07 / 2001
  „Ich arbeite in der Küche an Texten“
Ein Versuch, mit dem Essayisten Franz Schuh zu denken

Der Wiener Franz Schuh ist Germanist und Philosoph, Literat, Taschenbuchkritiker für Die Zeit und Krimispezialist. 1976–80 war Schuh Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung. Er erfüllt Lehraufträge an der Universität Klagenfurt und der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im vergangenen Jahr wurde ihm der Jean-Amery-Preis für Essayistik verliehen. Auf Einladung des Instituts für Germanistik und des Franz-Nabl-Instituts hielt Franz Schuh eine Poetikvorlesung an der Uni Graz unter dem Titel Memoiren in alphabetischer Reihenfolge.

Leicht fällt es den Hörern offenbar nicht, den Ausführungen des Dr. Schuh über weite Strecken historischer und gegenwärtiger Literaturproduktion zu folgen. Spannend aber, wenn nicht faszinierend, sind sie alle Mal. Naturgemäß – ist man geneigt zu schreiben – liegt der ureigenste Sinn einer Poetikvorlesung in der Vermittlung des individuellen Rezeptionsprozesses des Vortragenden und der daraus resultierenden Entwicklung literarischen Vermögens. In den Referaten des Literaturwissenschafters zeigt sich, dass eine wissenschaftlich objektive Haltung gegenüber der Materie schon bald zur Verschmelzung der Person des Referenten mit dem von ihm interpretierten Werk führt, was konkret in einem Schuhschen Paradoxon der Form „Sich selbst soll man raushalten, vor allem aus seinen Selbstinszenierungen für die Öffentlichkeit“ mündet. Meta-Schuh nannte Willi Hengstler diese Konstellation nach Besuch der ersten Vorlesung. Körper, Geist und Schuh verbinden sich im fiktiv exemplarischen Treffen von Robert Musil und Arnold Schwarzenegger, das im anatomischen Hörsaal (HS I) vor einer Zielgruppe – nicht Publikum – dialektisch seziert wird. Beider Defizite macht Schuh in der überanstrengten Intelligenz und dem Begriff des Genies bei Musil aus gegenüber der Peinlichkeit des im öffentlichen Bewusstsein als Menschmaschine firmierenden Schwarzenegger, der sich einer Herzoperation unterziehen muss. - Und diese verkürzt wiedergegebene Darstellung schießt – vermeint man Franz Schuh zu hören – in fahrlässiger Weise an einer Essenz vorbei. Die historische Crux des Schriftstellers fasste Schuh in seiner Eröffnungsrede zu den Tagen deutschsprachiger Literatur im Vorjahr als „Autor und seiner Allmacht am Schreibtisch gegenüber dem der Macht Ausgesetzten, der diesen Schreibtisch verlässt“ zusammen.
Die Person Franz Schuh erinnert wohl nicht zufällig an Elias Canettis Figur des Sinologen Kien, des Privatgelehrten und Bibliothekars im eigenen Haushalt. Wie Kien bewohnt Schuh eine Höhle aus Büchern, wiewohl er in Anspielung auf das platonische Höhlengleichnis anmerkt, dass an den Höhlenwänden medial vermittelte Bilder flimmern, die – wenn schon nicht an die Wirklichkeit – so doch wenigstens an die aktuelle Zeit erinnern. „Ich arbeite in der Küche an Texten“ schreibt Schuh in seinem Essay Narrenkappe und PizzaHut. Der Satz klingt - so allein stehend - lakonisch und fiktiv, beschreibt aber die Realität. Was Schuh in seiner „monadischen Existenz“ praktiziert ist die zeitgenössische Version der Alchimie, die endlose Suche eines Literaten und Kulturkritikers nach der Quintessenz. Und in der Tat ist die gastrische Funktion seiner Küche infolge Destillations- und desiderischer Prozesse aufgehoben: überall Bücher. Auf dem Küchentisch steht der Computer, auf dem toten Kühlschrank der Drucker. Das Schicksal Kiens allerdings möge (und wird!) ihm erspart bleiben ?
 

Franz Schuh über Taxi Orange: „Die Banalität, sprich „das eigentliche Leben“, soll sozusagen triumphieren gegenüber den traditionellen Formen der Kultur, die nicht mehr mehrheitsfähig sind und deren Zielgruppen einen veritablen Charakter von Ohnmacht haben.“ 

Korso: In Ihrer gestrigen Vorlesung haben Sie Hermann Nitsch zitiert: „Ich war alles, ich war Napoleon, ich war Christus, ich war Nietzsche, ich war Schopenhauer, ich werde alles sein, was noch kommt.“ Damit positioniert sich Nitsch in der Geschichte und rechtfertigt seine Arbeit aus dem Archiv der eigenen Bildung. Dieses Zitat erinnert mich an jenes von Jürg Laederach, das aus seiner Grazer Poetikvorlesung von 1986 stammt: „Ich bin der narzißtischen Ansicht, ich könne prinzipiell alles, jedes Zitat beispielsweise, wovon ich je spräche, selbst geschrieben haben. Eine spezielle Kennzeichnung sei deshalb überflüssig. So spricht der Apropriierungs-Wunsch, mittels welchem ich mir eine, selbstverständlich umfassende und alles beinhaltende, Identität zuspreche.“ – In Umkehrung scheinen mir diese Zitate auch Schutzschilde gegen Kritik und gegen die Verzweiflung des Autors angesichts einer Babylonischen Bibliothek zu sein.
Schuh: Na ja, ich würde sagen, das ist nicht ganz dasselbe – was der eine sagt und was der andere sagt. Was Nitsch sagt ist so etwas wie ein Werbeslogan inmitten einer auf solche Slogans erpichten Zuhörerschaft oder inmitten einer durch solche Slogans mobilisierbaren Publikumsschichte. Und das andere, das Laederach-Zitat, das würde ich doch in gewisser Weise verteidigen und zwar deshalb verteidigen, weil in diesem Zitat - und zwar auf eine unzumutbare Weise – etwas ausgedrückt wird, was in der Tat unserem Geist oder unserem Verstand zugemutet ist: Es ist diesem Verstand nämlich zugemutet, die gesamte Zitierbarkeit, alles, was zitierbar ist, das heißt also alles, was gesagt wurde auch als eine eigene Prägung zu verstehen. Man wird also durch das Gesagte geprägt. Und indem man durch das Gesagte geprägt wird, hat man zumindest das Gefühl – wenn nicht sogar die Verpflichtung – es eigentlich auch selber gesagt haben zu können. Und zweitens enthält dieser Laederach-Satz eine Volte gegenüber dem Versuch, Texte oder geistige Inhalte über die Autorenschaften festzulegen, also über diese spezifische Art einer bestimmten Eigentumssphäre mit Hilfe der man die Texte verstehen will. Das geht aber nicht, und die Unzumutbarkeit des Satzes „Ich habe das alles geschrieben“ ist sozusagen eine Konsequenz daraus, dass man Leuten klar machen muss: Verdammt, hört auf Texte zu verstehen über Zuschreibungen zu Autoren, zu Besitzern dieser Texte.

Wenn Sie den Werbeslogan Nitsch‘ ansprechen, so führt dies ungefähr in die Richtung meiner nächsten Frage: In einem Interview mit dem Falter haben Sie abschließend gesagt, Reality Shows wie Taxi Orange oder Big Brother würden Sie nicht interpretieren, das sei viel zu kompliziert. Was ist an diesen vordergründig als Massenprogramm auftretenden Shows so kompliziert?
Na ja, das ist natürlich eine der wichtigsten Geschichten, die man einfach zur Kenntnis nehmen muss. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass das, was einem bekannt erscheint noch nicht erkannt ist, wie Hegel schon sagt. Also genau das, was einem vertraut erscheint oder das mit Selbstverständlichkeit daherkommt, genau das ist es, was man nicht wirklich kennt. - Das hat verschiedene Seiten: Eine zum Beispiel ist eine medieninterne Entwicklung. Wenn man diese interne Entwicklung beachtet, dann findet man, dass von den Fernsehspielen – wo man noch Schauspieler bezahlen musste, wo man noch inszenieren musste – ein Schritt erfolgte zu Soap Operas, die teilweise stehgreifartig waren - also die Liebe Familie ist in Wahrheit ein Vorbereiter für Taxi Orange, hier noch mit Schauspielern - bis zu von Dilettanten oder Amateuren gespielten Soap Operas, die nicht mehr mit Texten operierten, sondern mit momentan szenisch eingelernten Sätzen, die dann weiter betrieben wurden. Es erfolgte also eine ständige Delegitimierung des Darsteller- und Schauspielerberufes bis endlich das eigentliche Ziel dieser Tendenz erreicht war, nämlich dass die Zuschauer, für die das gemacht wird – und die Zuschauer sind kein Publikum, sondern sie sind Zielgruppen – selber spielen, was von ihresgleichen gesehen wird – erstens. Und zweitens: Der Spielcharakter wird verschleiert. Es wird sozusagen Material produziert, das dann durch die Zusammenschnitte erst diesen Spielcharakter bekommt oder es wird das – wie es Andy Warhol gemacht hat – noch einmal produziert. Es wird sozusagen etwas gezeigt, das sich nicht von dem unterscheidet, was man in der Alltagsrealität übersieht, weil es direkt die Alltagsrealität ist.

Verstehe ich Sie hier richtig, dass solche Phänomene die Simulakren-These von Jean Baudrillard bestätigen [das Simulakrum als referenzloses Bild, das nicht als Abbild eines Objekts auftritt, sondern neuen Wirklichkeitscharakter transportiert]?
Ich will das nicht über diese hochgezüchteten Theorien ableiten. Die Simulakrentheorie ist ja eine totalisierende Kulturtheorie und die betrifft ja nicht nur Taxi Orange, sondern die kommt aus dieser - nun einmal wirklichen – Problematik, dass die Zeichen sich nicht mehr auf etwas Wirkliches beziehen, sondern auf andere Zeichen. Und diese Zeichen sind dann natürlich gleichzeitig Cool Killer. Das ist sozusagen eine Aggression gegen eine gesamte Kultur, während Sie mich ja gefragt haben, was denn das Komplizierte an Taxi Orange ist. Man sollte vorsichtig sein, dass man solche Fragen nicht miteinander verwischt.

Wenn die Protagonisten von Taxi Orange nichts anderes als ihr Äußeres zu Markte tragen und aufgrund dieses Äußeren zu Stars werden – wie Warhol das prophezeit hat und zugleich die Entwicklung der Medien sogar unterschätzt haben dürfte -, worin liegt dann der Grund, dass die Gesellschaft solche Stars akzeptiert?
Einer der Gründe, in meinen Augen, liegt darin, dass generell eine Art von Kulturkampf stattfindet und in dieser Art von Kulturkampf geht es darum, dass jegliche Scheu vor der Banalität abgelegt wird. Die Banalität, sprich „das eigentliche Leben“, die soll sozusagen triumphieren gegenüber den überkommenen, traditionellen Formen der Kultur, die nicht mehr mehrheitsfähig sind und deren Zielgruppen, auch durch die Bildungsprobleme, einen veritablen Charakter von Ohnmacht haben. Die Darstellung der Normalität sollte sich als normale Darstellung durchsetzen, weil man über diese Arten von Darstellungen viel geschickter bestimmte Verhaltensformen breiterer Schichten modellieren kann. Die Selektion dieser Leute – immer gerichtet auf die jeweilige Zielgruppe, das ist schon ein entscheidender Schritt, die Abschaffung des Publikums, das Publikum sind alle, die Zersplitterung des Publikums in Zielgruppen, das ist ein bestimmter Schritt – und wie die Leute selektiert werden, die sozusagen für ihre Zielgruppe ideal sein sollen, das kann man dann ja sehen: Die haben bestimmte Kleider, die haben bestimmte Sprechweisen, die haben bestimmte Umgangsformen, die in der Tat – und da möchte ich jetzt das Gegenteil von dem behaupten, was ich vorher gesagt habe – exklusiv sind, das heißt, sie sind exkludierend. Die verleihen zugleich das Gefühl der Zugehörigkeit aber auch das Gefühl des Ausschließens. Und das Dümmste, was man machen kann, ist kulturkritisch in diese Fragestellungen einzusteigen. – Also genau das, was ich jetzt mache, ist so ungefähr das Dümmste, weil das ja gerade, die von keinem der ausgesetzten Menschen gewollte, Manipulationsabsicht bestätigt. Diese Manipulationsabsicht liegt in dieser Art von Entwicklung, wie ich sie vorhin gezeigt habe. Diese Manipulationsabsicht zielt darauf ab, dass die Ausgeschlossenen aus dieser „Anmache“ sich über ihren Ausschluss beschweren. Damit affirmieren sie genau wiederum die Selektion, die diesem Gesetz folgt, das bestimmt, wie man sich zu verhalten habe und wie man auszusehen habe und das man letzten Endes die Banalität zu zelebrieren habe. Aber das Zelebrieren der Banalität ist ein hoch interessantes künstlerisches Prinzip.

Warhol. – In Ihrem Essay „Nachspiel mit Luhmann“ zitieren Sie den Soziologen Niklas Luhmann: „Interventionen von außen [auf ein System] sind lächerlich, sie sind wenn nicht überhaupt destruktiv, entweder illusionär, also ohnmächtig, oder parasitär, weil die Widersacher gerade die Systemzwänge benutzen, von denen sie sich als Außenseiter befreit haben wollen.“ Ich denke jetzt an ein Vorhaben von Robert Menasse, der als Reaktion auf die Kulturpolitik der österreichischen Regierung die Gründung einer Auslandsfirma für österreichische Künstler überlegt und ähnlich Elfriede Jelinek, die aus denselben Gründen österreichischen Bühnen untersagt, ihre Stücke zu inszenieren. Glauben Sie, angesichts des Luhmann-Zitates, solche Reaktionen sind zielführend und vernünftig?
Also das haben ja mittlerweile alle erkannt, dass bestimmte Gegensätzlichkeiten geradezu notwendig sind, um bestimmte Themen überhaupt aufs Tapet zu bringen. Ohne Gegensätzlichkeit entsteht jene Bühne nicht, die von Medien zubereitet wird, innerhalb derer sich Kräfte durchsetzen. Das heißt, der gesamte Haiderismus wäre unvorstellbar ohne den österreichischen Magazinjournalismus. Dieser so genannte Pop-Faschismus ist ein Produkt des österreichischen Magazinjournalismus, der sich kritisch dazu verhalten hat. Das Problem ist, dass man – deswegen, weil man es erkennt – die anderen Strategien nicht umgekehrt begrüßen muss, nämlich die Strategien der subversiven Affirmation. Die subversive Affirmation ist eine Strategie, wie sie zum Beispiel Schweijk betreibt. Indem er strikt tut, was empfohlen beziehungsweise befohlen ist, führt er das System ad absurdum. Es ist damit nicht gesagt, dass die schlichte Affirmation, also das schlichte Einverständnis das empfehlenswerte Verhalten ist. Und bei Luhmann ist es ja relativ offenkundig, dass der schärfste Kritiker der Kritik selber ein Kritiker ist. Wie man innerhalb dieser Balancen zu Rande kommt, das sind Fragen der Urteilskraft und Urteilskraft ist immer etwas, das sich am besonderen Fall als solche erweist, worüber man nicht allgemein reden kann. Ich glaube – ohne es zu wissen – dass der Vorschlag, ein Steuerparadies für österreichische Künstler zu gründen eine vernünftige Strategie in unserer Gegenwart ist. Nämlich nicht wenn man es tut - denn das wäre idiotisch -, sondern wenn man es ankündigt und damit jenes Thema zum Zirkulieren bringt, anhand dessen sich dann die Geister scheiden und Entscheidungen gefällt werden müssen.

Noch einmal Luhmann: Im schon angesprochenen Essay zitieren und kommentieren Sie: „Das Bewußtsein kann nicht kommunizieren, die Kommunikation kann nicht Wahrnehmen [Luhmann]. ... Kunst nämlich ‘vermittelt’ zwischen den Systemarten des Wahrnehmens und der Kommunikation, ohne ihren Unterschied zu verwischen oder gar ‘aufzuheben’[Schuh]: Sie kann Wahrnehmung und Kommunikation integrieren, ohne zu einer Verschmelzung oder Konfusion der Operationen zu führen. Integration heißt ja nur: Gleichzeitigkeit (Synchronisation) der Operationen verschiedener Systeme und wechselseitige Einschränkung der Freiheitsgrade, die den Systemen von sich aus zur Verfügung stehen [Luhmann].“ Hat die Kunst in diesem Sinn sozialen Modellcharakter, kann sie ein Übungsfeld für Fragen der Gesellschaft sein?
Also das ist eine Frage, die man in dieser Allgemeinheit sehr allgemein beantworten muss: Alle Institutionen einer Gesellschaft – und bezeichnen wir die Kunst als eine Institution der Gesellschaft – haben die Möglichkeit, soziales Modell zu sein. Das heißt, das Rechtssystem, zum Beispiel – um gar nicht vom Industriesystem zu sprechen –, kann ein Modell für das Soziale abgeben. Bei der Kunst, das ist eben der Unterschied, wird dieses soziale Modell, um es schlicht zu sagen, an Sinnenhaftigkeit delegiert. Was nämlich die Kunst – wenn sie gelingt, wenn man das so allgemein sagen kann – am schönsten durchführen kann ist, sinnfällige Bilder etwa vom Sozialen zu liefern im Unterschied zur Abstraktheit des Rechtssystems, in dem das Sinnfällige auf komplexe Verfahren abgeschoben wird. Es ist ja häufig gesagt worden, dass man den Luhmann auch als einen antihegelianischen Hegel verstehen kann. Also als jemanden, der im Prinzip alle gesellschaftlichen Systeme mit einer eigenen Repräsentativität für das Ganze, das es nicht mehr gibt, ausstattet. All diese Systeme sind voneinander abgegrenzt, weshalb es auch eine große Schwierigkeit ist – wie Sie vorhin schon zitierten – von einem ins andere einzugreifen. Falls die Gefahr ökologischer Katastrophen besteht ist es äußerst schwierig, mit ökologischen Vorstellungen in ein nicht ökologisches präpariertes System einzugreifen. Ob solche Interventionen überhaupt möglich sind, das ist – wenn man das dramatisch sagt – unter Umständen eine Überlebensfrage dieser Art von Gesellschaften.

Eine letzte und vielleicht schwierigste Frage: Geben Sie mir einen Buchtipp?
Ich würde empfehlen von Philip Roth „Mein Mann der Kommunist“, weil das ein Buch ist, in dem drei Fragen miteinander konkurrieren: Die Frage der Erziehung und der Bildung – was ist das für ein Mensch, der ein guter Lehrer ist? Was bedeutet das Lehren? Was heißt das, ein Vorbild zu haben? Die zweite Frage ist die ewige Geschlechterfrage: Wie lebt man mit dem anderen Geschlecht und was kann gelernt werden, wenn sich dieses Leben mit dem anderen Geschlecht als nicht mehr möglich erweist? Wieso funktioniert das so merkwürdiger Weise nicht? Und die dritte Frage ist eine sehr schwierige: Es ist die Frage des Verrats. Es gibt bestimmte historische Epochen, in denen jemanden zu verraten, ihn zu denunzieren, für den gefährlich werden kann – abgesehen davon, dass man an der eigenen Seele schaden nehmen kann, wenn man ver-rät beziehungsweise dass dieser Schaden schon die Voraussetzung für den Verrat ist. Es gibt bestimmte historische Epochen, in denen das lebensgefährlich ist oder werden kann. Aber – und das ist ein Versuch des Philip Roth, es uns beizubringen – der Verrat ist die grundsätzliche Existenzweise der Menschen. Das heißt, zum Existieren selber, zum Dasein in der Welt - in der gesellschaftlichen Welt, nicht in der Welt des Kosmos [schmunzelt], wo die Sphären seit Jahrtausenden zusammenstimmen, wie der kleine Mensch zu glauben wähnt, aber in der sozialen Welt - ist der Verrat das zentrale Medium der Kommunikation. Und da kann man nur sagen: So ist es! – Ist es so?

Vielen Dank für das Gespräch.

Als Lektüre sei der jüngste Essayband Schreibkräfte (DuMont) von Franz Schuh empfohlen. Der Text der Poetikvorlesung erscheint im Herbst bei Droschl.
Mit Franz Schuh sprach Wenzel Mracek.
 

JULI/AUGUST-AUSGABE
KUNST /KULTUR / 2003