04 / 2001
 
"Raisons d‘attaquer"

Es dürfte kein historischer Zufall sein, dass die politische Gegenbewegung gegen den entfesselten Neoliberalismus in Europa ihren Ursprung in Frankreich hat – dem Land der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution. Dort sind in den letzten Jahren gleich zwei einflussreiche Organisationen entstanden, die für eine Wiedererringung des Primats der Politik über die Wirtschaft eintreten und die den „gesellschaftlichen Menschen” gegen seine erzwungene Unterwerfung unter angebliche wirtschaftliche Sachzwänge verteidigen. 

Innerhalb kurzer Zeit haben beide Gruppierungen sich weit über die Grenzen Frankreichs hinaus ausgebreitet – und seit wenigen Tagen sind beide auch in der Steiermark präsent.

"Un otro mundo es posible"
– eine andere Welt ist möglich: Das war – in Anlehnung an das Motto des Welt-Sozialgipfels im brasilianischen Porto Alegre, von dem er jüngst zurückgekehrt war – die optimistische Botschaft des Wiener Journalisten und Filmemachers Leo Gabriel bei der gut besuchten Auftaktveranstaltung von ATTAC Graz am 3. April. ATTAC: Die offensive Abkürzung  steht für "Association pour une taxation des transactions financières de l’aide aux citoyens" – "Vereinigung für eine Besteuerung der Finanztransaktionen zur Unterstützung der Staatsbürger". Damit ist aber, so die Ökonomin Karin Küblböck von ATTAC Österreich, nur ein Teil des Tätigkeitsfeldes beschrieben: Nicht nur die Spekulation und ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen stehen im Visier von ATTAC, die Organisation kämpft darüber hinaus auch für Steuergerechtigkeit ("Würde die Vermögensbesteuerung bei uns nur auf den OECD-Durchschnitt angehoben, dann wären 90 Mrd Schilling mehr im Staatssäckel"), für die Entschuldung der armen Länder des Südens, für die Beibehaltung und den Ausbau des öffentlichen Pensionssystems und die Ökologisierung des Steuersystems.
Caritas-Präsident Franz Küberl plädierte bei der Veranstaltung für einen "gerechten Anteil an den Gütern der Schöpfung" für alle; auch er unterstützte die Forderung nach der Einführung einer Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen. Mit Hilfe dieser Steuer, die nur ein oder zwei Promille betragen muss, würden spekulative Aktionen – die sich ja durch rasch aufeinanderfolgende Käufe und Verkäufe definieren – unrentabel, während grenzüberschreitende Zahlungen für Güter oder Dienstleistungen nicht behindert würden. ATTAC kann dabei auf erste Erfolge verweisen: Im Europäischen Parlament wurde bereits eine Debatte zum Thema abgehalten, und auch auf Expertenebene findet die Idee einer Tobin-Tax immer mehr Unterstützer.
 

Kampagnen-ProponentInnen Ingrid Lechner-Sonnek, Wolfgang Mizelli:
Eigenständiges Wohnen ist für Behinderte zum großen Teil ein finanzielles Problem

Eine neue Aufklärung
Während ATTAC sich auf ökonomische Fragen konzentriert und auch stark aktionsorientiert arbeitet – die großen Mobilisierungen anlässlich des World Economic Forum in Davos waren unter anderem das Werk von ATTAC – steht die  "Verteidigung des gesellschaftlichen Menschen" (Franz Schultheis) im Mittelpunkt der Arbeit von "Raisons d’agir". Der Zirkel um den französischen Star-Soziologen Pierre Bourdieu ("La misère du monde", 1993) versteht sich als eine Art Brain-Trust einer neuen Aufklärung und Kristallisationspunkt für die Vernetzung sozialer Bewegungen; gleichzeitig sucht "Raisons d’agir" aber auch die Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmervertretungen. Franz Schultheis, Professor für Soziologie in Neuchatel und Vizepräsident von "Raisons d’agir", berichtet etwa über die geplante Gründung einer Sommeruniversität der europäischen Gewerkschaften in Zürich, bei welcher "Raisons d’agir" eine zentrale Rolle spielt.
In Anwesenheit von Schultheis fand am 30. März in Graz das erste Plattformtreffen von "Raisons d’agir" Steiermark statt. Robert Reithofer vom Verein ISOP, Organisator dieser ersten Zusammenkunft: "Ein politisch sichtbares Arbeitsprogramm soll in Bälde erstellt werden." Um dieses möglichst breit zu gestalten, wurden RepräsentantInnen verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche angesprochen – von GewerkschafterInnen über Kulturschaffende bis hin zu in der Jugendarbeit Tätigen.

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