist aber die Schaffung einer außerparlamentarischen Gegenöffentlichkeit, wie etwa in Frankreich in der Streikbewegung von 1995, die der sich selbst abhalfternden Sozialdemokratie auf die Sprünge hilft. Zur Not brauchen wir eine außerparlamentarische Linke, die zum schlechten Gewissen der etablierten Linken wird. Wenn die Leute auf der Straße in Paris fragen, Lionel [Jospin, Anm. d. Red.], was hast du aus unserem Sieg gemacht? dann manifestiert sich darin genau jenes Phänomen, das man so hochtrabend „Aufbruch der Zivilgesellschaft“ nennt: Die Leute verlassen sich einfach nicht mehr auf die offiziellen Sprachrohre, sondern wollen wieder direkte Demokratie. Und das ist eine zweite Utopie neben der Gleichheit: Es geht darum, die Beteiligung des Citoyen am Gemeinwesen zu stärken. Daraus resultiert im Übrigen auch ein anderes Verständnis des öffentlichen Dienstes, dessen Funktionäre ja in in Frankreich ein viel besseres Image als bei uns in der Deutschschweiz oder in Österreich haben. Dahinter stecken verschiedene politische Kulturen: „service public“ impliziert, dass es bestimmte Güter gibt, die nicht einfach nur marktwirtschaftlichen Charakter haben. Wenn diese Idee über Bord geht, dann gibt es nur noch den homo economicus. Wir verteidigen letztendlich den gesellschaftlichen Menschen und weisen darauf hin, dass die Wirtschaft ein Mittel der Gesellschaft ist und nicht umgekehrt.

„Raisons d’agir“-Gruppen werden zur Zeit überall in Europa gegründet, auch in Österreich … 
Man sieht an diesem Workshop hier in Graz, dass es ein großes Echo auf unsere Aktivitäten gibt. In Berlin haben etwa am Pfingstsamstag bei wunderschönem Wetter 1200 Leute zum Teil stehend drei Stunden lang bei der von uns organisierten Debatte mit Pierre Bourdieu zugebracht. Auch in Zürich war es so, und ich bin sicher, in Wien wird es auch wieder ein Erfolg. Das ist für mich ein Indikator für eine Malaise in der Gesellschaft, die auch auf die intellektuellen Zirkel ausstrahlt. Wir Intellektuelle haben ein bisschen den Kompass verloren und unterliegen zum Teil einer Selbstzensur, wir sagen uns selbst: „Herrschaft ist doch kein schönes Wort, sag doch irgendetwas anderes“ – und wir reden vor allem nicht mehr von Klassen. Diese Form der Selbstbeschneidung ist wahrscheinlich unausweichlich, man muss heute auch marktgerecht argumentieren, aber sie ist auch sehr gefährlich, weil wir dadurch die gemeinsame Sprache verlieren. In dieser Situation bietet Bourdieu vielen durch seine Popularität und das Gewicht seines wissenschaftlichen Werkes eine neue Orientierung.


Die Augen der Herrschenden
In Politik, Arbeitswelt & Alltag an Alternativen arbeiten



Unter den Vorzeichen neoliberaler Herrschaft übt die Ökonomie eine bislang nicht dagewesene Vorherrschaft über die Politik aus. Als Alternative zum Neoliberalismus  fordert Pierre Bourdieu in der neuen Ausgabe der ISOTOPIA des Vereins ISOP-Innovative Sozialprojekte die Bildung einer europäischen Sozialbewegung. In weiteren Beiträgen werden ethnische und neoliberale Diskriminierungsformen sowie mögliche Auswege beleuchtet.

ISOTOPIA 2000/24: 
Die Augen der Herrschenden
In Politik, Arbeitswelt & Alltag an Alternativen arbeiten
228 Seiten

Zu bestellen bei: Verein ISOP, Tel.: 0316/764646, e-mail: isotopia@isop.at,
 zum Preis von öS 60,--. 5 Exemplare des Bandes gibt’s beim Kulturquiz zu gewinnen!
 

 

 
NOVEMBER-AUSGABE
WIRTSCHAFT UND ARBEIT