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Das kurze Leben
der Adele Kurzweil
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Adele Kurzweil: Foto auf dem Antrag auf ein Ausreisevisum |
"Auf Wiedersehen in New York, in Graz oder Wien – aber bald!" schrieb
am 6. August 1940 der ehemalige Obmann der "Revolutionären Sozialisten
Österreichs", der Nachfolgepartei der österreichischen Sozialdemokratischen
Partei, Karl Hans Sailer, in das Stammbuch der damals fünfzehnjährigen
Grazerin Adele Kurzweil. Adele war mit ihren Eltern und über 50 anderen
sozialistischen Familien gerade von Paris in das noch unbesetzte südfranzösische
Montauban geflohen. 1942 wurden die Kurzweils dort verhaftet, nach Auschwitz
deportiert und ermordet.
Fünfzig Jahre später wurden auf dem Dachboden der Polizeistation
in Auvillar nahe Montauban Koffer gefunden, die der Familie Kurzweil gehört
hatten. Dieser Fund war der Ausgangspunkt eines Projektes der Grazer ARGE
Jugend gegen Gewalt und Rassimus und CLIO – Verein für Geschichts-
und Bildungsarbeit, bei dem sich sechzehn SchülerInnen unter Anleitung
einer Historikerin und eines Historikers ein Jahr lang mit der Geschichte
der Flucht von Adele Kurzweil und ihrer Eltern beschäftigten.
Adele Kurzweil wurde am 31. Jänner 1925 als einziges Kind
von Bruno und Gisela Kurzweil in Graz geboren. Bruno Kurzweil war
in den Zwanziger- und Dreißigerjahren ein bekannter Rechtsanwalt
und hatte als solcher die steirische Sozialdemokratie bzw. Funktionäre
der Partei in einer Reihe spektakulärer Verfahren vertreten – auch
nachdem die Sozialdemokratie nach den Februarkämpfen 1934 in die Illegalität
gedrängt worden war.
Adele wuchs ungeachtet dieser stürmischen Zeit in einem wohl behüteten
Umfeld auf und hatte eine glückliche Zukunft vor sich.
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Ein Bild aus glücklicheren Tagen:
Gisela Kurzweil, Mary Robinson – eine Freundin Adeles – Adele und Bruno
Kurzweil im Juni 1929 in Graz. |
Dann übernahmen 1938 die Nationalsozialisten die Macht. Bislang
war Adele mit dem Judentum kaum in Berührung gekommen, nun galt sie
– obwohl aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten – als Jüdin.
Die Familie Kurzweil wurde von all jenen antijüdischen Maßnahmen
getroffen, die unmittelbar nach dem „Anschluss“ erlassen worden waren.
Bruno Kurzweil wurde aus der Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen und erhielt
Berufsverbot. Zudem musste die Familie ihr Vermögen deklarieren, eine
vorbereitende Maßnahme zur späteren "Arisierung". Für Adele
bedeutete der "Anschluss" an das nationalsozialistische Deutschland, dass
sie ab Herbst 1938 keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, die Schule
weiter zu besuchen. Aus diesen – und aus politischen – Gründen entschlossen
sich die Kurzweil im Sommer 1938 nach Paris zu emigrieren, wo zu diesem
Zeitpunkt bereits viele ihrer Bekannten und Parteifreunde weilten.
Jugend im Flüchtlingsheim
Während sich Bruno Kurzweil in Paris der "Auslandsvertretung der
österreichischen Sozialisten" anschloss und für deren Exilzeitschrift
Artikel verfasste, trat Adele in die Rote-Falken-Gruppe "Freundschaft"
ein, wo den Kindern inmitten der tristen Lage als Flüchtlinge ein
Gemeinschaftsgefühl und die Hoffnung auf eine bessere – sozialistische
– Welt vermittelt wurde. Die Idylle des Sommers 1939 wurde jedoch je durch
den Kriegsbeginn und damit zusammenhängend die Verhaftung aller "feindlichen
Ausländer" – und dazu gehörten auch die österreichischen
jüdischen Flüchtlinge – unterbrochen. Bruno Kurzweil wurde in
das Internierungslager Meslay-du-Maine gebracht. Adele kam daraufhin in
das vom Wiener sozialdemokratischen Pädagogen Ernst Papanek geleitete
jüdische Flüchtlingsheim nach Montmorency. Während sie von
dort aus die Schule besuchte, begann ihr Vater, nachdem er im Februar 1940
aus der Internierung entlassen worden war, sich intensiv in der österreichischen
Exilorganisation "Zentralvereinigung österreichischer Emigranten"
zu betätigen.
Weitere Fluchtetappe: Montauban
Nachdem im Mai 1940 die deutsche Offensive im Westen begonnen hatte,
beschloss die sozialistische Exilorganisation auf Anraten des ehemaligen
französischen sozialistischen Ministerpräsidenten Léon
Blum in den Süden Frankreichs, nach Montauban, zu gehen.
Da dieser von Vichy aus regierte Teil Frankreichs keine Sicherheit
und auch keine Möglichkeit bot, politisch aktiv zu bleiben, verließen
die führenden Funktionäre – wie etwa Karl Hans Sailer –
Frankreich bald. Nach deren Abreise in die USA übernahm Bruno Kurzweil
die "Agenden der Verlassenschaft" der österreichischen Sozialdemokratie
in Frankreich. Er organisierte mit Unterstützung aus den USA das Überleben
der in Montauban Gebliebenen, versuchte Visa für die USA bzw. Mexiko
zu bekommen und verteilte das Geld, das von den bereits nach Amerika Emigrierten
nach Frankreich geschickt wurde.
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Am Lycée Michelet in Montauban wurde
eine Gedenktafel für Adele Kurzweil angebracht und der Schulhof nach
ihr benannt. |
Ermordet in Auschwitz
Inhaftierungen, bürokratische Schranken und mangelnde Arbeitsmöglichkeiten
prägten das Leben der in Montauban auf die Visa Wartenden. In diesen
Jahren besuchte Adele Kurzweil das Lycée Michelet in Montauban.
Nachdem im Jänner 1942 die Nationalsozialisten auf der "Wannsee-Konferenz"
die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen hatte, forderte das Deutsche
Reich von Frankreich die Auslieferung der Juden. Für die Familie Kurzweil
begann wie für Tausende andere auch ein Wettlauf mit der Zeit. Während
die rettenden Visa auf sich warten ließen, kam es zu Razzien: 12.000
ausländische Juden wurden am 16. und 17. Juli in Paris verhaftet,
Ende August begann eine große Razzia in der Provinz Tarn et Garonne.
Allein am 26. August 1942 wurde neben der Familie Kurzweil, die in Auvillar
nahe Montauban verhaftet wurde, noch 170 Personen festgenommen und in das
Camp de Septfonds gebracht, von wo alle in der Nacht vom 1./2. September
nach Drancy und am 9. September mit dem Transport Nr. 30 nach Auschwitz
deportiert und ermordet wurden.
Heimo Halbrainer
Ausführlich zum Nachlesen in:
Christian Ehetreiber, Heimo Halbrainer, Bettina Ramp: Der Koffer
der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie
in der Emigration, Graz 2001.
Bestellungen an:
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