11 / 2000
  Tattoo – vom Stigma zum Status

„Totem und Tattoo“ – unter diesem Motto veranstalteten Mitarbeiter des universitären Spezialforschungsbereiches Moderne von 19. bis 21. Oktober im Grazer Palais Attems ein Symposion über (post)moderne Ästhetik. Ein Schwerpunkt galt der tieferen Bedeutung des Tätowierens.

Feuer speiende Drachen am Rücken und keltische Ornamente am Oberarm – was hat die heutige Modeerscheinung des Tätowierens mit der Wiener Moderne zu tun? Eine Antwort darauf versuchte der Münchner (Kultur-)Soziologe Wolfgang Fritscher zu geben – im Rahmen eines Symposions, veranstaltet vom Grazer Spezialforschungsbereich Moderne in Zusammenarbeit mit der universitären Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften und dem Museum der Wahrnehmung. Fritscher fand in seinem durchaus amüsanten Referat einige gewagte Parallelen zwischen den „Lebenswelten“ der heutigen Tattoo-Szene und dem Wien um die Jahrhundertwende: die Krise der Identität, das Misstrauen gegenüber dem Fortschritt und die lebensnahe Kunstkonzeption. Bei allen Gemeinsamkeiten betonte Fritscher aber, dass er die Parallelen zwischen Klimt und Körperbemalung wohl nur im Rahmen eines derartigen Symposions präsentieren würde.
 

Tatoo-Experte Wolfgang Fritscher: Die kleine Rebellion am Rücken

Tattoo & Identitätsfindung
Identitätskrisen, wie sie der Moderne-Experte Jacques Le Rider für die Wende zum 20. Jahrhundert konstatiert, seien auch ein Kennzeichen derer, die sich heute tätowieren lassen. Das meint Fritscher nach zehnjähriger Beobachtung der Szene, die er nicht nur mit akademischer Distanz untersucht hat. Er selbst trägt zwei Tattoos am Rücken: Sein „erstes Vorbild“ Elvis und – nach kultursoziologischer Erforschung des Flamenco – eine andalusische Tänzerin. Die Auswahl des Motivs hält der Soziologe überhaupt für besonders aussagekräftig: Denn für ihn signalisiert der Akt des Sich-tätowieren-Lassens den Abschluss einer Identitätssuche, den „Versuch, die Identität zu stärken“ durch ein irreversibles Körpermerkmal.
Über die Motive stellt Fritscher einen weitere Verbindung zur Wiener Moderne her. Der häufige Rückgriff der Tätowierten auf traditionelle Bilder und Muster wie beispielsweise keltische Ornamente könne als heute wie damals aktuelle Sehnsucht nach dem idealisierten Primitiven verstanden werden und als Misstrauen gegenüber dem Modernen.
 

„Kleine Rebellion“
Auch die Idee, Kunst solle im Alltag wirken, hätten Jugendstilmöbel und -geschirr laut Fritscher mit den Bildern in der Haut gemeinsam. Eine Besonderheit der Körperbilder ist allerdings, dass der Erwerb eines solchen mit (Lust am) Schmerz verbunden ist. Dieser Schmerz, so der Kultursoziologe, unterstütze die Kraft der „kleinen Rebellion“ gegen die Gesellschaft, die eine Tätowierung für ihn bedeutet. Doch die ohnehin kleine Rebellion wird immer kleiner, seit das Tattoo den Kreis der Häf’nbrüder verlassen und die Mittelschicht erobert hat. Auch Frauen schmücken sich mittlerweile damit. „Heute hat ja schon jede Brezelverkäuferin zumindest einen kleinen Schmetterling in die Hand tätowiert“, so Fritscher. Das Tattoo sei aber mit zunehmender Verbreitung im vergangenen Jahrzehnt auch vom Stigma zum Statussymbol aufgestiegen. Und zwar das echte, nicht das abwaschbare Schmucktattoo, das die Helden der Hollywood-Actionfilme ziert. „Dass gerade das echte Tattoo in Mode ist, widerspricht der Theorie, die Menschen der Postmoderne würden ihre Identität ständig wechseln wollen“, erklärt Fritscher. Denn wer sich tätowieren lässt, legt sich fest.
Ein Drache am Rücken ist eben nicht nur eine Modeerscheinung.  
Ujs

 

 
NOVEMBER-AUSGABE
KUNST / KULTUR / 2003