12 / 2001
 
Graz 1900: Städtische Architektur zwischen Moderne und Tradition

Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Stilrichtungen in der Architektur weisen ein Spezifikum auf: Ihre Zeugen stehen noch viele Jahrzehnte lang im öffentlichen Raum. In Graz gilt dies im Besonderen für die Architektur-Debatte an der Wende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert.
Die Grazer Kunsthistorikern Antje Senarclens de Grancy geht in ihrem detailreichen Werk "'Moderner Stil' und 'heimisches Bauen'" der Architekturreform um 1900 nach: Der Wiener Moderne des Kreises um Otto Wagner standen traditionsgebundene Architekturformen gegenüber, die sich vor allem auf die süddeutsche Bautradition beriefen; beide grenzten sich vom Historismus ab. Aber: "Eine scharfe Trennung zwischen den einzelnen Architektenpersönlichkeiten – hier die Modernen, dort die Traditionalisten – ist kaum möglich, da die meisten Architekten wie auch Architekturkritiker in Graz mehrere Tendenzen in ihrem Werk vereinigten." (de Grancy S. 424).
 

Stil-Mix in Graz. Der dem Heimatschutzgedanken verpflichtete Architekt Adolf Inffeld zeichnet auch für knallmoderne Entwürfe verantwortlich – hier für ein 12-geschossiges Hochhaus am Jakominiplatz (1929)

Walmdächer und Hochhäuser
Die Prädominanz bestimmter architektonischer Stilrichtungen steht, wie de Grancy nachweist, in engem Zusammenhang mit zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Diskursen: Das vor und kurz nach 1900 unbestrittene Leitbild der "modernen Stadt" stand am Ursprung der Errichtung moderner Bauten wie des Grand Hotel Wiesler oder des Landeskrankenhauses, die sich einem internationalen Stil verpflichtet fühlten. Der aufkommende Deutschnationalismus und die Auffassung von Graz als "deutscher Stadt" seit den Neunzigerjahren führen zu Bauten im Stil des Historismus – Rathaus, städtisches Amtshaus und Stadttheater–; gleichzeitig zwang der einschlägige Diskurs aber zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Heimatschutzbewegung und der Formensprache des süddeutschen Heimatstiles: Ab der Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wird das Motiv der "traditionsgebundenen Provinzstadt" zum Leitbild der Landeshauptstadt – mit entsprechenden architektonischen Hervorbringungen wie dem Portierswohnhaus in der Burg, dem Postgebäude in der Stiftingtalstraße oder dem einem mittelalterlichen Festungsbau nachempfundenen Wasserturm im Schlachthof.
Doch häufig lassen sich die Bauten der Jahrhundertwende keiner Stilrichtung klar zuordnen: Als herausragendes Beispiel nennt de Grancy das Sanatorium Hansa von Alfred Keller, das sowohl Elemente der Heimatschutz-Architektur (Fensterläden, hohe Walmdächer) als auch der Wiener Moderne (Bay-window, pergolaartiger Stiegenaufgang) aufweist.
Dieses Oszillieren zwischen modernen und traditionalistischen Auffassungen spiegelt sich auch in einzelnen Architektenpersönlichkeiten wider: So entwarf der Wagner-Schüler Adolf Ritter von Inffeld – ein überzeugter Deutsch-Nationaler – für Wien Mietshäuser im Stile seines großen Lehrers, in Graz plante er die "Bachmann-Kolonie" am Leonhardbach (Wegenerstraße / Sonnenstraße) mit biedermeierlich-kleinstädtischem Touch – was ihn nicht daran hinderte, 1929 für den Jakominiplatz ein zwölfgeschossiges Hochhaus zu projektieren (das heutzutage in der Nachbarschaft des Standl-Dorfes seinen urbanen Charakter sicherlich recht putzig entfalten könnte …).  cs
 

Antje Senarclens de Grancy: "Moderner Stil" und "Heimisches Bauen". 
Architekturreform in Graz um 1900. (= Kulturstudien Sonderband 25.) 
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2001, 459 S.
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