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„Sehr geehrter Herr Chefportier! Bitte sind Sie so lieb
und schicken Sie diesen Brief auf irgendeine Weise zu der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei.” Mit diesem Vermerk war ein Brief an den Chefportier des
Hotel Commodor in Paris versehen, den die deutsche Grenzüberwachungsstelle
im November 1938 abfing. Was sie darin fand, sollte dem Schreiber dieser
Zeilen, dem Grazer Pförtner Adolf Stengl, zum Verhängnis
werden.
Der 1885 geborene Adolf Stengl war durch viele Jahre hindurch in verschiedenen
europäischen Ländern als Kellner tätig gewesen, ehe er sich
1924 in Graz niederließ, wo er im „Grand Hotel Elefant” (heute ÖGB-Haus
am Südtirolerplatz) als Zimmerkellner bzw. als Hausdiener wirkte.
Als nach dem „Anschluss” Österreichs im August die Wehrmacht das Hotel
übernahm und in ihr die Wehrersatz-Inspektion einrichtete, wurde Stengl
mit niedrigerem Gehalt als Pförtner behalten. Stengl, der bis zum
Verbot der Sozialdemokratischen Partei ihrer Gewerkschaft angehört
hatte, war ob dieser Schlechterstellung so erbost, dass er mehrere Protestbriefe
– u.a. an die Deutsche Arbeitsfront nach München, an Reichskommissar
Bürckel und die Nationalzeitung – schrieb. Unterschrieben hatte er
diese mit den Pseudonymen A. Kowatsch, Ed. Planner und Rob. Bruckner.
„Einige Zeilen aus Graz in der Steiermark”
Mit Rob. Bruckner war auch der Brief nach Paris gezeichnet.
Diesen Brief hatte Stengl am 10. November 1938 geschrieben, als die
nationalsozialistische Presse unter dem Titel „Brand im Grazer Judentempel”
folgenden Bericht erstattete:
„Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand
niedergestreckten deutschen Diplomaten von Rath haben sich im ganzen Reich
spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. Die tiefe Empörung
des Volkes machte sich dabei auch vielfach in starken antijüdischen
Aktionen Luft. Auch in Graz ist die Erbitterung zur Siedehitze gestiegen
und in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ist diese Empörung zur
Explosion geraten. Das israelitische Bethaus am Grieskai, kurz der Judentempel,
wurde von empörten Menschenmassen gestürmt und ging dann in Flammen
auf. Die Kuppel des Tempels ist eingestürzt, was sich im Tempel befunden
hat, ist verbrannt. Auch das Haus der israelitischen Kultusgemeinde und
das anliegende jüdische Schulhaus wurden beschädigt und am Donnerstag
musste die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof der Erbitterung der
Massen weichen.”
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Auch die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof
blieb
am 9. November nicht vor der Zerstörungswut
der Nazis verschont
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Empörung über diese Schandtat veranlasste unmittelbar nach
dem 10. November unabhängig voneinander einige Grazer bzw. Grazerinnen
zur Schreibmaschine zu greifen. So schrieb am 11. November der Grazer Theologe
Johannes Ude einen Brief an den Gauleiter Uiberreither, in dem er seiner
Empörung Ausdruck gab und „die banditenartigen, im gesamten Deutschen
Reich, wie es scheint, wohlorganisierten, in einer einzigen Nacht verübten
Überfälle auf die jüdischen Synagogen, auf die jüdischen
Zeremonienhallen und auf die jüdischen Geschäfte” auf das Schärfste
verurteilte.
Auf einem Flugblatt der KPÖ konnte man wiederum im November 1938
lesen: „Wollen wir das? Dass der innere Friede in Deutschland so aussieht,
dass im Auftrage der braunen Unterdrücker Menschen grauenvoll misshandelt
und Kulturstätten niedergebrannt werden, nachdem man sie vorher beraubt
hat? Dass die deutsche Kultur Formen annimmt, deren man sich im Mittelalter
geschämt hätte? Wollen wir das?”
Und Adolf Stengl alias Rob. Bruckner versuchte zwischen dem 10. und
26. November vier Briefe nach Paris, London und Moskau zu schicken, die
alle mehr oder weniger den gleichen Inhalt hatten und alle abgefangen wurden.
Darin hieß es: „Erlaube mir einige Zeilen aus Graz in der Steiermark
zu senden. Als am 9. November im Reich und in Österreich ein großer
Umzug war, sind am Abend die SS und SA beeidet worden. Weil die einen beeidet
wurden, haben die Hitlerjugend den jüdischen Tempel angezündet
und haben jüdische Geschäfte geplündert und jüdische
Wohnungen ausgeraubt. Sogar den Tempel am Friedhof haben die Hitlerjugend
angezündet. So etwas schreiben die Deutschen Zeitungen nicht. Das
sind ja Einbrecher, und solche Leute straft man nicht. Was wird da das
Ausland dazu sagen. Es sind in Graz Juden, die schon 30, 40, 60 und 70
Jahre am Platz sind. Auch diesen Juden hat man die Wohnungen und Geschäfte
ausgeraubt am Tage des neunten November in der Nacht. Man muss sich als
anständiger Bürger schämen, dass man Österreicher ist
(und jetzt natürlich Deutscher). So etwas hat es im alten Österreich
nicht gegeben. Jedenfalls muss auch diese Wahrheit unter das Volk kommen,
damit die Fremden wissen, was wir jetzt für eine Jugend haben. Der
Tempel ist ebenso ein Gotteshaus wie die Katholische Kirche. Und so etwas
tut man nicht. Aber die Deutschen machen es doch. Hoffentlich geben sie
das im Radio bekannt, wie wir jetzt in Österreich aussehen.”
Sechs Jahre Haft für die Verbreitung der
Wahrheit
Obwohl oder weil er das Pseudonym Rob Bruckner verwendete kam man ihm
rasch auf die Schliche. Bereits am 2. Dezember wurde er verhaftet und vom
Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof angeklagt. Aufwändige Schriftenvergleiche
der Schreibmaschinen, Übereinstimmungen bei Nachtdienstzeiten Stengls
und damit der ungehinderten Zugangsmöglichkeit zur Schreibmaschine
der Wehrersatz-Inspektion und dem jeweiligen Aufgabedatum der Briefe und
die Verwendung des Pseudonyms, dass er auch schon in seinen Protestbriefen
verwendet hat, überführten ihn schließlich.
Als er am 2. April 1940 vor dem Volksgerichtshof stand, war der Theologe
Johannes Ude bereits aus der Steiermark verbannt. Nachdem nämlich
sein Brief an Uiberreither auch in der Pariser Zeitschrift „Nouvelles d‘Autriche”
im Februar 1939 erschienen war, wurde Ude zur Gestapo vorgeladen und zur
Strafe nach Oberösterreich versetzt. Die Schreiberin des KP-Flugblattes
wartete auf ihre Verhandlung wegen Vorbereitung zum Hochverrat, wo sie
nur wenige Tage nach dem Urteilsspruch gegen Stengl zu zwei Jahre und zwei
Monaten Haft verurteilt wurde.
Adolf Stengl, der bis zuletzt leugnete, wurde wegen „versuchten Volksverrates”
zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Damit verliert sich seine Spur.
Ob er die Haft überlebt hat, ist ungewiss.
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