12 / 2001
  "Das ist nicht das Vermächtnis der Opfer des Faschismus"

Dass die Anschläge des 11. September und die darauf folgende amerikanisch-britische Militäraktion in Afghanistan die öffentliche Aufmerksamkeit von einer der zentralen Konfliktregionen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts abgelenkt haben, ist widerspruchsvolle Realität: Eben dort, in Palästina, liegt ein wichtiger Schlüssel für die Hintergründe des anti-amerikanischen Terrors.
Mit der in Deutschland lebenden israelischen Menschenrechtanwältin, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und Kreisky-Preis-Trägerin Felicia Langer sprach KORSO-Herausgeber Christian Stenner am Rande der Präsentation ihres neuen Buches "Quo vadis Israel? Die neue Intifada der Palästinenser" im Afro-Asiatischen Institut über die aktuelle Situation und mögliche Perspektiven.

Sie haben in Ihrem Referat betont, die Solidarität mit den Palästinensern müsse ähnlich sein wie die Solidarität gegen die Apartheid – ist Israel ein Apartheidstaat?
Der israelische Staat ist stukturell und manifest gewalttätig gegenüber der arabischen Bevölkerung – in den besetzten Gebieten und in den Autonomie-Zonen, die durch israelische Siedlungen, die Oberhoheit Israels über die Umfahrungsstraßen, die die Siedlungen verbinden und den unterschiedlichen Rechtsstatus von Kleinstgebieten in bantustan-ähnliche Gebilde zerstückelt sind. In meinem Buch berichte ich über die Willkürakte, denen die PalästinenserInnen ausgesetzt sind – von der Enteignung ihrer Grundstücke für den Straßen- und Siedlungsbau über die Zerstörung ihrer Häuser und Olivenhaine unter dem Vorwand israelischer Sicherheitsinteressen und die Liquidierung der Führer des Aufstandes durch Raketenangriffe und Autobomben – ohne jedes gerichtliche Verfahren – bis hin zur alltäglichen Demütigung an den unzähligen Kontrollpunkten und Straßensperren, wo immer wieder entsetzliche Vorfälle passieren: In "Quo vadis Israel" kommt zum Beispiel eine Palästinenserin zu Wort, die ihr Kind an einer solche Sperre zur Welt brachte, weil man sie über Stunden nicht zum Spital durchgelassen hatte, und die dabei noch von israelischen Soldaten verhöhnt wurde. Israel kontrolliert darüber hinaus 83% der Wassereserven in den besetzten Gebieten. Der Ausdruck „Apartheid“ drängt sich in diesem Zusammenhang auf – ganz abgesehen davon, dass die Palästinensergebiete seit 1967 in klarem Widerspruch zum Völkerrecht besetzt sind.

Manchmal fällt es schwer zu verstehen, dass im jüdischen Volk, das durch das unsägliche und historisch einzigartige Leid des Holocaust gegangen ist, nicht mehr Opposition gegen Menschen verachtende Formen der Politik auftritt – auch wenn man sich als Österreicher nicht die Legitimation anmaßen sollte, darüber zu urteilen.
Das Problem besteht darin, dass die israelische Gesellschaft schon seit 34 Jahren als eine Gesellschaft der Besatzer existiert. Es erodiert die moralischen Werte, wenn man jahrzehntelang straffrei herrschen, unterdrücken und UNO-Resolutionen ignorieren kann. So eine Gesellschaft verliert in ihrer Mehrheit sukzessiv ihre moralischen Vorbehalte und Werte und wird tendenziell rassistisch – dass z.B. Araber in Israel als faul und dreckig bezeichnet werden, gehört zum Alltäglichen. Das erinnert leider an das, was wir über uns selbst die längste Zeit hören mussten. Der zweite Grund liegt in der totalen politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Unterstützung durch Amerika, die natürlich auch die herrschende Politik stärkt. Und schließlich wurden auch jahrzehntelang Ängste geschürt, dass wir als Überlebende des Holocaust noch einmal der gleichen Gefahr ausgesetzt seien. Da wird dann alles zur Verteidigung: Erobern, Unterdrücken, Enteignen, Beschlagnahmen und Zerstören sind dann Verteidigungsmaßnahmen. Die offiziellen Medien haben jahrelang verschwiegen, dass wir sehr viele Möglichkeiten gehabt hätten, Frieden zu schließen.
Leider ist es nicht so, dass Leid den Menschen zwangsläufig bessert; nur unsere Friedensbewegung und die Menschenrechtsorganisationen ziehen die wirkliche Lehre aus dem Holocaust, eine Lehre, die Menschlichkeit und Antifaschismus heißt: Wir dürfen nie unterdrücken und gleichgültig für Leid sein.

Man hat Sie des Öfteren scharf angegriffen, weil Sie die Meinung vertreten, dass Israel den Holocaust für seine Politik instrumentalisiert …
Vorausschicken möchte ich: Ich bin selbst, wenn auch indirekt, Überlebende des Holocaust, meine Familie wurde im Holocaust vernichtet und mein Mann, dessen persönliche Geschichte Gegenstand meines vorletzten Buches ist, hat mehrere Konzentrationslager überlebt. Wenn man diese schrecklichen Ereignisse dafür missbraucht, Kritiker an der eigenen Politik mundtot zu machen, dann ist das sehr, sehr schlimm – das ist nicht das Vermächtnis der Opfer des Faschismus. Schon Erich Fried hat sich da sehr klar dazu geäußert, für ihn war die Tatsache, dass die Israelis Menschen verachtende Politik betreiben, sehr schwer zu ertragen.

Wie gehen Sie als politisch links Stehende damit um, dass relevante Teile der deutschen Linken auf eine Linie der bedingungslosen Unterstützung der Politik des Staates Israel eingeschwenkt sind?
Diese Haltung hängt sehr stark mit der erwähnten Instrumentalisierung von Schuldgefühlen zusammen; da gibt es natürlich Unterschiede in der persönlichen Haltung. Es gibt natürlich ehrliche Positionen, die aus einem tiefen – und zu Recht bestehenden – Schuldgefühl kommen, bloß die Schlussfolgerung – dass man Israel nicht kritisieren dürfe – ist eben falsch. Es gibt aber auch opportunistische Positionen, die aus Bequemlichkeit jeder Konfrontation aus dem Weg gehen, weil diese ja nur allzuleicht darin münden, dass jemand gedankenlos Antisemit genannt wird.
Ich versuche jetzt in Deutschland – und ich denke, auch mit ein wenig Erfolg – klar zu machen, dass die israelische Politik kein Tabu sein darf, auch deswegen, weil sie sich ja in letzter Konsequenz auch gegen die Interessen der Israelis und des Staates Israel richtet.

Sie haben, wie viele andere Analytiker der Situation im Nahen Osten, einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen des 11. September und der Lage der PalästinenserInnen hergestellt …
Ja, ich habe das am 14.9. in einer deutschen Fernsehsendung gesagt – unter Protest eines amerikanischen Journalisten, der das nicht dulden wollte. Das Reservoir des Hasses ist kolossal, und dieser Hass richtet sich gegen die USA: Allen Beteiligten ist klar, dass Israel seine Besatzungs- und Siedlungspolitik nicht 34 Jahre lang ohne Unterstützung durch die USA betreiben hätte können. Wer eine solche schreckliche Tat plant, muss nur aus diesem Reservoir schöpfen.
Was die Selbstmordanschläge in Israel betrifft, hat Mahmoud Darwisch, der berühmte palästinensische Autor, auf die Frage nach der Motivation der Selbstmordattentäter sinngemäß gesagt, dass die Bereitschaft der Palästinenser zum Tod damit zusammenhängt, dass wir die Pforte des Lebens für sie verschlossen halten.

Alle Friedensbemühungen scheinen jetzt gescheitert, der begonnene Prozess hinter seine Anfänge zurückgeworfen …
Wir haben es dennoch nicht mit einer griechischen Tragödie zu tun, die zwangsläufig mit Tod und Vernichtung enden muss. Die jüngst geäußerten Pläne von Powell oder Mitchell sind allerdings in der Tat vergebliche Liebesmüh; es gibt aber klare Lösungen, die dem Völkerrecht entsprechen, nämlich die Räumung der Gebiete, zwei Staaten für zwei Völker, die Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes der Palästinenser und das Recht der Flüchtlinge von 1948 auf Rückkehr. Der entscheidende Punkt ist, dass Israel dazu gebracht werden muss, in diese Richtung tätig zu werden. Dazu braucht es internationalen Druck und Solidarität mit den Palästinensern und mit den israelischen Friedenskräften von allen in der Welt, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen.
 

Buchtipp: 
Felicia Langer: Quo vadis Israel? Die neue Intifada der Palästinenser. Lamuv  2001.

Im gleichen Verlag sind auch einige weitere Publikationen der Autorin erschienen, zB.: Lass uns wie Menschen leben. Schein und Wirklichkeit in Palästina (1996)


 
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