10/2000
  Austriakischer Mundgeruch, katalonische Obsessionen
 
  Welches Gewicht die erste Auflage des steirischen herbstes der Ära Oswald wirklich hat, werden die nächsten Wochen zeigen.

Erstmals ging die Eröffnung des viel zitierten Avantgarde- und nunmehrigen „Zeiterkundungsfestivals“ ohne offizielle Beteiligung aktiver Politrepräsentanten über die Bühne. Um der Politik der „täglichen Beleidigung“ (Eröffnungsrednerin Marlene Streeruwitz), die seit Februar noch wesentlich lustvoller praktiziert wird als je zuvor, kein zusätzliches Podium zu bieten, übte man sich diesbezüglich zum zweiten Mal nach (und auch in Absprache mit) der Filmwoche DIAGONALE in nobler Zurückhaltung.
 

Manche brauchen komplexe Synthesizer um undefinierbares Knarzen und Blubbern, Zischen und Rauschen, Pfeifen und Quietschen zu erzeugen. Dabei geht das auch ganz natürlich: Mit Gemüse.

Immer wieder Österreich
Doch auch plumpe Oppositions-Rhetorik findet keinen Platz. Stellung wird – sehr erfrischend – ausschließlich über das Programm bezogen.
Marlene Streeruwitz etwa wurde nicht nur als Eröffnungsrednerin engagiert, sondern hat mit der politischen Revue „Sapporo“ auch ihren ersten dramatischen Text seit langer Zeit verfasst (Uraufführung am 26. Oktober).
Unter dem Titel „RE_public“ verbirgt sich seit 7. Oktober ein Kampftrupp zur Rückeroberung des öffentlichen Raums; die Gruppe „Immer wieder Österreich“ zeigt – von Dollfuss bis Cordoba, von der Heimwehr bis zum Austropop – die Höhepunkte eines abstrusen, kollektiven Österreichbewusstseins und Robert Jelineks Österreichduft (Wiener Schnitzel, Bier und Apfelstrudel) schließlich sorgte schon im Vorfeld für ein gewisses Skandalpotenzial („Wird das auch wirklich grausig stinken?“).
Ein breiter Schwerpunkt ist auch der Situation in Ex-Jugoslawien gewidmet. Dejan Dukovskis „Das Pulverfass“ ist als Studie über destruktive menschliche Energien zu verstehen, in „pad / der sturz“ zeichnet Biljana Srbljanovic die Entwicklung Milosevic-Jugoslawiens als groteskes Familiendrama nach und die Reihe „literatur im herbst“ lädt Exilautoren und -autorinnen aus dem Südosten Europas zu Lesungen und Diskussionen nach Graz ein.
„Gier“ der jungen britischen Dramatikerin Sarah Kane erlebt ebenso seine österreichische Uraufführung wie „Obsession“, das aktuelle Programm der spanischen Theaterberserker La Fura dels Baus, die gemeinsam mit dem österreichischen Komponisten Wolfgang Mitterer auch für die Eröffnungsproduktion „white foam“ verantwortlich zeichneten.

Festival im Festival
Das Forum Stadtpark steuert unter dem Titel „Hightech/Lowtech“ ein mehrwöchiges All-Sparten-Festival bei. Eine dicht besetzte Veranstaltungswoche (Ausstellung, Seminare und Präsentationen, Werkstattberichte, Videoscreenings und Konzerte) wird von einer Reihe von Workshops und Vorträge vorbereitet. 
Kurator Orhan Kipcak geht es um den Gegensatz zwischen Hightech und Lowtech, zwischen alter und neuer Technik: Dieser „soll nicht nur als Unterschied zwischen technologischen Entwicklungsstufen vorgestellt werden, sondern auch als Antagonismus, der vor allem auch in politischen, kulturellen und künstlerischen Zusammenhängen auftaucht.“
(Wie etwa die Niederlage der bestausgerüsteten US-Truppen gegen die Guerilla-Kämpfer des Vietcong beweise, dass Produktionsbedingungen keine ursächliche Auswirkung auf das Endprodukt haben müssen.)

Klingende Motoren, musizierendes Gemüse
Besonders die Workshops machen diesen Aspekt deutlich. Sie offerieren die ganze Bandbreite an Möglichkeiten: So stellt die Grazer Motoren-Schmiede AVL den Teilnehmern des Seminars „Motor-Sounddesign“ ihr Hightech-Labor zur psychoakustischen Optimierung von Automobilen zur Verfügung, während das erste Wiener Gemüseorchester seiner Unterrichtseinheit bloß einen kollektiven Besuch am Gemüsemarkt zum Erwerb des benötigten Equipments voranstellt. Im Seminar „Musizieren nach Farben“ des Ersten Wiener Heimorgelorchesters benötigt man zur Teilnahme überhaupt nur mehr „einen freien Finger für das Spiel“.
Die Ergebnisse der Workshops – an denen grundsätzlich jeder Interessierte teilnehmen kann (Anmeldeformulare und Informationen unter: http://forum.mur.at/highlow) – werden in der bereits erwähnten abschließenden Themenwoche präsentiert und mit dem „Forum Stadtpark-Festivalpreis“ prämiert. Der Sieger darf auf eine Kunstreise nach Moskau, „wenn er sich traut“, so Kipcak.

Ausführliche Selbstbespiegelung
Alles in allem legt das Team um Peter Oswald im ersten Jahr ein vielfältiges und hochklassiges Programm vor. Vereinzelt gewinnt aber noch die Beschäftigung mit sich selbst die Oberhand: so nimmt die „typosophische“ Erklärung diverser Merchandising-Gags (etwa das herbst-Salz oder das dem Katalog beigelegte Periodensystem) gleich zwei Drittel des offiziellen Pressetexts ein, die zahlreichen Programmpunkte drängeln sich im restlichen Drittel.
Leider keine Erläuterungen gibt’s allerdings zum bereits traditionellen herbst-Zucker. Dabei lässt gerade die Aufschrift „1. Auflage: 5.63t“ viel Raum zur Interpretation: Ist es ein Versprechen des Intendanten? Kann er es einlösen? Hat die erste Auflage des steirischen herbst unter Peter Oswald tatsächlich so viel Gewicht? Die nächsten Wochen werden es zeigen.

Genauere Programm-Infos: www.steirischerbst.at
 

 
 Andreas R. Peternell
 
OKTOBER-AUSGABE KUNST / KULTUR