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Noam Chomsky: „Eine
humanitäre Katastrophe bahnt sich an“
Wer die internationale Diskussion über die globale Krisensituation
seit dem 11. September verfolgt, stößt dabei immer wieder auf
einen Namen: Noam Chomsky. Der 72-jährige Professor für Linguistik
und Philosophie am MIT (Massachusetts Institute for Technology) gilt der
New York Times als „bekanntester Dissident der Welt“; er ist immer
wieder als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik
hervorgetreten. Das Interview mit Chomsky führte Michael Albert am
30. September 2001. Übersetzung: Heidemarie Springholz.
Warum üben die USA trotz umfangreicher Truppenbewegungen und
militärischer Rhetorik weiterhin große Zurückhaltung?
Schon in den ersten Tagen nach dem Angriff wurde der Bush-Administration
von NATO-Führungskräften klar gemacht, dass durch einen massiven
Angriff Bin Ladens innigster Wunsch in Erfüllung gehen würde:
Die Tötung unschuldiger Afghanen würde einen erneuten Zulauf
zum Terrornetzwerk Bin Ladens und zu anderen terroristischen Netzwerken
bedeuten, die vor 20 Jahren vom CIA im Krieg gegen die Sowjetunion gegründet
wurden und die nun ihre eigenen Ziele verfolgen.
Dennoch scheint mir „Zurückhaltung“ nicht das passende Wort. Am
16. September meldete die New York Times, dass „Washington von Pakistan
auch eine Sperre der Brennstofflieferungen,... und die Einstellung von
Ernährungshilfelieferungen an die afghanische Zivilbevölkerung
verlangt hat“. Dies ist dies ein trauriger Hinweis auf die Natur der westlichen
Zivilisation, welche die politisch Führenden und Kommentatoren angeblich
aufrecht erhalten wollen.
In den darauf folgenden Tagen wurden die Forderungen erfüllt.
Am 27.9. berichtete derselbe Korrespondent der NYT, dass „offizielle Stellen
in Pakistan versicherten, die 1400 Meilen lange Grenze würde weiter
geschlossen werden, eine Maßnahme, die von der amerikanischen Regierung
gefordert wurde um zu verhindern, dass sich die Gefolgsleute Bin Ladens
in den Flüchtlingsmassen verstecken.“ Unzählige verzweifelte
Menschen fliehen zu den geschlossenen Grenzen, wo sie in eine tödliche
Falle geraten. Nur einem Bruchteil gelingt es, über unwegsame Gebirgspässe
zu fliehen. Wie viele schon ums Leben gekommen sind weiß niemand.
Und in wenigen Wochen wird sich der unerbittliche Winter einstellen.
Die UNO hat auf die drohende Hungerkatastrophe hingewiesen. Jetzt
reden die USA und Großbritannien über Hilfslieferungen. Was
kann man über das Ausmaß und die Effektivität dieser Hilfe
sagen?
Die UNO befürchtet, dass 7,8 Millionen Menschen unmittelbar vom
Hungertod bedroht sind. Die NYT berichtete am 25.9., dass beinahe 6 Millionen
von den Hilfslieferungen der UNO abhängen, dazu kommen 3,5 Millionen
in den Lagern außerhalb der Grenzen Afghanistans. Man kann nur hoffen,
dass die Hilfe sehr umfangreich ist, ansonsten bahnt sich in den kommenden
Wochen eine humanitäre Katastrophe an.
Internationale Institutionen würden gerne Bemühungen in
Gang setzen, Bin Laden und andere zu verhaften und vor Gericht zu stellen,
vorausgesetzt seine Schuld kann nachgewiesen werden. Warum meiden die USA
diesen Weg?
Wenn man wirklich stichhaltige Beweise vorbringen könnte, wäre
es kein Problem unter Führung der UNO enorme Unterstützung für
eine internationale Aktion aufzubringen und Bin Laden und seine Kollaborateure
festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Aber auch wenn Bin Laden und seine
Netzwerke in die Verbrechen vom 11.11. verwickelt sind, ist es sicherlich
schwierig, glaubhaftes Beweismaterial vorzulegen. Wie der CIA, der diese
Gruppen ja gefördert und über 20 Jahre lang beobachtet hat, selbst
genau weiß, handelt es sich dabei um diffuse, dezentrale und nicht-hierarchische
Strukturen mit wahrscheinlich geringer Kommunikation oder direkter Weisung.
Und so weit wir wissen, sind die meisten der Täter wahrscheinlich
in ihren schrecklichen Missionen selbst umgekommen.
Wenn die Taliban stürzen und Bin Laden gefangen genommen oder
getötet wird, was passiert dann? Was passiert mit Afghanistan?
Ein für die Regierung günstiger Weg bestünde darin,
den gegenwärtigen leisen Völkermord weiterzuführen und ihn
mit humanitären Gesten zu begleiten. Die Regierung wird vielleicht
auch versuchen, die Nordallianz zu einer schlagkräftigen Truppe zu
machen, vielleicht auch derzeit feindlich gesinnte Stammeskrieger wie Hekmatyar
zurückzubringen. Wahrscheinlich werden sie britische und amerikanische
Kommandotruppen für gezielte Missionen einsetzen, vielleicht auch
selektive Bombardierungen durchführen, allerdings in sehr begrenztem
Ausmaß um nicht Bin Laden in die Hände zu arbeiten.
Expatriierte Afghanen und einige interne Elemente, die nicht dem inneren
Kreis der Taliban angehören, haben ja bereits die UNO ersucht, eine
Art Übergangsregierung zu erstellen. Das mag vielleicht gelingen,
vorausgesetzt große Summen an Wiederaufbauhilfe fließen über
unabhängige Quellen ins Land. Das ist eigentlich die minimale Verantwortung
jener, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dieses verarmte Land
in ein Land des Terrors und der Verzweiflung zu verwandeln. Gegenwärtig
schließt die Bush-Administration allerdings ein Engagement beim Wiederaufbau
aus. |