11 / 2001
  „Der Terror hat seine Wurzeln nicht in der Religion“

Sind die Terrorakte von New York und der Angriff auf Afghanistan eine Belastung für die Beziehungen zwischen Moslems und „einheimischen” SteirerInnen? Wie sieht die „andere Seite” die Entwicklung der letzten Wochen und Monate?

Für Milan Bionda, den Vorsitzenden des Grazer Ausländerbeirates – selbst kein Moslem –, ist „das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionsgemeinschaften” nicht gefährdet. Verunsicherung gebe es aber schon: „Die bosnischen Muslime, von welchen ich viele kenne, erkundigen sich immer wieder, was diese Ereignisse für ihre Zukunft bedeuten könnten.” Im Ausländerbeirat selbst spielen diese Fragen keine besondere Rolle, denn dessen Mitglieder vertreten, so Bionda, allesamt die Auffassung, dass Religion und Politik getrennt bleiben müssen – „das bedeutet natürlich nicht, dass wir für die Probleme religiöser Menschen taub sind.”
KORSO hat sich unter Angehörigen der islamischen Religionsgemeinschaft in der Steiermark umgehört und sie um ihre Meinung gebeten. Was wir gefunden haben: Eine Vielfalt an Auffassungen, in den meisten Fällen Integrationswillen bei gleichzeitiger Ablehnung religiöser Assimilation, eine vorwiegend kritische Position gegenüber den USA – die aber in den Begriffen der politischen Analyse und nicht etwa des so gerne zitierten „heiligen Krieges” geäußert wird – keineswegs aber eine Billigung von Terroranschlägen gegen Unschuldige.

Dr. Kamel Mahmoud, der neu gewählte Vorsitzende der Islamischen Religionsgemeinde Graz für Steiermark und Kärnten – eine Körperschaft öffentlichen Rechts –, vertritt an die 40.000 Muslime. Auf die Frage, welche Auswirkungen der 11. September und der Angriff auf Afghanistan auf die Beziehungen zwischen den ÖsterreicherInnen und ihren islamischen MitbürgerInnen haben, antwortet Mahmoud mit einer Gegenfrage: „Was denken Sie, wie solche Berichte bei den Einheimischen ankommen?” Und er deutet auf die Kopie eines „Krone”-Artikels, in welchem – ohne eine konkrete Quelle  – behauptet wird, dass auch in Graz einige islamische Terroristen als „Schläfer” überwinterten. Die Story ist mit einem (ganz offensichtlich gestellten) Foto garniert, das zwei Selbstmordattentäter mit Bombengürtel zeigt.

 Verstärkt für die Integration arbeiten
„Wenn Medien so polarisieren, ist es schwierig, dagegen anzukämpfen.” Ob er persönlich auch von Anfeindungen betroffen sei, will ich wissen. „Ich arbeite bei der AVL, die Mitarbeiter dort sind hoch ausgebildet, international tätig und immun gegen diese Art von Hetze. Aber in anderen gesellschaftlichen Schichten ist es viel schwieriger, aufklärend zu wirken.” Dennoch setzt Mahmoud auf die Kraft des Dialogs: Gemeinsam mit Urania-Leiter Dr. Hannes Galter hat er eine Vortragsreihe über den Islam an der Urania initiiert, die gut angenommen wurde. Allerdings sei die Situation durch die Konstruktion eines Feindbildes Christentum – Islam in der öffentlichen Meinung schwieriger geworden: „Huntingtons ,Clash of Cultures‘ wird auch von der anderen Seite genützt – es gibt auch Muslime, die sagen, seht her, man sieht uns ja im Westen bereits als Feinde.”
Die Islamische Religionsgemeinde will jedenfalls, so Mahmoud, verstärkt für die Integration arbeiten – „dazu gehören auch Deutschkurse für die hier lebenden ausländischen Muslime, aber auch Vorträge und Veranstaltungen, die sich an die ÖsterreicherInnen wenden.”

Schmähanrufe gab’s auch schon früher
Der bekannte Grazer Chirurg Dr. Mohammed Gowayed ist Leiter des seit 1980 bestehenden Islamischen Zentrums in der Nibelungengasse – einer von inzwischen nahezu 10 Treffpunkten der verschiedenen islamischen Gemeinden in Graz, die sich entlang ihrer ethnischen Zugehörigkeit, aber auch ihrer verschiedenen Zugänge zur Religion organisiert haben.
Der gebürtige Ägypter Gowayed, der vor mehr als 40 Jahren nach Österreich gekommen ist („Eigentlich wollte ich damals nur rasch mein Medizinstudium hier absolvieren”, erzählt er schmunzelnd) hat keine signifikanten Änderungen im Verhalten gegenüber Menschen islamischen Glaubens festgestellt: „Schmähanrufe gab‘s auch früher schon, vielleicht sind es jetzt ein wenig mehr geworden.” Er sieht in der jetzigen Situation sogar eine Chance: „Noch nie haben sich so viele Menschen mit dem Islam auseinander gesetzt, noch nie hatte ich so viel Gelegenheit, vor einem interessierten Publikum über meine Religion zu sprechen.” Gowayed warnt davor, den Konflikt in einen Konfessionskrieg zwischen Christentum und Islam umzudeuten: „Niemand, der so etwas tut, kann sich dabei auf die Religion berufen.” Der Mediziner zitiert jene Stelle aus dem Koran, die sinngemäß lautet: „Wer einen Unschuldigen tötet, hat die ganze Menschheit getötet” – und fügt aus persönlicher Betroffenheit hinzu: „Ich kämpfe im Spital stundenlang um das Leben eines einzigen Menschen – und da bringt eine Hand voll Terroristen mit einem Schlag Tausende um. Die Leute, die das getan haben, sind Feinde des Islam.” Gowayed stellt sich auch gegen Absolutheitsansprüche – „ob von christlicher und islamischer Seite” und zitiert dazu aus einer Sure des Koran: „Ihr Menschen, wir haben euch als männliche und weibliche Wesen geschaffen, wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennen lernt. Wahrlich, der Angesehenste unter euch ist vor Gott der Gottesfürchtige.”

 „Kein besserer Nachbar als ein Moslem”
Der Terror, so Gowayed, habe seine Wurzeln aber ohnehin nicht in der Religion, sondern in der weltpolitischen Situation: „Die USA haben durch ihre militärischen Angriffe auf Staaten der islamischen Welt und durch ihre Unterstützung der Besatzungspolitik Israels sehr viel Hass auf sich gezogen. Bedenken Sie: Jemand, der etwas zu verlieren hat, begeht nicht solche Wahnsinnstaten – durch einen gerechten Frieden in Palästina wäre dem Terror der Boden entzogen.” Umgekehrt würden die Angriffe auf Afghanistan und die Opfer unter der Zivilbevölkerung einen Solidarisierungseffekt mit radikalen Strömungen nach sich ziehen. Antimoslemischen Reflexen in Österreich möchte Gowayed mit verstärkter Aufklärung über den Islam begegnen – und mit der Feststellung, dass „ein Österreicher sich gar keinen besseren Nachbarn als einen frommen Moslem wünschen kann: ihm kann man bedingungslos vertrauen, weil ihm seine Religion verbietet, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen.”

Der Re-Migrant
Angewidert von „Menschenverachtung und der Abwesenheit jeglicher Spiritualität im kapitalistischen Mitteleuropa” wandte sich der 1952 im steirischen Deutschfeistritz geborene Mohamed Naim Schaffer schon Mitte der 80er-Jahre dem Islam zu. 1996 zog er mit seiner Familie nach Afghanistan, in die 50.000 Einwohner zählende Stadt Jalalabad. Ende der 90er-Jahre übersiedelte die inzwischen siebenköpfige Familie Naim Schaffer nach Kabul. Der Emigrant verdiente seinen Lebensunterhalt u.a. als Händler und Importeur gebrauchter Wohnmobile und Lastkraftwagen. Im Zuge der Ereignisse des 11. September und in Anbetracht eines heraufziehenden Krieges entschloss sich Naim Schaffer zunächst wieder nach Österreich zurückzukehren. „Nahezu nichts, was in Mitteleuropa von den Medien über die Taliban verbreitet wird, entspricht den tatsächlichen Umständen”, betont Schaffer in einem Gespräch mit KORSO Anfang November. Die Bombardierung dieses Landes stelle gleich am Anfang dieses Jahrhunderts einen seiner größten Skandale dar. Um eine eventuelle Renaissance einer islamischen Gesellschaft zu unterdrücken, versuchten die USA mit allem Mitteln, ein starkes und eigenständiges Afghanistan zu verhindern.
 

Von li nach rechts: Milan Bionda: Zusammenleben ist nicht gefährdet; 
Dr. Kamel Mahmoud: Verbittert über unfaire Berichterstattung; 
Dr. Mohammed Gowayed: Noch nie haben sich so viele Menschen 
für den Islam interessiert; Mohamed Naim Schaffer: Will wieder in ein
genuin islamisches Land

Gegen den „Krawattenislam”
Schaffer, selbst Sohn aus wohlhabendem Haus, sieht sich selbst als Gegenpart zu den vielen Moslems, die sich im westlich-christlich-kapitalistischen Europa zu integrieren und eine Karriere aufzubauen versuchen: „Im Laufe der Zeit kommt es bei vielen dieser Immigranten zu Identitätsproblemen und sie wenden sich wieder stärker dem Islam zu. Und damit beginnt die Misere, weil dieser entspiritualisierte, gezähmte ,Krawattenislam‘ nichte mehr zur spirituellen und mentalen Anreicherung beitragen kann. Man kann den Islam nur leben im Sinne des Propheten – der Frieden und Segen Gottes sei auf Ihm. Dann und nur dann ist man geschützt vor gesellschaftlicher Korruption und entgeht einem Schicksal, wie es eben etwa einen Joschka Fischer ereilt, der sich von 100 % seiner früheren Grundsätze verabschiedet hat.”
Die wahabitische Erneuerung des Islam und die seither dominierende Rolle Saudiarabiens bei der „Präsentation des Islam auf der Weltbühne” zusammen mit der unseligen Verquickung des saudischen Königshauses mit US-Interessen trügen wesentliche Anteile an der Schwächung der Muslime. Die Abkehr vom Lehrer-Schüler-Prinzip und den klassischen Rechtsschulen, das Fehlen permanenter mentaler und spiritueller Schärfung in den Koran-Schulen hätten, so Schaffer, den Muslimen nachhaltig geschadet.
Der Einwand, dass jemand, der des Arabischen nicht mächtig ist, den Islam weder verstehen noch leben könne, ist nach Schaffer nicht aufrecht zu erhalten, da der Islam in erster Linie „eine Herzensangelegenheit” ist und es auch „genügend hervorragende Übersetzungen der wichtigen Schriften in alle wichtigen Sprachen gibt, sodass man durchaus von hermeneutisch korrekter Übertragung in andere Kulturen sprechen kann.”
Mohamed Naim Schaffer selbst will, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, dennoch wieder in einem genuin islamischen Land leben: „Die Ausfaltung des eigenen Glaubens und des gerechten Lebens ist dort durch die grundsätzliche Akzeptanz des gelebten Islam gemäß dem Vorbild des Propheten – der Friede und Segen Gottes auf Ihm – unvergleichlich leichter.”

Eine heterogene Religionsgemeinschaft”
Für Dr. Nuraj Kanik-Richter, Psychologin und Beraterin beim Verein ISOP, ist Religion Privatsache, „eine Sache zwischen Gott und mir”. Die gebürtige Türkin ist selbst Moslemin und „in einem laizistischen Land in einer durchschnittlichen türkischen Familie” aufgewachsen, in der „die Religion wichtig war, aber die Ausbildung der Kinder und die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frau ebenfalls einen wichtigen Stellenwert hatten. Mein Vater ist von einer Kleinstadt nach Ankara gezogen, damit wir eine gute Ausbildung bekommen.” Im Kontakt mit ÖsterreicherInnen – etwa im Gespräch mit den LehrerInnen der von ihr betreuten ausländischen Kinder – versucht sie immer klar zu machen, „dass der Islam eine sehr heterogene Religionsgemeinschaft ist” und nicht auf ein paar Klischeebilder reduziert werden darf. Die mit dieser eingeschränkten Wahrnehmung einhergehenden Vorurteile schlagen sich seit den Ereignissen des 11. September immer wieder in offenen Feindseligkeiten gegenüber Menschen nieder, die als Moslems kenntlich sind, konstatiert Kanik-Richter. „Letzthin war eine Frau bei mir, die das traditionelle Kopftuch trägt und hat mir erzählt, dass zwei Ausländerinnen in der Straßenbahn beschimpft und geschlagen wurden, weil sie auch am Kopftuch als Mosleminnen erkennbar waren. Die Frau hatte sichtlich Angst und wollte wissen, ob unsere Deutschkurse wohl nicht zu spät endeten, da sie sich davor fürchtete, spät abends allein nach Hause gehen zu müssen.” Was Kanik-Richter besonders seltsam findet: „Sogar österreichische Intellektuelle haben mich schon gefragt, ob ich nicht schon zum Christentum konvertiert sei … da hab’ ich geantwortet: ,Ihr seid ja wesentlich konservativer als den Menschen des islamischen Kulturkreises immer unterstellt wird …‘”

Mullah Omar und Bin Laden: ein- und dieselbe Person?
Eine wiederum andere Sicht der Dinge bringen uns drei Flüchtlinge aus Afghanistan näher: Abdulzadeh Mohammad Abbas, Abdul Ali Haidari und Mohammad Mansuri gehören der von den sunnitischen, großteils paschtunischen Taliban verfolgten Volksgruppe der schiitischen Hazara an und waren trotz ihrer Jugend in deren nationaler Partei Hesbehwahdad aktiv, die auch Teil der Nord-Allianz ist. 
 

Dr. Nuraj Kanik-Richter (li): Es gibt offene Feindseligkeiten, auch gegen
moslemische Frauen; Afghanistan-Flüchtlinge Abdul Ali Haidari, 
Mohammad Mansuri und Abdulzadeh, Mohammad Abbas: Wir wollen 
weder Taliban noch Amerikaner

Für sie sind die Taliban Eindringlinge von außen, aus Pakistan – und sie lehnen auch die Entrechtung der Frauen durch die „Koranschüler” ab. „Man weiß ja nicht einmal, ob Mullah Omar, der Führer der Taliban, überhaupt Afghane ist”, meint Mohammad Abbas. „Es gibt sogar welche, die meinen, dass Osama Bin Laden und Mullah Omar ein- und dieselbe Person sind …” Den USA werfen sie vor, die Taliban mit 300 Mio Dollar unterstützt zu haben – „sonst hätten sie nie eine solch wichtige Rolle spielen können”. Jetzt aber sei es unwahrscheinlich, dass das Regime schnell gestürzt werde: Wegen der US-Angriffe kämen viele Sympathisanten der Taliban aus dem benachbarten Ausland, um Seite an Seite mit diesen zu kämpfen, sodass der Krieg wohl länger dauern werde. Die US-Intervention halten sie schon allein aus diesem Grund für kontraproduktiv. “Der Weg zu einer Normalisierung kann nur über eine Entwaffnung aller Krieg führenden Parteien gehen – wir wollen weder die Taliban noch die Amerikaner im Land.” Denn: „Bin Laden kann man in einem Land wie Afghanistan nie finden, bei den Angriffen werden hauptsächlich Unschuldige getötet, darauf deuten alle Nachrichten hin.” Auch wenn sie gerne wieder in ihre Heimat zurückkehren würden, merkt man allen dreien den Unglauben an, dass sich die Situation in absehbarer Zeit zum Besseren wenden könne…

„Ich hoffe und bete …”
Rückblende: Genau einen Monat nach den Anschlägen in New York und Washington präsentierten 10- bis 14-jährige Schülerinnen und Schüler der Neuen Mittelschule / Hauptschule St. Andrä in Graz die Ergebnisse eines Schulprojektes zum Thema „Der 11. September und die Zeit danach”. HOL Elfriede Gaisbacher: „An unserer Schule werden vierzehn verschiedene Muttersprachen gesprochen, und die Hälfte der SchülerInnen gehört der islamischen Glaubensgemeinschaft an.
 

Moslems in Graz

Wir wollten erreichen, dass die Kinder sich in die Gedankenwelt beider Konfliktparteien, in jene der Amerikaner und der Afghanen, hineinversetzen und Empathie entwickeln, damit sich keine Feindschaften entwickeln können.” In Form gezeichneter „Angstblumen” sollten die Kinder ihre Ängste darstellen und so auch leichter darüber sprechen können. Und die Befürchtungen der „einheimischen” und der muslimischen Kinder sind identisch: Alle haben Angst vor dem, was da noch kommen könnte. Die kleine Moslemin Leila spricht es stellvertretend für alle aus: „Ich hoffe und bete, dass es keinen Dritten Weltkrieg gibt”.

Christian Stenner, Dieter Kordik

 
NOVEMBER-AUSGABE
GLOBAL CORNER