10 / 2001
  Leserbriefe – Ein Gespräch zwischen Martin Will & Jörg Nauer, aufgezeichnet von Jörg-Martin Willnauer

Jörg Nauer: Du hast doch früher so schöne Leserbriefe geschrieben. Warum hast du das aufgegeben?
M.Will: Weil es sinnlos ist.
J.Nauer: Du meinst, das liest keiner mehr?
M.Will: Ganz im Gegenteil! Die Leserbriefseite zählt zu den meistgelesenen Seiten einer Zeitung. J.Nauer: Und die Kulturseite?
M.Will: Zu den bestignorierten.
J.Nauer: Umso wichtiger sind doch die Leserbriefe! Du könntest hier U-Boote, trojanische Sätze und "Grubenhunde" einschleusen.
M.Will: Schön wär’s! Da schreibst du einen Leserbrief so aphoristisch, dass man ihn nicht mehr kürzen kann und wenn du ihn gedruckt siehst, trifft dich der Schlag. Zufällig fehlt ein wichtiges Wort, und heraus kommt das exakte Gegenteil. Man dreht dir das Wort im Brief um. Oder man lässt den letzten Satz weg und setzt dir eine Überschrift drüber, die das ganze ironisiert. Und du hast das Problem, dass du wochenlang allen Freunden erklären musst, wie das gemeint war.
J.Nauer: Du übertreibst.
M.Will: Alles erlebt.
J.Nauer: Hast du dich beschwert?
M.Will: Reine Adrenalinvergeudung. Die Absicht lässt sich nicht beweisen.
J.Nauer: Fehler passieren eben überall. Tageszeitungen werden prestissimo hergestellt.
M.Will: Die Leserbriefseite wird sehr sorgfältig redigiert. Man weiß, wie wichtig sie ist.
Hier findet sich die ungeschminkte Blattlinie. Wie man in die Leser hineinschreibt, so schreiben sie zurück. Nur derber und deutlicher.
J.Nauer: Du willst doch nicht etwa behaupten, dass z.B. die „Kleine Zeitung“ intolerante und undemokratische Leute unterstützt?!
M.Will: Die Leserbriefseite ist ein exakter Spiegel der Abonnenten. Schon aus marktpolitischen Gründen müssen hier alle Strömungen zufrieden gestellt werden. Auch die braunen.
J.Nauer: Das ist doch eh bekannt, dass die Fundis, Nazi & Rassisten nicht ausgestorben sind. Deshalb muss ich diesen Leuten doch kein Forum bieten!
M.Will: Du sagst es. Aber ganz nebenbei kann man sich bei der Gegenüberstellung konträrer Briefe auch wunderbar heraushalten: der veröffentlichte Volksmund darf geifern und das Blatt ist fein heraus. Man hat’s ja nicht selbst verfasst, sondern nur „Volkes Stimme“ wiedergegeben. Und wenn sich Volksmund-Geruch ausbreitet ist man nicht verantwortlich. Braune Rülpser gibt’s schließlich überall...
J.Nauer: Du meinst, vielen Tageszeitungen ist die Abonnentenzahl wichtiger als eine klar demokratische Haltung? 
M.Will: Mit einer pseudopluralistischen Linie kann ich sachliche Argumente ganz perfid erledigen. Ich stelle einem sachlichen Argument ein rassistisches gegenüber und lasse beide gleichrangig und unkommentiert nebeneinander stehen. 
Die Wirkung kann sich jeder ausrechnen.
J.Nauer: Vorsicht! Du schadest deiner Karriere! 
M.Will: Auf der Leserbriefseite geht’s nicht um Argumente. Da geht’s um Themenführerschaft, Bestätigung und Eitelkeit. All die verhinderten Redakteure, die sich endlich an ihrem gedruckten Namen begeilen dürfen!
J.Nauer: Ich lese oft die gleichen Namen. Der Verdacht einer Symbiose von Redaktion und Autor drängt sich auf.
M.Will: Unseren täglichen Ehm* gib uns heute...
J.Nauer: Es soll in der Steiermark auch eine Zeitung gegeben haben, die ihre Leserbriefe selbst verfasst hat. 
M.Will: Das ist wenigstens ehrlich. Aber die Zeitung ist kürzlich eingegangen.
J.Nauer: Kausaler Zusammenhang?
M.Will: Würde ich nicht behaupten. Aber eine Zeitung, die keine Leserbriefe mehr bekommt, ist tot.
J.Nauer: Wie viele Leserbriefe bekommt der Korso?
M.Will: Tschüß!

* Franz Ehm, notorischer Leserbriefschreiber aus Steiermark.
 

J.Nauer 
M. Will
OKTOBER-AUSGABE
KUNST /KULTUR / 2003