12 / 2001
  Das kurze Leben der Adele Kurzweil
 
 
Adele Kurzweil: Foto auf  dem Antrag auf ein Ausreisevisum

"Auf Wiedersehen in New York, in Graz oder Wien – aber bald!" schrieb am 6. August 1940 der ehemalige Obmann der "Revolutionären Sozialisten Österreichs", der Nachfolgepartei der österreichischen Sozialdemokratischen Partei, Karl Hans Sailer, in das Stammbuch der damals fünfzehnjährigen Grazerin Adele Kurzweil. Adele war mit ihren Eltern und über 50 anderen sozialistischen Familien gerade von Paris in das noch unbesetzte südfranzösische Montauban geflohen. 1942 wurden die Kurzweils dort verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Fünfzig Jahre später wurden auf dem Dachboden der Polizeistation in Auvillar nahe Montauban Koffer gefunden, die der Familie Kurzweil gehört hatten. Dieser Fund war der Ausgangspunkt eines Projektes der Grazer ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassimus und CLIO – Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit, bei dem sich sechzehn SchülerInnen unter Anleitung einer Historikerin und eines Historikers ein Jahr lang mit der Geschichte der Flucht von Adele Kurzweil und ihrer Eltern beschäftigten.
Adele Kurzweil wurde am 31. Jänner 1925 als einziges Kind von Bruno und Gisela Kurzweil in Graz geboren. Bruno Kurzweil war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren ein bekannter Rechtsanwalt und hatte als solcher die steirische Sozialdemokratie bzw. Funktionäre der Partei in einer Reihe spektakulärer Verfahren vertreten – auch nachdem die Sozialdemokratie nach den Februarkämpfen 1934 in die Illegalität gedrängt worden war.
Adele wuchs ungeachtet dieser stürmischen Zeit in einem wohl behüteten Umfeld auf und hatte eine glückliche Zukunft vor sich. 
 

Ein Bild aus glücklicheren Tagen: Gisela Kurzweil, Mary Robinson – eine Freundin Adeles – Adele und Bruno Kurzweil im Juni 1929 in Graz.

Dann übernahmen 1938 die Nationalsozialisten die Macht. Bislang war Adele mit dem Judentum kaum in Berührung gekommen, nun galt sie – obwohl aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten – als Jüdin. Die Familie Kurzweil wurde von all jenen antijüdischen Maßnahmen getroffen, die unmittelbar nach dem „Anschluss“ erlassen worden waren. Bruno Kurzweil wurde aus der Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Zudem musste die Familie ihr Vermögen deklarieren, eine vorbereitende Maßnahme zur späteren "Arisierung". Für Adele bedeutete der "Anschluss" an das nationalsozialistische Deutschland, dass sie ab Herbst 1938 keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, die Schule weiter zu besuchen. Aus diesen – und aus politischen – Gründen entschlossen sich die Kurzweil im Sommer 1938 nach Paris zu emigrieren, wo zu diesem Zeitpunkt bereits viele ihrer Bekannten und Parteifreunde weilten.

Jugend im Flüchtlingsheim
Während sich Bruno Kurzweil in Paris der "Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten" anschloss und für deren Exilzeitschrift Artikel verfasste, trat Adele in die Rote-Falken-Gruppe "Freundschaft" ein, wo den Kindern inmitten der tristen Lage als Flüchtlinge ein Gemeinschaftsgefühl und die Hoffnung auf eine bessere – sozialistische – Welt vermittelt wurde. Die Idylle des Sommers 1939 wurde jedoch je durch den Kriegsbeginn und damit zusammenhängend die Verhaftung aller "feindlichen Ausländer" – und dazu gehörten auch die österreichischen jüdischen Flüchtlinge – unterbrochen. Bruno Kurzweil wurde in das Internierungslager Meslay-du-Maine gebracht. Adele kam daraufhin in das vom Wiener sozialdemokratischen Pädagogen Ernst Papanek geleitete jüdische Flüchtlingsheim nach Montmorency. Während sie von dort aus die Schule besuchte, begann ihr Vater, nachdem er im Februar 1940 aus der Internierung entlassen worden war, sich intensiv in der österreichischen Exilorganisation "Zentralvereinigung österreichischer Emigranten" zu betätigen.

Weitere Fluchtetappe: Montauban
Nachdem im Mai 1940 die deutsche Offensive im Westen begonnen hatte, beschloss die sozialistische Exilorganisation auf Anraten des ehemaligen französischen sozialistischen Ministerpräsidenten Léon Blum in den Süden Frankreichs, nach Montauban, zu gehen.
Da dieser von Vichy aus regierte Teil Frankreichs keine Sicherheit und auch keine Möglichkeit bot, politisch aktiv zu bleiben, verließen die führenden Funktionäre – wie etwa Karl Hans Sailer – Frankreich bald. Nach deren Abreise in die USA übernahm Bruno Kurzweil die "Agenden der Verlassenschaft" der österreichischen Sozialdemokratie in Frankreich. Er organisierte mit Unterstützung aus den USA das Überleben der in Montauban Gebliebenen, versuchte Visa für die USA bzw. Mexiko zu bekommen und verteilte das Geld, das von den bereits nach Amerika Emigrierten nach Frankreich geschickt wurde.
 

Am Lycée Michelet in Montauban wurde eine Gedenktafel für Adele Kurzweil angebracht und der Schulhof nach ihr benannt.

Ermordet in Auschwitz
Inhaftierungen, bürokratische Schranken und mangelnde Arbeitsmöglichkeiten prägten das Leben der in Montauban auf die Visa Wartenden. In diesen Jahren besuchte Adele Kurzweil das Lycée Michelet in Montauban. Nachdem im Jänner 1942 die Nationalsozialisten auf der "Wannsee-Konferenz" die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen hatte, forderte das Deutsche Reich von Frankreich die Auslieferung der Juden. Für die Familie Kurzweil begann wie für Tausende andere auch ein Wettlauf mit der Zeit. Während die rettenden Visa auf sich warten ließen, kam es zu Razzien: 12.000 ausländische Juden wurden am 16. und 17. Juli in Paris verhaftet, Ende August begann eine große Razzia in der Provinz Tarn et Garonne. Allein am 26. August 1942 wurde neben der Familie Kurzweil, die in Auvillar nahe Montauban verhaftet wurde, noch 170 Personen festgenommen und in das Camp de Septfonds gebracht, von wo alle in der Nacht vom 1./2. September nach Drancy und am 9. September mit dem Transport Nr. 30 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden.

Heimo Halbrainer
Ausführlich zum Nachlesen in: 
Christian Ehetreiber, Heimo Halbrainer, Bettina Ramp: Der Koffer der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie in der Emigration, Graz 2001. 

Bestellungen an: 
CLIO, Großgrabenweg 8, 8010 Graz, Fax 82 28 83 12, Mail: clio@gewi.kfunigraz.ac.at, www-gewi.kfunigraz.ac.at/clio
 

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