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Vergessene Opfer – gefeierte
Täter: NS-Euthanasie in der Steiermark (I)
Erst jetzt, 55 Jahre nach Kriegsende, wurde im Rahmen der Tagung
„Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark“ in der Aula der Grazer
Universität erstmals ein Stück offizieller Aufklärungs-
und Erinnerungsarbeit zu einem der dunkelsten Kapitel der steirischen Geschichte
geleistet. Mindestens 1500 steirische Kinder und Erwachsene wurden Opfer
der NS-Euthanasie in der Grazer „Landesheil- und Pflegeanstalt Am Feldhof“
(der heutigen Landesnervenklinik Sigmund Freud – LSF) und anderen steirischen
Anstalten. Hunderte Menschen wurden zwangssterilisiert, um dem Wahn von
einer gesunden arischen Rasse Genüge zu tun. Eng verbunden mit diesen
Vorgängen ist die Geschichte der Medizinischen Fakultät der Grazer
Universität. Hier lehrten auch überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus,
die als Mitglieder von Erbgesundheitsgerichten und als Euthanasiegutachter
aktiv an diesen NS-Verbrechen beteiligt waren. Nach 1945 dachte in der
Steiermark kaum jemand ernsthaft an Aufarbeitung. Im Gegenteil: die Opfer
wurden vergessen, die Täter blieben oder kehrten bald wieder an ihre
angestammten Plätze zurück und fanden als gefeierte Wissenschafter
Eingang in die Annalen.
Trotz der hohen Zahl der Opfer der NS-Euthanasie wissen oft nicht einmal
die Angehörigen Bescheid über das Schicksal ihrer ermordeten
Verwandten.
„Ich habe erst Jahrzehnte später davon
erfahren“
„Meine Großmutter Maria Rüstl kam durch ein ‚Nervenleiden‘
bereits 1919 in die Anstalt Maria Lankowitz. Ich habe erst Jahrzehnte nach
dem Krieg erfahren, dass sie um 1940 in Hartheim getötet worden ist.
Mein Großvater wollte mit mir nicht darüber reden. Er hatte
gleich nach ihrem Tod wieder geheiratet. Vielleicht hatte er ein schlechtes
Gewissen, weil er sie unter Umständen noch hätte herausholen
können.“
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Maria Rüstl: Die Mutter von zwei Kindern wurde nach
mehr als 20 Jahren „Behandlung“ in der Feldhof-Filiale Maria Lankowitz
im Oktober 1940 in Hartheim ermordet. |
So wie der Enkelin von Maria Rüstl geht es vielen Angehörigen,
weiß der deutsche Sozialpädagoge Dr. Ernst Klee, der
mehrere Bücher über die NS-Euthanasie verfasst hat: „Der Schutz
der Täter stand immer höher als Schutz der Opfer. Wir brauchen
eine Kultur, in deren Mittelpunkt die Opfer stehen und wo Angehörige
einen Platz haben, um trauern zu können.“
Den Opfern ihre Geschichte zurückgeben
Für Graz wird es in Zukunft leichter möglich sein, Genaueres
über das Schicksal der Euthanasieopfer zu erfahren. Zu verdanken ist
dies vor allem der Arbeit von Mag. Birgit Poier. Selbst Krankenschwester
in der LSF, hat sie sich in ihrer Diplomarbeit (die im kommenden Jahr als
Buch erscheinen wird) auf die Suche nach den Opfern gemacht. Poier: „Bestärkt
durch das Interesse der letzten Zeit, das mir gezeigt hat, wie viele Menschen
es noch gibt, die Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen
haben möchten, stelle ich meine Ergebnisse für Nachfragen zur
Verfügung“. (Auskünfte zu NS-Euthanasie-Opfern
können schriftlich unter folgender Adresse eingeholt werden - zur
Legitimation bitte eine Kopie der Geburts- oder Sterbeurkunde beilegen:
Mag. Birgit Poier, Landesnervenklinik Sigmund Freud, Wagner-Jauregg-Platz
1, 8053 Graz).
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Mag. Birgit Poier: Recherchierte das Schicksal steirischer
Euthanasieopfer. |
Tötung durch Kohlenmonoxid
In der „Aktion T 4“, benannt nach der Tiergartenstraße 4, der
Adresse der zuständigen Zentralstelle in Berlin, wurden 1940 und 1941
massenweise meist erwachsene Geisteskranke, Behinderte und andere in Heil-
und Pflegeanstalten untergebrachte PatientInnen getötet. Um dieses
Morden möglichst schnell durchführen zu können, entschied
man sich für die Tötung mittels Kohlenmonoxid in eigens errichteten
Gaskammern. Die einzige österreichische Tötungsanstalt befand
sich bei Hartheim in Oberösterreich, wo insgesamt 18.269 Personen
den Tod fanden. Hierher brachte man alle Anstaltsinsassen aus der Steiermark
und Untersteiermark. Poier: „Es sind für den Zeitraum vom Mai 1940
bis zum Juni des Folgejahres 15 Transporte mit insgesamt mindestens 1066
Personen nachweisbar. Es ist aber davon auszugehen, dass es noch mehr Opfer
gegeben hat.“
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Liste eines Patiententransportes vom Feldhof nach Hartheim |
„Unproduktive“ und „Lästige“
Aus den Anstalten sollten vor allem alte Menschen, LangzeitpatientInnen
sowie Personen mit attestierter Schizophrenie, Epilepsie oder Paralyse
beseitigt werden. Laut dem damaligen Feldhof-Primararzt Dr. Ernst Arlt,
dessen Tagebuch erst letztes Jahr aufgetaucht ist, wurden über diese
Personen Meldebögen ausgefüllt – oft oberflächlich oder
ohne persönliche Kenntnis der PatientInnen. Anhand dieser entschieden
„Gutachter“ innerhalb kürzester Zeit darüber, ob jemand getötet
werden sollte oder nicht. Neben dem Kriterium „Erbkrankheit“ spielten die
Arbeitsleistung und das Benehmen der PatientInnen eine große Rolle.
So wurden, wie Poier anhand der von ihr durchgesehenen Rapportbücher
und Krankengeschichten belegt, viele Menschen nach Hartheim gebracht, die
als unproduktiv, lästig, verlogen oder anmaßend charakterisiert
wurden.
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Ida Maly (hier auf einem Foto von 1918): Die Malerin
wurde im Februar '41 vom Feldhof nach Hartheim transportiert
und dort umgebracht |
Unter ihnen befand sich auch die Grazer Malerin Ida Maly. Der
Grazer Moderne-Experte Günter Eisenhut, der zurzeit mit den
Vorbereitungen für eine Ausstellung zu verfolgten KünstlerInnen
von 1933-45 beschäftigt ist: „Anfang der 30-er Jahre malte Maly Bilder
im Stil des Art déco mit abstrakten Tendenzen. Nach ihrer Einweisung
in den Feldhof, wo ihr Schizophrenie diagnostiziert wurde, entstand ein
außergewöhnliches Werk, das nicht nur ihre eigene Situation,
sondern auch exemplarisch die politischen Verhältnisse spiegelt.“
„ ... da sind die Patienten dann verladen worden“
Der Abtransport erfolgte direkt von den Zuggleisen beim Feldhof, wie
ein Augenzeuge berichtet: „Sie sind zu Fuß zum Bahndamm gegangen,
da stand um 5 Uhr früh eine Lok mit angehängtem Viehwagon bereit,
bewacht von der SS. Da sind die Patienten dann verladen worden.“
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Über dieses Feld führte der letzte Weg der
Euthanasie-Opfer zu den Bahngleisen. |
Um Verwechslungen auszuschließen, wurde ihnen ihr Name mit Jod
auf die Haut geschrieben. Wie menschenverachtend vorgegangen wurde, zeigt
ein Streit zwischen der Direktion des Feldhofs und Rudolf Lonauer,
dem Direktor von Hartheim, um das verbliebene Hab und Gut der PatientInnen.
Lonauer übermittelte eine eigene Liste der Habseligkeiten, auf die
er besonderen Wert legte. Poier: „Dazu zählte er etwa Schmuck, Brieföffner,
Sparbücher, Briefmarkensammlungen und sogar künstliche Gebisse,
soweit sie sich nicht im Munde des Patienten befänden.“ Eine ehemalige
Pflegerin berichtet, dass die Wertgegenstände aber auch anderen Patienten
gegeben wurden oder Pfleger sie verkauft hätten.
Vernichtungsanstalt Hartheim
In Hartheim wurden die Opfer zunächst einem Arzt vorgeführt,
dessen Aufgabe es war, eine plausible Todesursache für sie zu erfinden.
Dabei konnte er aus einem Katalog von 61 genau beschriebenen Todesarten
wählen. Es wurde sogar eigens vermieden, dass sich die Todesursachen
von PatientInnen aus gleichem Herkunftsgebiet zu sehr ähnelten. Zuletzt
wurden die Opfer fotografiert, bevor man sie direkt vom Aufnahmeraum in
die als Dusch- oder Inhalationsräume getarnten angrenzenden Gaskammern
brachte und ermordete. Die Leichen wurden in eigenen Krematorien verbrannt.
Die Informationen an die Hinterbliebenen hinsichtlich des Todesdatums und
der Todesursache entsprachen daher nie der Wahrheit. Selbst der genaue
Inhalt der Urnen ist ungewiss.
Viele wussten davon
Diese plötzlichen massenhaften „Verlegungen“ blieben nicht unbemerkt.
Sowohl unter den PatientInnen als auch vielen Angehörigen dürfte
deren tatsächliche Bedeutung nicht unbekannt gewesen sein. So schrieb
die Schwester einer Ermordeten an einen Anstaltsarzt: „Die Nachricht von
der Überstellung nach Hartheim hat mich maßlos erschüttert,
da diese Anstalt in der Öffentlichkeit bekannt ist und ich nun wusste,
dass damit ihr Todesurteil gesprochen wurde.“ Aus der Filialanstalt Schwanberg
ist bekannt, dass sich Angehörige um die Entlassung ihrer Verwandten
bemüht hatten, dies jedoch von der Feldhof-Leitung abgelehnt wurde.
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Ins Tagebuch des Dr. Ernst Arlt
(ärztlicher Leiter des Feldhofes von 1955-60) eingeklebte Todesanzeige
mit einem Vermerk von Arlt. |
So wurden neben dem Grazer Feldhof auch aus seinen Zweigstellen Kainbach
bei Graz, Messendorf, Schwanberg und Maria Lankowitz viele direkt nach
Hartheim transportiert. In der Landessiechenanstalt Kindberg wurde die
Tötung von 140 Personen bald nach dem Krieg publik. Dazu kommt noch
eine bisher unbekannte Anzahl von Opfern in den Landessiechenanstalten
Feldbach, Knittelfeld und Ehrnau bei Mautern.
Dass es auch außerhalb des engen Kreises von Opfern und Angehörigen
ein breiteres Wissen über diese Morde gab, zeigt, so der Grazer Historiker
Mag.
Heimo Halbrainer, ein Flugblatt der Grazer KPÖ-Widerstandsgruppe
um Karl Drews und Herbert Eichholzer. Halbrainer: „Das Flugblatt
berichtet von den tausenden Opfern der Euthanasie in Wien und erwähnt
auch die Aktion am Feldhof.“ Es schließt mit den Worten: „Kein anständiger
Mensch kann mehr in dieser Partei bleiben, die kaltblütig und überlegt
kranke und alte Menschen mordet.“
Bettenplanung auf Hartheim-Transporten aufgebaut
Doch erst eine Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen,
in der er die Praxis der Euthanasie geißelte, führte im August
1941 zum offiziellen Stopp der „Aktion T4“ im gesamten Deutschen Reich.
Dieser Umstand, die teilweise Auflassung der Filialen und Überführung
der noch lebenden Insassen in den Feldhof bzw. die Gründung einer
Siechenabteilung führten im Feldhof wieder zu einem solchen Anstieg
der Zahl der Kranken, dass viele von ihnen auf Strohsäcken schlafen
mussten. Feldhof-Direktor Dr. Oskar Begusch bat daher die Statthalterei
um Hilfe, denn es sei für die Zukunft, „da die Hartheim-Transporte,
auf deren Fortsetzung die ganze Bettenplanung aufgebaut war, eingestellt
sind, mit einem ungeheuren Überbeleg zu rechnen.“ Wie „erfolgreich“
diese Transporte in den Augen der Anstaltsleitungen waren, zeigt ein Schreiben
des Pflegeheimes Schwanberg im Februar 1941: „Durch den erfolgten Abtransport
von 145 Pfleglingen ist nunmehr Gelegenheit geboten sofort verschiedene
dringendst gebotene notwendige Weissigungsarbeiten in den Anstaltsräumlichkeiten
bewerkstelligen zu lassen.“
Kindereuthanasie – sämtliche Abteilungen
involviert?
Neben den Erwachsenen wurden im Feldhof hunderte Kinder Opfer des Regimes
und der dortigen Ärzte. Seit 1939 waren Ärzte und Hebammen verpflichtet,
missgestaltete und behinderte Neugeborene dem Gesundheitsamt zu melden.
In der Folge urteilten wiederum „Gutachter“ anhand der gemeldeten Daten
über Leben und Tod. Für die betroffenen Kinder wurden in den
Anstalten eigene „Kinderfachabteilungen“ gegründet, deren bekannteste
der Wiener „Spiegelgrund“ ist, in der Dr. Heinrich Gross Kinder
für seine „wissenschaftlichen“ Arbeiten verwendete. Thomas Oelschläger
aus Münster beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschungsarbeit
zur Kindereuthanasie seit Jahren intensiv mit der Steiermark und der Untersteiermark.
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Bei der Tagung „Medizin und Nationalsozialismus
in der Steiermark“ (von links):
Univ.-Prof. Dr. Rainer Danzinger, ärztlicher
Direktor der Landesnervenklinik Sigmund Freud: „Euthanasie hat leider auch
starke aktuelle Bezüge“; Theologe und Sozialpädagoge Dr. Ernst
Klee: „Der Schutz der NS-Täter stand immer höher als der Schutz
ihrer Opfer“; ao. Univ.-Prof. Dr. Alois Kernbauer, Leiter der universitären
Arbeitsgruppe „Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus“: „Wir stehen
bei der Aufarbeitung des Themas erst am Anfang“; Historiker Thomas Oelschläger:
„Alle Ärzte und Abteilungen am Feldhof waren in die Euthanasie mit
einbezogen.“
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Sein Urteil: „Was die Kinder und Jugendlichen betrifft, so waren am
Feldhof sämtliche Abteilungen und Ärzte einbezogen.“ In der Regel
dauerte das Martyrium der Kinder, so Oelschläger, mehrere Monate,
in der sie von einer Anstalt in die andere hin- und hergeschoben wurden.
Er weiß von einem Zwölfährigen zu berichten, der von Ljubljana
in den Feldhof gebracht wurde. „Dort beschrieben ihn Tests als intellektuell
rückständig. Verlegt nach Messendorf wurde dort seine Arbeitsfähigkeit,
später in Kainbach die ‚Bildungsfähigkeit‘ überprüft.
Innerhalb von Monaten verschlechterte sich sein Zustand und im Mai 1942
erfolgte die Rückstellung nach Messendorf.“ Nachdem dort noch eine
Zeit lang seine „Arbeitsfähigkeit“ ausgenutzt wurde, verlegte man
ihn 1943, da er zu „keiner Beschäftigung mehr zu verwenden war“, wie
es in einem Krankenbericht lapidar hieß, in den Feldhof zurück.
Dort starb er zwei Monate später. Meist wurden die Kinder, wie auch
ehemalige Angestellte berichten, durch Spritzen getötet. Manche ließ
man einfach verhungern.
Auch im Feldhof wurde getötet
An der Tötung von Kindern im Feldhof beteiligt sollen, so haben
die Nachforschungen von Birgit Poier ergeben, Dr. Peter Korp, Leiter der
Kinderabteilung, Dr. Hans Mayr als Leiter der Pflegeabteilung sowie Dr.
Ernst Sorger, der Landesobmann der Erbbiologischen Bestandsaufnahme, gewesen
sein. Letzterer verübte im August 1945 Selbstmord, während gegen
ihn wegen Tötung von 13 behinderten Kindern ermittelt wurde. Dr. Korp
hingegen, der zusammen mit seiner Assistentin Dr. Josefine Hermann zuständig
war für die Feldhof-Außenstellen in Bruck/Mur, Kainbach und
Pertlstein, traf es nach 1945 um vieles besser. Oelschläger: „Er wurde
erster Nachkriegsdirektor des Feldhofs und Herrmann übernahm die Leitung
der Heilpädagogischen Abteilung der Kinder und Jugendpsychiatrie.“
Über die Karrieren der TäterInnen nach 1945, über
die Mechanismen der Verdrängung und Pläne zur weiteren Aufarbeitung
berichten wir im zweiten Teil dieser Reportage in der nächsten KORSO-Ausgabe
(Februar 2001).
Joachim Hainzl
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