12 / 2000
  Univ.-Prof. Dr. Richard Sturn, Graz:

Ich möchte ein paar Punkte plakativ in den Raum stellen: 

1. Zuerst sollte man bei dem Begriff „Neoliberal“, der sich in der Tat als treffliches Schimpfwort zur Apostrophierung mancher Tendenzen eingebürgert hat, über alternative Bezeichnungen im österreichischen Kontext nachdenken. Die Befürchtung geht dahin, dass dieses Wort „neoliberal“ manches nicht ganz gut einfängt, was in Österreich passiert. Dieser österreichische Neoliberalismus wird nämlich von zwei Aspekten nicht nur orchestriert sondern geradezu dominiert, dies sind ein etwas emphatisch vorgetragenes „Österreich zuerst“, also ein Chauvinismus und einer sehr konservative Familienrhetorik. Der Begriff „Neoliberalismus“ ist etwas zu vage und zu harmlos, um bestehende Tendenzen zu charakterisieren.

2. Nulldefizit ist eine Chiffre für Sozialabbau aber auch für Entpolitisierung. Wenn es nämlich gelingt, im öffentlichen Diskurs alles unter dem Titel Nulldefizit durchzudeklinieren, wird jegliche andere politische Thematik dadurch marginalisiert. Insofern hat diese großartig angekündigte Politisierung, die von manchen intellektuellen Feschaks auch auf der Linken als Reaktion auf die neue Regierungsbildung in Aussicht gestellt wurde, durchaus ihre zweischneidige Seite.

3. Hier ist ein Dissens zu sehen: Diese Entpolitisierung, die durch die Diskussion um das Nulldefizit und durch die Möglichkeit, dies als alles überragende Forderung in den politischen Raum zu stellen, bewirkt wurde, zeigte sich schon früher. Nicht unschuldig daran war ein gewisser legerer Umgang auch der Linken mit Aspekten der Staatsfinanzierung. Zwei an sich richtige Argumente, nämlich dass der Staat Schulden machen kann, um Investitionen zu tätigen, und dass die Analogie von privatem Haushalt und Staat nur sehr begrenzt gültig ist, wurden von der österreichischen Linken in manchen Phasen überstrapaziert, um über gewisse Schwächen in der positiven Argumentation und Gestaltung staatlicher Tätigkeit hinwegzutäuschen. Man muss positiv die staatliche Tätigkeit, die kollektive Tätigkeit als etwas Gutes „verkaufen“ können und dazu auch im Zweifel Verständnis für eine Steuerfinanzierung dieses Staates bei den WählerInnen wecken, und man kann sich diesbezüglich nicht in das Faulbett des Populismus legen.

4. Was in dem Zusammenhang tatsächlich sehr wichtig ist, wichtiger noch als die Bekämpfung der Rhetorik des Nulldefizites, ist, dass man dem Kaputtreden entgegentritt. Die Diskussion um das Nulldefizit wird sich vielleicht nach einer gewissen Zeit aufhören, aber für alle, die über Jahre und Jahrzehnte hinaus an einem funktionierenden Transfersystem in Österreich interessiert sind, gilt es, die Demontage von öffentlichen Institutionen zu verhindern. In dem Zusammenhang ist auf eine weitere Chiffre zu verweisen, und zwar jene der Treffsicherheit. Wenn es nicht gelingt, die tiefe Problematik, die Unhaltbarkeit und die verhängnisvollen Konsequenzen dieser Rhetorik zu decouvrieren, dann steht es langfristig äußerst schlecht um jegliche Bemühungen, in Österreich sozialen Ausgleich herzustellen. Davon könnte es abhängen, ob progressive Politik in Österreich mittelfristig gelingen kann oder nicht. 
Die ganze rhetorische Demontierung des Sozialstaates kann natürlich nur greifen, wenn diese Rhetorik der Treffsicherheit im Prinzip schon breit verankert ist. Es gilt dagegen in einer intelligenten und problemadäquaten Weise anzukämpfen, wobei man über die Probleme, die ein bestehender Sozialstaat hat, selbstverständlich kritisch diskutieren und auf Besserung sinnen kann.

5. In Bezug auf das Pensionssystem ist es zunächst einmal wichtig, gegen dieses Krankreden anzukämpfen. In gewissen Einzelargumentationen bzw. in der Argumentation des Spannungsverhältnisses in der Pensionsversicherung wäre es auch vom Aufklärungsstandpunkt her äußerst wichtig ist, den Grundmechanismus eines Pensionssystems möglichst vielen Menschen klar zu machen. Der besteht im Prinzip nun einmal darin, dass man wertvolle Gegenstände, wertvolle Objekte, Kaufkraft, Kapital, mit dem man etwas produzieren kann, auch Fähigkeiten, die man in die Menschen investiert hat, über Bildung etc., in irgendeiner zukünftigen Periode abrufbar hat. Wenn man das so sieht, dann würde man nicht zu der Diagnose kommen, dass private und öffentliche Pensionssysteme einander extrem widersprechen. Theoretisch haben auch private Pensionssysteme diese Fähigkeit, allerdings sollte man den privaten Sektor nicht mit zu vielen Aufgaben belasten. Hier gibt es viele Unwägbarkeiten und Unsicherheiten. Dazu kommt die lange Frist, sodass man schon sehr viel Vertrauen in den Markt haben muss, um ihm auch noch die ganze Alterssicherung anzuvertrauen, nachdem er in unserer Gesellschaft ohnedies schon viele Regulationsmechanismen erfüllt..

 

 
DEZEMBER-AUSGABE WIRTSCHAFT UND ARBEIT