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Lieber reich und gesund als arm und krank
„Gesundheit kann man nicht kaufen“ – eine je nach Standort mehr oder weniger
tröstliche Binsenweisheit, die man seit jeher vor allem den Zu-kurz-Gekommenen
wohlweislich in die Stammbücher geschrieben hat. Die zahllosen Beschwichtigungsformeln
sitzen tief: „Lieber arm und gesund als reich und krank“ – Und überhaupt: „Geld macht
nicht glücklich“! – Mag sein – aber es schützt zumindest vor Krankheit und vorzeitigem
Tod, wie seit mindestens anderthalb Jahrhunderten als wissenschaftlich erwiesen gilt.
1849 machte der deutsche Arzt Rudolf Virchow eine Entdeckung, die die bisherigen
medizinischen Glaubensgrundsätze nachhaltig erschüttern sollte: denn als Ursache
der großen oberschlesischen Typhus-Epidemie erkannte er die schlechten Lebensbedingungen
der massenhaft erkrankten Menschen: „Man nehme diese Verhältnisse hinweg und ich
bin überzeugt, dass der epidemische Typhus nicht wiederkehren wird“, meinte er
lapidar und stellte damit als einer der ersten Mediziner Krankheit und soziale
Lage in einen kausalen Zusammenhang.
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Wer teuer lebt, lebt länger …
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Trauriges Zwillingspaar
Gesundheit ist also machbar – soviel haben wir inzwischen gelernt. Aber die Zeit
der verelendeten Massen ist zumindest für Mitteleuropa lange vorbei. Ganz zu
schweigen von den Impfungen und der verbesserten Hygiene, an der inzwischen
jeder teilhaben kann, der will. Wie sinnvoll ist es also, die Virchowschen
Erkenntnisse über das traurige Zwillingspaar Armut und Krankheit auf hochzivilisierte
Gesellschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts anzuwenden? Gesellschaften, in
denen das Recht auf Versorgung im Krankheitsfall für alle Menschen längst erkämpft
und gesetzlich verankert ist?
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Sozialmediziner Freidl: „Vom Anstieg der Lebenserwartung haben vor
allem die Bessergestellten profitiert.“
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„Der Zusammenhang zwischen gesundheitlichem Zustand und sozialem Status von
Menschen konnte in vielen Studien auch für die reichen, modernen Gesellschaften
wissenschaftlich nachgewiesen werden“, klärt Prof. Dr. Wolfgang Freidl vom
Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Grazer Uni auf. Die wesentlichste
Rolle für die ungleiche Verteilung von Gesundheit auch in reichen Ländern spiele
demnach die ökonomische Situation des Einzelnen: So fand man etwa in der berühmten
„Whitehall-Studie“ – in der 1990 rund 17.000 britische Beamte befragt wurden – heraus,
dass Menschen in höheren beruflichen Positionen durchschnittlich später sterben
als ihre weniger erfolgreichen Kollegen. Rund drei Jahre niedriger als jene ihrer
akademisch geschulten, gut verdienenden Geschlechtsgenossen ist die Lebenserwartung
schlecht gebildeter und verdienender Männer. Mehr als zwei Jahre verlieren
durchschnittlich die Frauen, die sich’s nicht besser richten konnten. Und eine
positive Veränderung dieser Situation ist auch am Ende unseres fortschrittsfrohen
Jahrhunderts nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil – die Schere der gesundheitlichen
Ungleichheit klafft gemeinsam mit der wirtschaftlichen immer weiter auseinander!
„Trotz eines generellen Rückgangs der Sterblichkeit in den letzten Jahrzehnten hat
die Mortalitätsungleichheit zwischen den Bildungsgruppen bei Frauen und Männern
in der westlichen Welt sogar zugenommen“, betont Freidl. Vom generellen Anstieg
der Lebenserwartung haben vor allem die ohnehin Bessergestellten profitiert, wie
zahlreiche Untersuchungen belegen.
Die Wohlstandskrankheiten der Armen
Bei welchen Krankheiten spiegelt sich nun die materielle Armut am deutlichsten
wider? „Eigentlich bei allen“, weiß Freidl aus der Analyse internationaler Studien.
„Je tiefer die soziale Position einer Gruppe ist, desto geringer ist ihre
durchschnittliche Lebenserwartung und desto höher sind die Krankheitsraten.“
Bemerkenswert ist die Stabilität dieses sogenannten Schichtgradienten der Krankheit:
„Er lässt sich“, so der Sozialmediziner, „in allen untersuchten Ländern der westlichen
Welt und in den verschiedensten Zeiträumen nachweisen.“ Bei den häufigsten
Todesursachen wie Herzinfarkt, Krebs, Atemwegserkrankungen und Unfällen spiegelt
sich dieses Sozialgefälle ebenso wider wie bei allen chronischen Leiden. Dass die
sogenannten „Wohlstandskrankheiten“ vor allem die ärmeren Schichten betreffen, ist
eine ganz besondere Ironie wortgewordener Vorurteile.
Aber nicht nur von den physischen Erkrankungen sind die unteren Einkommensschichten
stärker betroffen – auch die Gefahr, an der Psyche zu erkranken, steigt, je dünner
der finanzielle Polster wird: Schon bei Kindern aus ärmeren Familien zeigt sich
der Schichtgradient der Gesundheit etwa in Form vermehrter Kopf- und Rückenschmerzen,
geringeren Selbstvertrauens und stärkerer Einsamkeitsgefühle.
Zu kurz geschlossen
Auf der Ursachensuche für diese ernüchternden Fakten landet man zunächst beim
Lebensstil: Na klar, wird sich mancher denken, in den unteren Schichten wird
halt mehr geraucht, mehr getrunken und weniger Sport getrieben – kein Wunder,
wenn’s dann mit der Gesundheit auch nicht so rosig aussieht … Bei genauerer
Untersuchung erweist sich diese Vermutung allerdings als Kurzschluss, denn das
Gesundheitsverhalten trägt nur zu etwa einem Drittel zum Schichtgradienten bei,
wie neuere Studien zeigen. So wurde unter anderem in der Whitehall-Studie nachgewiesen,
dass bei gleichem Risikoverhalten niedere Beamte mehr als doppelt so häufig an
koronaren Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben als leitende Beamte.
Grazer Sozialmedizinisches Zentrum setzt WHO-Forderung um
Die Weltgesundheitsorganisation WHO fordert angesichts dieser krassen gesundheitlichen
Benachteiligung ärmerer Bevölkerungsgruppen eine „Reduktion der Unterschiede im
Gesundheitszustand zwischen den Ländern sowie zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen
innerhalb der Länder um mindestens 25% – und zwar durch die Verbesserung des
Gesundheitsniveaus der benachteiligten Völker und Gruppen“.
Eine der erfolgreichsten und engagiertesten Einrichtungen in Österreich, die diese
WHO-Forderung seit nunmehr einem Jahrzehnt in die Praxis umsetzt, ist das
Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) in Liebenau.
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Ein Teil des SMZ-Teams (v. l.): Dr. Gustav Mittelbach,
Heike Possert, Gerhard Löffler, Dr. Beatrix Hackhofer,
Dr. Rainer Possert, Mag. Sylvia Dyk
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Begonnen hat alles vor 15 Jahren, als eine kleine Gruppe junger Ärzte die erste
allgemeinmedizinische kassenärztliche Praxisgemeinschaft in Österreich gründete.
Und zwar in Liebenau, einem jener benachteiligten Grazer Stadtbezirke, wo es
karrierebewusste Jungärzte üblicherweise nicht allzu heftig hinzieht. Für die
frisch gebackenen Allgemeinmediziner Dr. Rainer Possert, Dr. Gustav Mittelbach,
Dr. Diego Fritsch (der allerdings 1994 die Gruppe verließ) und die
Physiotherapeutin Heike Possert dagegen genau die richtige Gegend, um ihre
Visionen einer kritischen, humanen und sozial orientierten Medizin in die Praxis
umzusetzen. „Am Anfang hatten wir gegen ziemliche Widerstände zu kämpfen“, erinnert
sich Mittelbach. „Die niedergelassenen Ärzte von Liebenau sammelten Unterschriften
gegen uns, und außerdem hatten wir ein Disziplinarverfahren wegen unerlaubter
Werbung am Hals, da wir drei Ärzte eine gemeinsame Visitenkarte hatten.“Dennoch – der
harte Kern erwies sich als hart genug und hielt durch. Was bis 1984 hierzulande
bestenfalls in Form frommer Wünsche und schöner Theorien existierte, wurde durch
diese jungen Ärzte zumindest für den Bezirk Liebenau zur Realität. Aus der kleinen
Pionier-Gruppe entwickelte sich nach fünf Jahren das SMZ Liebenau, das im heurigen
November mit mittlerweile 32 MitarbeiterInnen seinen 15-jährigen Geburtstag
feierte – mit einem Symposium unter dem ironisch-programmatischen Motto „Lieber
reich & gesund als arm & krank“.
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Bei der Gründung des SMZ Liebenau vor 15 Jahren:
Dr. Rainer Possert mit Bürgermeister Alfred Stingl
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Die Utopie lebt
Das Besondere am SMZ: es bietet nicht nur die übliche allgemeinmedizinische
Versorgung des Stadtteils, sondern auch Physio- und Psychotherapie, Sozialarbeit,
Hauskrankenpflege, Alten-, Pflege- und Heimhilfe, logopädische Unterstützung sowie
eine Beratungsstelle. Diese dicht vernetzten Betreuungs- und Beratungsangebote bauen
auf einem Verständnis von Gesundheit auf, das weit über das traditionelle biomedizinische
Krankheitskonzept hinausgeht und psychische, soziale und gesellschaftspolitische
Aspekte sowohl in die Diagnose als auch in die Behandlung miteinbezieht. Denn die
meisten Krankheiten entstehen – wie inzwischen bekannt ist – durch Gesundheitsrisken
in der natürlichen und der sozialen Umwelt eines Menschen. Daher ist die Konzentration
auf rein körperliche Krankheitsmechanismen und eine ausschließlich individualtherapeutische
Behandlung von leidenden Menschen so oft nicht wirklich zielführend. Dass es das
SMZ-Team tatsächlich geschafft hat, eine sozialmedizinische Utopie zu realisieren,
ist neben ihrer Zähigkeit wohl auch ein bisschen der Offenheit der steirischen Landespolitik
zu verdanken. Immerhin konnten mit den Förderungen des Gesundheitsressorts eine
Sozialarbeiterstelle und der Auf- und Ausbau des Bereichs Gesundheitsförderung
finanziert werden. Von den nächtelangen Diskussionen der kritischen Medizinstudenten
bis zum Sozialmedizinischen Zentrum war’s ein langer Weg durch viele Instanzen. Aber
er hat sich gelohnt und heute wird Graz um diese Einrichtung beneidet. Doris Griesser
Sozialmedizinisches Zentrum Liebenau
Verein für Praktische Sozialmedizin
Liebenauer Hauptstr. 102, 104, 104-A
8041 Graz
Tel.: 0316 – 47 17 66 –13
Fax: 0316 – 46 23 40 -19
e-mail:smz@smz.at
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