10 / 2001
  Noam Chomsky: „Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an“

Wer die internationale Diskussion über die globale Krisensituation seit dem 11. September verfolgt, stößt dabei immer wieder auf einen Namen: Noam Chomsky. Der 72-jährige Professor für Linguistik und Philosophie am MIT (Massachusetts Institute for Technology) gilt der New York Times als „bekanntester Dissident der Welt“; er ist  immer wieder als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik hervorgetreten. Das Interview mit Chomsky führte Michael Albert am 30. September 2001. Übersetzung: Heidemarie Springholz.

Warum üben die USA trotz umfangreicher Truppenbewegungen und militärischer Rhetorik weiterhin große Zurückhaltung?
Schon in den ersten Tagen nach dem Angriff wurde der Bush-Administration von NATO-Führungskräften klar gemacht, dass durch einen massiven Angriff Bin Ladens innigster Wunsch in Erfüllung gehen würde: Die Tötung unschuldiger Afghanen würde einen erneuten Zulauf zum Terrornetzwerk Bin Ladens und zu anderen terroristischen Netzwerken bedeuten, die vor 20 Jahren vom CIA im Krieg gegen die Sowjetunion gegründet wurden und die nun ihre eigenen Ziele verfolgen.
Dennoch scheint mir „Zurückhaltung“ nicht das passende Wort. Am 16. September meldete die New York Times, dass „Washington von Pakistan auch eine Sperre der Brennstofflieferungen,... und die Einstellung von Ernährungshilfelieferungen an die afghanische Zivilbevölkerung verlangt hat“. Dies ist dies ein trauriger Hinweis auf die Natur der westlichen Zivilisation, welche die politisch Führenden und Kommentatoren angeblich aufrecht erhalten wollen.
In den darauf folgenden Tagen wurden die Forderungen erfüllt. Am 27.9. berichtete derselbe Korrespondent der NYT, dass „offizielle Stellen in Pakistan versicherten, die 1400 Meilen lange Grenze würde weiter geschlossen werden, eine Maßnahme, die von der amerikanischen Regierung gefordert wurde um zu verhindern, dass sich die Gefolgsleute Bin Ladens in den Flüchtlingsmassen verstecken.“ Unzählige verzweifelte Menschen fliehen zu den geschlossenen Grenzen, wo sie in eine tödliche Falle geraten. Nur einem Bruchteil gelingt es, über unwegsame Gebirgspässe zu fliehen. Wie viele schon ums Leben gekommen sind weiß niemand. Und in wenigen Wochen wird sich der unerbittliche Winter einstellen.

Die UNO hat auf die drohende Hungerkatastrophe hingewiesen. Jetzt reden die USA und Großbritannien über Hilfslieferungen. Was kann man über das Ausmaß und die Effektivität dieser Hilfe sagen?
Die UNO befürchtet, dass 7,8 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht sind. Die NYT berichtete am 25.9., dass beinahe 6 Millionen von den Hilfslieferungen der UNO abhängen, dazu kommen 3,5 Millionen in den Lagern außerhalb der Grenzen Afghanistans. Man kann nur hoffen, dass die Hilfe sehr umfangreich ist, ansonsten bahnt sich in den kommenden Wochen eine humanitäre Katastrophe an.

Internationale Institutionen würden gerne Bemühungen in Gang setzen, Bin Laden und andere zu verhaften und vor Gericht zu stellen, vorausgesetzt seine Schuld kann nachgewiesen werden. Warum meiden die USA diesen Weg?
Wenn man wirklich stichhaltige Beweise vorbringen könnte, wäre es kein Problem unter Führung der UNO enorme Unterstützung für eine internationale Aktion aufzubringen und Bin Laden und seine Kollaborateure festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Aber auch wenn Bin Laden und seine Netzwerke in die Verbrechen vom 11.11. verwickelt sind, ist es sicherlich schwierig, glaubhaftes Beweismaterial vorzulegen. Wie der CIA, der diese Gruppen ja gefördert und über 20 Jahre lang beobachtet hat, selbst genau weiß, handelt es sich dabei um diffuse, dezentrale und nicht-hierarchische Strukturen mit wahrscheinlich geringer Kommunikation oder direkter Weisung. Und so weit wir wissen, sind die meisten der Täter wahrscheinlich in ihren schrecklichen Missionen selbst umgekommen.
 

Noam Chomsky
 

Wenn die Taliban stürzen und Bin Laden gefangen genommen oder getötet wird, was passiert dann? Was passiert mit Afghanistan?
Ein für die Regierung günstiger Weg bestünde darin, den gegenwärtigen leisen Völkermord weiterzuführen und ihn mit humanitären Gesten zu begleiten. Die Regierung wird vielleicht auch versuchen, die Nordallianz zu einer schlagkräftigen Truppe zu machen, vielleicht auch derzeit feindlich gesinnte Stammeskrieger wie Hekmatyar zurückzubringen. Wahrscheinlich werden sie britische und amerikanische Kommandotruppen für gezielte Missionen einsetzen, vielleicht auch selektive Bombardierungen durchführen, allerdings in sehr begrenztem Ausmaß um nicht Bin Laden in die Hände zu arbeiten.
Expatriierte Afghanen und einige interne Elemente, die nicht dem inneren Kreis der Taliban angehören, haben ja bereits die UNO ersucht, eine Art Übergangsregierung zu erstellen. Das mag vielleicht gelingen, vorausgesetzt große Summen an Wiederaufbauhilfe fließen über unabhängige Quellen ins Land. Das ist eigentlich die minimale Verantwortung jener, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dieses verarmte Land in ein Land des Terrors und der Verzweiflung zu verwandeln. Gegenwärtig schließt die Bush-Administration allerdings ein Engagement beim Wiederaufbau aus.


 
OKTOBER-AUSGABE
GLOBAL CORNER