12 / 2000
 
Vergessene Opfer – gefeierte Täter: NS-Euthanasie in der Steiermark (I)

Erst jetzt, 55 Jahre nach Kriegsende, wurde im Rahmen der Tagung „Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark“ in der Aula der Grazer Universität erstmals ein Stück offizieller Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit zu einem der dunkelsten Kapitel der steirischen Geschichte geleistet. Mindestens 1500 steirische Kinder und Erwachsene wurden Opfer der NS-Euthanasie in der Grazer „Landesheil- und Pflegeanstalt Am Feldhof“ (der heutigen Landesnervenklinik Sigmund Freud – LSF) und anderen steirischen Anstalten. Hunderte Menschen wurden zwangssterilisiert, um dem Wahn von einer gesunden arischen Rasse Genüge zu tun. Eng verbunden mit diesen Vorgängen ist die Geschichte der Medizinischen Fakultät der Grazer Universität. Hier lehrten auch überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus, die als Mitglieder von Erbgesundheitsgerichten und als Euthanasiegutachter aktiv an diesen NS-Verbrechen beteiligt waren. Nach 1945 dachte in der Steiermark kaum jemand ernsthaft an Aufarbeitung. Im Gegenteil: die Opfer wurden vergessen, die Täter blieben oder kehrten bald wieder an ihre angestammten Plätze zurück und fanden als gefeierte Wissenschafter Eingang in die Annalen.

Trotz der hohen Zahl der Opfer der NS-Euthanasie wissen oft nicht einmal die Angehörigen Bescheid über das Schicksal ihrer ermordeten Verwandten.

„Ich habe erst Jahrzehnte später davon erfahren“
„Meine Großmutter Maria Rüstl kam durch ein ‚Nervenleiden‘ bereits 1919 in die Anstalt Maria Lankowitz. Ich habe erst Jahrzehnte nach dem Krieg erfahren, dass sie um 1940 in Hartheim getötet worden ist. Mein Großvater wollte mit mir nicht darüber reden. Er hatte gleich nach ihrem Tod wieder geheiratet. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sie unter Umständen noch hätte herausholen können.“ 
 

Maria Rüstl: Die Mutter von zwei Kindern wurde nach mehr als 20 Jahren „Behandlung“ in der Feldhof-Filiale Maria Lankowitz im Oktober 1940 in Hartheim ermordet.

So wie der Enkelin von Maria Rüstl geht es vielen Angehörigen, weiß der deutsche Sozialpädagoge Dr. Ernst Klee, der mehrere Bücher über die NS-Euthanasie verfasst hat: „Der Schutz der Täter stand immer höher als Schutz der Opfer. Wir brauchen eine Kultur, in deren Mittelpunkt die Opfer stehen und wo Angehörige einen Platz haben, um trauern zu können.“ 

Den Opfern ihre Geschichte zurückgeben
Für Graz wird es in Zukunft leichter möglich sein, Genaueres über das Schicksal der Euthanasieopfer zu erfahren. Zu verdanken ist dies vor allem der Arbeit von Mag. Birgit Poier. Selbst Krankenschwester in der LSF, hat sie sich in ihrer Diplomarbeit (die im kommenden Jahr als Buch erscheinen wird) auf die Suche nach den Opfern gemacht. Poier: „Bestärkt durch das Interesse der letzten Zeit, das mir gezeigt hat, wie viele Menschen es noch gibt, die Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen haben möchten, stelle ich meine Ergebnisse für Nachfragen zur Verfügung“. (Auskünfte zu NS-Euthanasie-Opfern können schriftlich unter folgender Adresse eingeholt werden - zur Legitimation bitte eine Kopie der Geburts- oder Sterbeurkunde beilegen: Mag. Birgit Poier, Landesnervenklinik Sigmund Freud, Wagner-Jauregg-Platz 1, 8053 Graz).
 

Mag. Birgit Poier: Recherchierte das Schicksal steirischer Euthanasieopfer.

Tötung durch Kohlenmonoxid
In der „Aktion T 4“, benannt nach der Tiergartenstraße 4, der Adresse der zuständigen Zentralstelle in Berlin, wurden 1940 und 1941 massenweise meist erwachsene Geisteskranke, Behinderte und andere in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachte PatientInnen getötet. Um dieses Morden möglichst schnell durchführen zu können, entschied man sich für die Tötung mittels Kohlenmonoxid in eigens errichteten Gaskammern. Die einzige österreichische Tötungsanstalt befand sich bei Hartheim in Oberösterreich, wo insgesamt 18.269 Personen den Tod fanden. Hierher brachte man alle Anstaltsinsassen aus der Steiermark und Untersteiermark. Poier: „Es sind für den Zeitraum vom Mai 1940 bis zum Juni des Folgejahres 15 Transporte mit insgesamt mindestens 1066 Personen nachweisbar. Es ist aber davon auszugehen, dass es noch mehr Opfer gegeben hat.“ 
 

Liste eines Patiententransportes vom Feldhof nach Hartheim

„Unproduktive“ und „Lästige“ 
Aus den Anstalten sollten vor allem alte Menschen, LangzeitpatientInnen sowie Personen mit attestierter Schizophrenie, Epilepsie oder Paralyse beseitigt werden. Laut dem damaligen Feldhof-Primararzt Dr. Ernst Arlt, dessen Tagebuch erst letztes Jahr aufgetaucht ist, wurden über diese Personen Meldebögen ausgefüllt – oft oberflächlich oder ohne persönliche Kenntnis der PatientInnen. Anhand dieser entschieden „Gutachter“ innerhalb kürzester Zeit darüber, ob jemand getötet werden sollte oder nicht. Neben dem Kriterium „Erbkrankheit“ spielten die Arbeitsleistung und das Benehmen der PatientInnen eine große Rolle. So wurden, wie Poier anhand der von ihr durchgesehenen Rapportbücher und Krankengeschichten belegt, viele Menschen nach Hartheim gebracht, die als unproduktiv, lästig, verlogen oder anmaßend charakterisiert wurden. 
 

Ida Maly (hier auf einem Foto von 1918): Die Malerin wurde im Februar '41 vom Feldhof nach Hartheim transportiert 
und dort umgebracht

Unter ihnen befand sich auch die Grazer Malerin Ida Maly. Der Grazer Moderne-Experte Günter Eisenhut, der zurzeit mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung zu verfolgten KünstlerInnen von 1933-45 beschäftigt ist: „Anfang der 30-er Jahre malte Maly Bilder im Stil des Art déco mit abstrakten Tendenzen. Nach ihrer Einweisung in den Feldhof, wo ihr Schizophrenie diagnostiziert wurde, entstand ein außergewöhnliches Werk, das nicht nur ihre eigene Situation, sondern auch exemplarisch die politischen Verhältnisse spiegelt.“

„ ... da sind die Patienten dann verladen worden“
Der Abtransport erfolgte direkt von den Zuggleisen beim Feldhof, wie ein Augenzeuge berichtet: „Sie sind zu Fuß zum Bahndamm gegangen, da stand um 5 Uhr früh eine Lok mit angehängtem Viehwagon bereit, bewacht von der SS. Da sind die Patienten dann verladen worden.“ 
 

Über dieses Feld führte der letzte Weg der Euthanasie-Opfer zu den Bahngleisen. 

Um Verwechslungen auszuschließen, wurde ihnen ihr Name mit Jod auf die Haut geschrieben. Wie menschenverachtend vorgegangen wurde, zeigt ein Streit zwischen der Direktion des Feldhofs und Rudolf Lonauer, dem Direktor von Hartheim, um das verbliebene Hab und Gut der PatientInnen. Lonauer übermittelte eine eigene Liste der Habseligkeiten, auf die er besonderen Wert legte. Poier: „Dazu zählte er etwa Schmuck, Brieföffner, Sparbücher, Briefmarkensammlungen und sogar künstliche Gebisse, soweit sie sich nicht im Munde des Patienten befänden.“ Eine ehemalige Pflegerin berichtet, dass die Wertgegenstände aber auch anderen Patienten gegeben wurden oder Pfleger sie verkauft hätten.

Vernichtungsanstalt Hartheim
In Hartheim wurden die Opfer zunächst einem Arzt vorgeführt, dessen Aufgabe es war, eine plausible Todesursache für sie zu erfinden. Dabei konnte er aus einem Katalog von 61 genau beschriebenen Todesarten wählen. Es wurde sogar eigens vermieden, dass sich die Todesursachen von PatientInnen aus gleichem Herkunftsgebiet zu sehr ähnelten. Zuletzt wurden die Opfer fotografiert, bevor man sie direkt vom Aufnahmeraum in die als Dusch- oder Inhalationsräume getarnten angrenzenden Gaskammern brachte und ermordete. Die Leichen wurden in eigenen Krematorien verbrannt. Die Informationen an die Hinterbliebenen hinsichtlich des Todesdatums und der Todesursache entsprachen daher nie der Wahrheit. Selbst der genaue Inhalt der Urnen ist ungewiss. 

Viele wussten davon
Diese plötzlichen massenhaften „Verlegungen“ blieben nicht unbemerkt. Sowohl unter den PatientInnen als auch vielen Angehörigen dürfte deren tatsächliche Bedeutung nicht unbekannt gewesen sein. So schrieb die Schwester einer Ermordeten an einen Anstaltsarzt: „Die Nachricht von der Überstellung nach Hartheim hat mich maßlos erschüttert, da diese Anstalt in der Öffentlichkeit bekannt ist und ich nun wusste, dass damit ihr Todesurteil gesprochen wurde.“ Aus der Filialanstalt Schwanberg ist bekannt, dass sich Angehörige um die Entlassung ihrer Verwandten bemüht hatten, dies jedoch von der Feldhof-Leitung abgelehnt wurde.
 

Ins Tagebuch des Dr. Ernst Arlt 
(ärztlicher Leiter des Feldhofes von 1955-60) eingeklebte Todesanzeige mit einem Vermerk von Arlt.

So wurden neben dem Grazer Feldhof auch aus seinen Zweigstellen Kainbach bei Graz, Messendorf, Schwanberg und Maria Lankowitz viele direkt nach Hartheim transportiert. In der Landessiechenanstalt Kindberg wurde die Tötung von 140 Personen bald nach dem Krieg publik. Dazu kommt noch eine bisher unbekannte Anzahl von Opfern in den Landessiechenanstalten Feldbach, Knittelfeld und Ehrnau bei Mautern.
Dass es auch außerhalb des engen Kreises von Opfern und Angehörigen ein breiteres Wissen über diese Morde gab, zeigt, so der Grazer Historiker Mag. Heimo Halbrainer, ein Flugblatt der Grazer KPÖ-Widerstandsgruppe um Karl Drews und Herbert Eichholzer. Halbrainer: „Das Flugblatt berichtet von den tausenden Opfern der Euthanasie in Wien und erwähnt auch die Aktion am Feldhof.“ Es schließt mit den Worten: „Kein anständiger Mensch kann mehr in dieser Partei bleiben, die kaltblütig und überlegt kranke und alte Menschen mordet.“ 

Bettenplanung auf Hartheim-Transporten aufgebaut
Doch erst eine Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen, in der er die Praxis der Euthanasie geißelte, führte im August 1941 zum offiziellen Stopp der „Aktion T4“ im gesamten Deutschen Reich. Dieser Umstand, die teilweise Auflassung der Filialen und Überführung der noch lebenden Insassen in den Feldhof bzw. die Gründung einer Siechenabteilung führten im Feldhof wieder zu einem solchen Anstieg der Zahl der Kranken, dass viele von ihnen auf Strohsäcken schlafen mussten. Feldhof-Direktor Dr. Oskar Begusch bat daher die Statthalterei um Hilfe, denn es sei für die Zukunft, „da die Hartheim-Transporte, auf deren Fortsetzung die ganze Bettenplanung aufgebaut war, eingestellt sind, mit einem ungeheuren Überbeleg zu rechnen.“ Wie „erfolgreich“ diese Transporte in den Augen der Anstaltsleitungen waren, zeigt ein Schreiben des Pflegeheimes Schwanberg im Februar 1941: „Durch den erfolgten Abtransport von 145 Pfleglingen ist nunmehr Gelegenheit geboten sofort verschiedene dringendst gebotene notwendige Weissigungsarbeiten in den Anstaltsräumlichkeiten bewerkstelligen zu lassen.“ 

Kindereuthanasie – sämtliche Abteilungen involviert?
Neben den Erwachsenen wurden im Feldhof hunderte Kinder Opfer des Regimes und der dortigen Ärzte. Seit 1939 waren Ärzte und Hebammen verpflichtet, missgestaltete und behinderte Neugeborene dem Gesundheitsamt zu melden. In der Folge urteilten wiederum „Gutachter“ anhand der gemeldeten Daten über Leben und Tod. Für die betroffenen Kinder wurden in den Anstalten eigene „Kinderfachabteilungen“ gegründet, deren bekannteste der Wiener „Spiegelgrund“ ist, in der Dr. Heinrich Gross Kinder für seine „wissenschaftlichen“ Arbeiten verwendete. Thomas Oelschläger aus Münster beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschungsarbeit zur Kindereuthanasie seit Jahren intensiv mit der Steiermark und der Untersteiermark. 
 

Bei der Tagung „Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark“ (von links):
Univ.-Prof. Dr. Rainer Danzinger, ärztlicher Direktor der Landesnervenklinik Sigmund Freud: „Euthanasie hat leider auch starke aktuelle Bezüge“; Theologe und Sozialpädagoge Dr. Ernst Klee: „Der Schutz der NS-Täter stand immer höher als der Schutz ihrer Opfer“; ao. Univ.-Prof. Dr. Alois Kernbauer, Leiter der universitären Arbeitsgruppe „Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus“: „Wir stehen bei der Aufarbeitung des Themas erst am Anfang“; Historiker Thomas Oelschläger: „Alle Ärzte und Abteilungen am Feldhof waren in die Euthanasie mit einbezogen.“

Sein Urteil: „Was die Kinder und Jugendlichen betrifft, so waren am Feldhof sämtliche Abteilungen und Ärzte einbezogen.“ In der Regel dauerte das Martyrium der Kinder, so Oelschläger, mehrere Monate, in der sie von einer Anstalt in die andere hin- und hergeschoben wurden. Er weiß von einem Zwölfährigen zu berichten, der von Ljubljana in den Feldhof gebracht wurde. „Dort beschrieben ihn Tests als intellektuell rückständig. Verlegt nach Messendorf wurde dort seine Arbeitsfähigkeit, später in Kainbach die ‚Bildungsfähigkeit‘ überprüft. Innerhalb von Monaten verschlechterte sich sein Zustand und im Mai 1942 erfolgte die Rückstellung nach Messendorf.“ Nachdem dort noch eine Zeit lang seine „Arbeitsfähigkeit“ ausgenutzt wurde, verlegte man ihn 1943, da er zu „keiner Beschäftigung mehr zu verwenden war“, wie es in einem Krankenbericht lapidar hieß, in den Feldhof zurück. Dort starb er zwei Monate später. Meist wurden die Kinder, wie auch ehemalige Angestellte berichten, durch Spritzen getötet. Manche ließ man einfach verhungern.

Auch im Feldhof wurde getötet
An der Tötung von Kindern im Feldhof beteiligt sollen, so haben die Nachforschungen von Birgit Poier ergeben, Dr. Peter Korp, Leiter der Kinderabteilung, Dr. Hans Mayr als Leiter der Pflegeabteilung sowie Dr. Ernst Sorger, der Landesobmann der Erbbiologischen Bestandsaufnahme, gewesen sein. Letzterer verübte im August 1945 Selbstmord, während gegen ihn wegen Tötung von 13 behinderten Kindern ermittelt wurde. Dr. Korp hingegen, der zusammen mit seiner Assistentin Dr. Josefine Hermann zuständig war für die Feldhof-Außenstellen in Bruck/Mur, Kainbach und Pertlstein, traf es nach 1945 um vieles besser. Oelschläger: „Er wurde erster Nachkriegsdirektor des Feldhofs und Herrmann übernahm die Leitung der Heilpädagogischen Abteilung der Kinder und Jugendpsychiatrie.“ 

Über die Karrieren der TäterInnen nach 1945, über die Mechanismen der Verdrängung und Pläne zur weiteren Aufarbeitung berichten wir im zweiten Teil dieser Reportage in der nächsten KORSO-Ausgabe (Februar 2001).
 

Joachim Hainzl
 

 
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